Twittern auf der Abrissbirne

In der Welt der Digital Natives, in der Aufmerksamkeit die neue, starke Währung ist, funktioniert der alte Trick mit dem Sex natürlich immer noch. Keine hat das 2013 so schön verdeutlicht wie Miley Cyrus mit ihrem brachialen „Rebranding“ als nudistisches, fratzenziehendes Bad Girl. Ihr als medialer Frontalangriff inszeniertes Erwachsenwerden glich einer wilden Coming-out-Sexparty, auf der sie nackt im Pool planscht (auf dem Cover des US-ROLLING STONE) und auf einer Abrissbirne herumtobt (im Videoclip zu „Wrecking Ball“). Dagegen wirkte der angestrebte Imagewechsel von Selena Gomez und Vanessa Hudgens – ehemalige Disney-Channel-Stars wie Cyrus – im Sex-und-Drogen-Film „Spring Breakers“ schon fast brav.

Über niemanden hat sich Amerika in diesem Jahr mehr empört als über Cyrus, was mehr als 20 Jahre nach Madonnas Sadomaso-Phase noch immer bedeutet, dass ihr Album „Bangerz“ im Oktober zunächst auf Platz eins der Charts schoss – bevor es wieder absackte.

Es geht im Fall Cyrus nicht nur um ein vermeintlich moralisch verwahrlostes Teenie-Idol, sondern auch um die Obsession der amerikanischen Kultur mit ihrem eigenen Verfall. Kapiert hat Cyrus das längst. Und so ist ihre Offensive zugleich Befreiungsschlag und Parodie. Im Schutz der Ironie kann sie ganz in Ruhe erwachsen werden. Oder eben gerade nicht. Klar macht die Causa Cyrus zumindest, dass für sexuelle Gesten im Mainstream-Pop mittlerweile andere Maßstäbe gelten als noch bei Britney, Christina und Rihanna. Wer heute auf der Bühne nicht in hautfarbener Unterwäsche wild twerkend mit einem übergroßen Schaumstoff-Zeigefinger als Phallussymbol hantiert, hat im atemlosen Kampf um tweets per minute keine Chance.

Dieser bildgewaltige TV-Auftritt mit Robin Thicke brachte aber nicht nur Cyrus‘ radikale Neuerfindung als HipHop-Bitch so wunderbar auf den Punkt. Komprimiert auf nicht viel mehr als sechs Minuten Showspektakel, fanden hier so ziemlich alle großen Sexismus-Skandale gleichzeitig statt, die die Popmusik 2013 zu bieten hatte: Der alternde Teenie-Star als Personifizierung der postfeministischen Problemfälle der Internetöffentlichkeit. Das weiße Mädchen, das halb ernst gemeint einen schwarzen Tanz vollführt und damit eine Rassismus-Kontroverse lostritt. Und Robin Thicke, der als moderner Macho im Slim-Fit-Anzug mit seinem Hit „Blurred Lines“ Vergewaltigungsfantasien befeuert: „I’ll give you something big enough to tear your ass in two“ und „I know you want it“, lässt der R&B-Sänger hier verlauten. All das verdichtet für die Aufmerksamkeitsspanne einer 140-Zeichen-Generation.

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