Triebe & Hiebe
In seinem Roman" „Dr. Sex" porträtiert T.C. Boyle den Eros-Forscher Kinsey
Ob es etwas gibt, das er schon immer mal über Sex wissen wollte, sich aber nicht zu fragen traute? Was für eine Frage. Da muß der sonst so schlagfertige T.C. Boyle erst mal nachdenken. Doch, da gab’s mal was. „Als ich zehn war, hatten meine Freunde und ich heftige Diskussionen darüber, wie wohl der Penis ins weibliche Geschlechtsorgan eindringen konnte. Nur wußten wir nicht mal, was das weibliche Geschlechtsorgan ist Also kamen wir zu dem Schluß, daß dafür wohl nur der After der Frau in Frage kommt“, erinnert sich der 56jährige. Weil ihm das aber doch irgendwie merkwürdig vorkam, hat er dann lieber gefragt – und zwar seine Mutter. „Es ist immer gut, eine Mutter zu haben, die du so was fragen kannst.“
Gemessen an den Sex-Episoden in seinen Büchern ist Boyle bestens aufgeklärt worden. Der Meister der satirischen Schmöker schrieb über Männer, die’s mit Orang-Utans treiben („Riven Rock“) und über Frauen, die so wilde Affären mit Schimpansen hatten, daß sie dafür ihren Ehemann verließen („Abstammung des Menschen“). In „Ein Freund der Erde“ erliegen sogar die verbohrten Öko-Fundis ihrer Triebhaftigkeit: Als sie aus Protest gegen Abholzungen nackt in den Wald aufbrechen, fallen sie schon nach kurzer Zeit übereinander her. In „Willkommen in Wellville“ geht es um abstruse Heilpraktiken in einem Sanatorium in den USA der Jahrhundertwende, die freilich schnell in sexuellen Grotesken münden.
„Was soll ich machen – ich bin wohl besessen von diesem Konflikt zwischen unseren tierischen Trieben und unseren Emotionen, unserer Spiritualität“, sagt der Bestseller-Autor. Es schien unvermeidlich, daß Boyle irgendwann mal ein Buch über einen Sex-Forscher schreiben würde. Sein neuer Roman „Dr. Sex“ zeichnet ein nuanciertes Porträt des legendären Sexual-Wissenschaftlers Alfred Kinsey und ist zugleich ein Sittengemälde des puritanischen Miefs der 40er und 50er Jahre. Ein beeindruckender Roman, gerade weil er diesmal nicht so metaphern-überladen ist, wie man es sonst von Boyle kennt. „Ich wollte keine verrückte Sex-Satire schreiben, das habe ich früher schon gemacht. Ich wiederhole mich nicht gern.“ Auf das Stilmittel der Übertreibung konnte er diesmal allerdings auch leicht verzichten – der unermüdliche Sex-Chronist Kinsey war ohnehin schon exzentrisch und besessen genug.
In einer Zeit, in der vorehelicher Sex tabu war und nicht wenige glaubten, daß man vom Onanieren blind wird, zog Kinsey los, um Tausende von Amerikanern nach ihren Sex-Praktiken zu befragen. So ließ er beispielsweise 1000 Männer in einem Hotelzimmer onanieren, um nachher akribisch zu dokumentieren, daß 73 Prozent von ihnen beim Orgasmus tröpfeln und nicht spritzen. Als er solche und andere Ergebnisse in seinem Report veröffentlichte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Seine These: Im Sex ist eigentlich alles normal, solange es sich zwischen Erwachsenen abspielt, die damit einverstanden sind. „Es war ihm zunächst einmal egal, ob du die ganze Zeit Pferde vögelst und das Blut von Ziegen trinkst, er wollte nur wissen, wie du Sex hast“, so Boyle.
Für die einen war Kinsey der Wegbereiter für die sexuelle Befreiung, der Schwulen- und Frauen-Bewegung, für die anderen ein Perverser, der die Moralvorstellungen puritanischer Amerikaner in ihren Grundfesten erschütterte. „Kinsey hat die Kirche und den Staat aus dem Schlafzimmer verbannt, dafür applaudiere ich ihm“, sagt Boyle.
Daß der Forscher auf seiner Mission auch mit Kinderschändern sprach, ohne diese anzuzeigen, ist bis heute umstritten. „Er mußte den Befragten Anonymität zusichern, sonst hätten sie nicht offen mit ihm geredet. Das ist im Fall des Kinderschänders moralisch sicherlich fragwürdig „, gibt Boyle zu, „aber es gibt keinen Beweis dafür, daß Kinsey selbst pädophil war.“ „Dr. Sex“ beschreibt indes nicht nur den großen Aufklärer, der Roman zeigt auch die Abgründe Kinseys: den Autokraten, der seine Mitarbeiter zu Gruppensex und Partnerwechsel zwingt, den Besessenen, der im Wahn über sein Projekt alles um sich herum vergißt – sogar den Zweiten Weltkrieg.
Daß zeitgleich mit Boyles Roman auch Bill Condons Film über Kinsey (mit Liam Neeson in der Hauptrolle) in die Kinos der USA kam, war purer Zufall. Aber die Rückkehr von Kinseys Botschaften hat die Neo-Fundamentalisten des Bush-Amerika fast ebenso sehr empört wie ihre Brüder im Geiste vor 50 Jahren. Radikale christliche Gruppen nahmen vor allem den Film zum Anlaß für einen weiteren bigotten Kreuzzug gegen die neue, alte Sittenlosigkeit. Sie forderten erwartungsgemäß zum Boykott des Films auf und machten Kampagne gegen den Hauptdarsteller. „Es ist schon merkwürdig, daß Bills Film und mein Buch in dieser Zeit erscheinen, da uns Bush und seine Radikal-Moralisten das Leben schwer machen.
Das ist ein Schlag ins Gesicht der Rechten.“
Ist sein Buch in dem Kontext ein politisches Statement? Boyle schüttelt seine Vogelnestfrisur. Er sei vor allem durch zwei Kinsey-Biographien, die Ende der 90er Jahre erschienen, auf das Thema gestoßen. „Und trotzdem scheinen meine Bücher immer mit der Tagespolitik zu kollidieren. Als Bush sich das erste Mal für das Präsidentenamt bemühte, war ich auf Lesereise mit meinem Öko-Roman ,Ein Freund der Erde‘ – und es gibt ja keinen größeren Feind der Erde als ihn. Ich würde gerne nur über Ästhetik schreiben, aber irgendwie mischt sich die Politik bei mir immer ein.“ So war es auch bei der Emigranten-Problematik, die er in seiner Erzählung über eine mexikanische Putzfrau nicht einmal besonders überzeichnet hatte. Auch hier waren die wohlhabenden Weißen in Kalifornien wenig erfreut über Boyles Empathie.
Aber so schlimm, daß er wie Robert Redford laut darüber nachdenken würde, das Land zu verlassen, sei es dann doch nicht. „Ich bin ein Patriot. Ich werde hier bleiben und nicht müde, zu sagen, was in diesem Land nicht stimmt. Nein, ich werde hier nicht mehr weggehen.“ Weil das als Abschluß eines Boyle-Gesprächs ein bißchen zu politisch korrekt klingt, wie er selbst offenbar merkt, führt er den Satz noch weiter – mit einer finalen Endung. Tatsächlich, so wünscht er es sich, würde er gerne auf seinem eigenen Grundstück im kalifornischen Montecito beerdigt werden. „Ich hoffe nur, sie begraben mich tief genug, damit mich meine Hunde nicht wieder ausbuddeln.“