Trouble In Paradise
Am 6. September wäre die schwule schwarze Disco-Diva Sylvester 60 Jahre alte geworden. In seinem Leben spiegelt sich der Moment, in dem Aids die Pop-Welt ergriff
Im Leben der schwarzen schwulen Diva, das am 16. Dezember 1988 endete, spiegelt sich eine ganze Epoche – und die Geschichte einer Stadt. „San Francisco war für Schwule und Lesben, was Israel für Juden war, nur mit weniger Kriegen und mehr Partys“, schrieb Joshua Gamson in seiner Biografie „The Fabulous Sylvester“ (Picador). Das war vor der „großen Krankheit mit dem kleinen Namen“, von der später Prince in „Sign ‚O‘ The Times“ singen sollte. Wie überhaupt die Geschichte von San Francisco in Vorher-nachher-Bildern erzählt werden muss. B.A. und A.A., before & after Aids. B.A. folgt der junge Sylvester aus L.A. dem Ruf ins gelobte Land und landet wie so viele schwule Männer im Castro-Bezirk, der größten (homo-)sexuell befreiten Zone dieser Erde. Der großen Verheißung – vor Aids. Der großen Verheerung – nach Aids. Was den Hippies Haight Ashbury, ist den Schwulen Castro. In beiden Quartieren San Franciscos sind die Normen und Regeln der US-Gesellschaft weitgehend außer Kraft gesetzt. Was befreit werden kann, wird befreit. Für einen glücklichen Moment vermischen sich die Szenen. Rocker, Hippies, Schwule und Lesben, Feministinnen, Transen, Panthers, Glam-People aller Couleu r verschmelzen zu einer drogengetriebenen Gegenkultur. Nach dem Overdrive spalten sich die Überlebenden in separate, nicht selten rivalisierende Tribes.
Keine Band verkörpert Glanz und Elend dieser Beschleunigung so exemplarisch Sly & The Family Stone. Das theatralische Pendant Zu Sly Stones integriertem Patchwork-Family-Band-Modell sind die Cockettes, ein loser Verbund von sich selbstdarstellenden und feiernden Drag Queens & Kings um ein polymorph-perverses Wesen afroamerikanischer Herkunft namens Hibiscus. An der Ostküste integrieren die New York Dolls Cockettes-Stoff in ihren Act. Den wiederum filtern gewiefte Katalysatoren wie Lou Reed und Bowie für ihre Zwecke – fertig ist der androgy ne Popstar, Modell ‚7 2 – In dieser Verwertungskette spielt Sylvester eine kleine, aber feine Rolle.
Schon als kleiner Junge trägt der vaterlose Sohn Perlenkette und Lippenstift zu Mamas Kleidern. In der Kirche lernt er, den Gospel zu singen. Und er lernt die Männerliebe kennen, ein älterer Glaubensbruder führt ihn ein. Die Ekstasen des Gospel bleiben eine Matrix seiner Erfahrung: Hoch muss es hergehen und immer höher, wenn gebetet wird und gefeiert, wenn gesungen wird und geliebt. Dass die spirituelle Liebe zum Allmächtigen und die sexuelle Liebe zum allfälligen Körper nebenan nur zwei Seiten einer Medaille sind, dass die religiöse Ekstase in der Kirche und die körperliche Ekstase im Club, im Konzert, im Bett sich aus ein und derselben Quelle speisen, das weiß die afroamerikanische Musik, seit der Blues für die Stunden zwischen den Gospel-Gottesdiensten erfunden wurde. „I need somebody to love tonight“, betet Sylvester in einem seiner durchdringendsten Songs, und die Betonung liegt auf somebody. „Really good sex can indicate the existence of God. Some people have also suggested that really good religion reminds them of sex“, schreibt Gamson. Disco, die „Gospelmusik für Sünder“. „Dancing, music, sex, and God all seemed to come in one package.“
Tanz, Musik, Sex & Gott im Paket – im sexuell uneindeutigen Post-Disco-Sub der ausgehenden 70er Jahre ist Sylvester ein sehr attraktives Paket, ein singender Container für angeblich unvereinbare Körper- und Seelen-Strömungen. Mit seinem musikalischen Partner Patrick Cowley entwickelt Sylvester das missing link zwischen Disco und House avant la lettre: Hi-Energy! Kein Pop-Genre ist derart verrufen als reine Funktionsmusik, vielleicht abgesehen von Bubble Gum. Bis heute gilt Hi Energy als stupider Soundtrack zu Aerobic-Clips, Sequenzer auf Autopilot. Der weiße Produzent Cowley synchronisiert sein Faible für Giorgio Moroder und technopoppigen New Wave mit den Erfordernissen der unbedingt bis verzweifelt lebensbejahenden kalifornischen Gay-Disco-Culture zu einem wenig differenzierten, aber energetischen Verausgabungssound. Sein Mundstück wird die schwule schwarze Diva Sylvester, der ihr Geschlecht nicht auf Anhieb anzuhören ist, wohl aber ihr physisches wie emotionales Gewicht. Schon früh entwickelt er ein Falsett für die Ausnahmezustände des Lebens. Weil aber Hi-Energy, Disco und Proto-House den Ausnahmezustand zur Regel machen, ist Sylvesters Falsett seine Regel – der angeblich natürliche Bariton bleibt der Ausnahmeton.
Was ist natürlich? Was ist real? Ich und die Wirklichkeit? Künstliche Intelligenz, geklonte Kreaturen, Fake-Identitäten, solche Dinge werden in der NewWave der Jahrzehntwende zu den Achtzigern verhandelt, um die Ecke warten schon die Cyborgs. Im weißen Wave-Europaistdie Zukunft kein angenehmer Ort, die beste Musik, die sich neuer Technologien bedient, kommt quasi by (second) nature dystopisch daher, Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire fürdie gebildeten Stände, aber die bleiche Skepsis sickert auch bis zur „Bravo“ durch. Zu Gary Numan läßt sich hervorragend unglücklich pubertieren.
Am anderen Ende der Skala beantworten Sylvester & Cowley die Frage nach der realness mit einer gigagospeligen Affirmationshymne: „You Make Me Feel (Mighty Real)“, jubiliert Sylvester. Ganz High Priestess zelebriert sie (oder er?) Disco als Sündergospel.
Realness ist für Schwule nur im Zustand der Übertretung zu erreichen, sagt der Song. Wenn Realität bedeutet, eigene Liebesdispositionen und -formationen in Frage zu stellen, weil die Mehrheit behauptet, gleichgeschlechtlich Liebende seien nicht normal, dann ist die hi-energetisch und enthusiastisch gegospelte Behauptung „You make me feel mighty real“ eine Selbstermächtigungsgeste von Bedeutung. Zumal man Ihre Wirkung auch daran ablesen kann, wie heftig sie abgewehrt wird.
„Es gibt zwei Dinge, die wir nicht leiden können hier unten. Und du bist beides.“ Der Satz wird Sylvester von einem Polizisten bei einer Tourdurch die Südstaaten um die Ohren gehauen. Schwarz und schwul. Beide Handicaps kommen in Sylvesters Kunst nicht explizit zur Sprache. Trüge er sie im Modus „Ich armer schwuler Neger“ vor, dann könnte er ein bisschen Empathie und Solidarität ernten. Aber die Kunstform Protestsong ist der schwulen schwarzen Diva fremd, gottseidank. Stattdessen protestiert sie gegen die Lieblosigkeit der Welt mit einer massiv affirmierenden Hymnensingerei, die wiederum aufgeklärte Skeptiker befremdet: Hey, da singt sich eine(r) die Seele aus dem Leib, simuliert Authentizität, wo doch keine mehr sein kann. Es ist auch die extreme Künstlichkeit, die „You Make Me Feel (Mighty Real)“ so wirklich, so mighty real macht. Sylvesters ins Hysterische übersteigerte Falsettstimme und der gewaltige Chorgesang von Martha Wash und Izora Rhodes, Fat Ladies, die ihren Künstlernamen Two Tons Of Fun mit sichtbarem Stolz tragen, bevor sie sich umtaufen in Weather Girls und Männer vom Himmel regnen lassen, Hallelujah! „Mighty Real“ wird zur Klimax jeder Sylvester-Show, mightyreal zelebrieren die Sünder ihren Gospel vor dem Herren.
Sylvester stirbt spät genug, um das Ausmaß des Aids-Desasters in San Francisco mitzuerleben., Als ich ging, gab es drei Partys pro Woche, und es gab immer einen Raum, in dem eine Orgie stattfand, und immer gab es Drogen.“ So erinnert sich Tahara, ein Mitglied der Cockettes. 1981 verläßt Tahara die Stadt, 1987 kehrt er/sie zurück: „Als ich zurückkam, war niemand mehrda. Alle sahen traurig ausundalt, und alle hatten Angst vor Parties. Ichgingjede Woche zu einer Beerdigung.“ Patrick Cowley, Sylvesters musikalischer Partner, stirbt 1982 als einer der ersten an den Folgen von Aids. EinJahr später eröffnet Sylvester sein Album „Cal! Me“ mit „Trouble In Paradise“. Ein verzweifelt unbeirrt nach vorne treibender Hi-Energy-Beat suggeriert die Fortsetzung der Party, doch die Hohepriesterin singt von ihren Tränen, „where do we go from here?“ fragt der Gospelchor, und alle zusammen stellen fest: „There’s trouble in paradise.“ Fünf Jahre später stirbt er an Aids.