Festivalbericht

Tremor 2022: Sound und Natur mitten im Atlantik

Das außergewöhnlichste Festival Europas ist ein heißer Tipp für Entdecker.

Die internationale Festivalsaison kommt so langsam in Schwung. Wetterbedingt beschränken sich die ersten Termine noch auf exotische Spielorte in der Wüste, etwa Coachella in Palm Springs. Oder sie sind weitgehend „indoor“ über Clubs und Pop-Up-Orte einer Stadt verteilt, wie aktuell bei der c/o pop in Köln.

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Man kann aber auch auf der Azoren-Insel Sao Miguel in die warme Vulkanquelle des Terra Nostra Parks steigen und dem Avantgarde-Programm von TREMOR lauschen. Das wohl außergewöhnlichste Festival Europas findet seit 2013 jeweils in der ersten Aprilwoche mitten im Atlantischen Ozean statt. Unter Musikfans auf dem portugiesischen Festland gilt Tremor längst als obercooler Tipp für den Frühlingsbeginn, der hier mit milden 17 Grad aufwartet. Nicht zu kalt, nicht zu warm. Wetterlagen im raschen Wechsel treffen auf immergrüne Viehweiden und üppige Vegetation. Ein Remix aus Irland und Hawaii, zwei Flugstunden entfernt von Porto oder Lissabon.

Die 2022er-Ausgabe ist ein Re-Start nach der Pandemie-Welle, die auch das ferne Archipel aus sieben Inseln lahmlegte. Nun setzt das Tremor-Team wieder auf Austausch, zwischen Fans und MusikerInnen, aber auch zwischen Mensch und Natur. Erdacht wurde das eigenwillige Konzept im Plattenladen La Bamba von Luis Banzeres, dem „westlichsten Europas“, wie er mit einem Lächeln anmerkt.

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„Der größte Star ist das Festival selbst“

Gelegen in einer Seitengasse im Insel-Hauptort Ponte Delgada ist der Vinylshop Orga-Zentrale, Ticketkasse und gleichzeitig Spielort für Barhocker-Konzerte oder Workshops. Die norwegische Folk-Jazz-Elektronikerin Hanne Hukkelberg hat hier mit einem charmanten Kammerkonzert den diesjährigen Reigen eröffnet. „Hier war früher oft genug die totale Geisterstadt angesagt“, erzählt Banzares. „Wir wollten die Insel voranbringen und dabei die verschiedensten Räume und Naturräume bespielen. Ohne die üblichen Tourismus-Ideen mit riesigen Kreuzfahrtschiffen und Reisegruppen. Stattdessen ein Dialog mit Kunst und Popkultur.“

Gemeinsam mit den Betreibern des Indielabels „Lovers and Lollypops“ aus Porto, Joachim Duraes und Marcio Laranjeira, meistert Banzares ein maßvolles Wachstum ohne Headliner-Mega-Gagen und Riesenbühnen. Die rund tausend Festivaltickets für 60 Euro verkaufen sich mittlerweile mühelos. Durch Förderungsprogramme (die Azoren bewerben sich für die Europäische Kulturhauptstadt 2027) sind auch internationale Gastspiele möglich. „Die meisten Musiker verstehen, was wir hier aufbauen. Der größte Star ist das Festival selbst!“, sagt Banzares.

Er verweist auf Sonic-Youth-Mastermind Thurston Moore, der vor einigen Jahren mal einige Monate auf Sao Miguel verbrachte. Zum Schreiben und Komponieren. Die Azoren als Residenz für internationale Indie-Musiker und -Musikerinnen ist eine Vision für die Zukunft. Schließlich steht auf den Info-Säulen im Hafen von Ponta Delgada „The World comes through here“, die auf die längst vergangene Geschichte der Ozeandampfer und Propellerflugzeuge hinweisen, die hier Zwischenstopps auf dem Weg nach Amerika einlegten. Mit Tremor soll ein neues Kapitel in dieser langen Traveller-Saga aufgeschlagen werden.

Tagsüber Vulkanwanderungen, am Abend Sound-Experimente

Zum offiziellen Line Up gehört auch 2022 der bewährte Genre-übergreifende Stilmix. Etwa Crossover-Jazzer Alabaster DePlume aus London, der marokkanische Grenzgänger Taqbir, die portugiesische Singer-Songwriterin Maria Reis. Pop zum Entdecken. oder auch die Begegnung der in Lissabon lebenden Transgender-Künstlerin Odete mit Ece Canlı. Pop und Avantgarde zum Entdecken.

Ondamarela und Asism
Carlos Brum Melo

Im Festival-Alltag geht es beschaulich zu. Man sitzt im „Cafe Central“ und schlürft einen Galao und macht sich auf zu einem dieser speziellen Trails im Rahmen des Schwester-Projektes Terra Incognita. Per Bus-Shuttle geht es etwa über kurvige Landstraße zum Wasserfall des Teufels. Eine Sound-Wanderung mit ausgeliehenen MP3-Player mitten durch die üppige Botanik rund um den Lagoa die Fogo. Zum Abschluss ein Konzert auf einer grünen Wiese. Das Mischpult wird per Sonnenkollektor bestromt wird. Andere Klangwanderungen führen in ein Höhlensystem aus erkalteter Lava oder – per E-Bike – zu legendären Kulturorten in der Region.

Terra Incognita
Carlos Brum Melo

Bei einem abendlichen Ausflug in die 13 Kilometer entfernte Nachbarstadt Ribeira Grande finden das Konzert mit den Schweizer Psychedelikern L´Eclair auf dem überdachten Obst- und Gemüsemarkt statt. Kurzfristig verlegt vom zentralen Pavillion wegen einem heftigen Regenguss, der hier schnell einsetzen und dann auch wieder aufhören kann. Man sitzt also beim satten Gitarren-Groove zusammen mit der lokalen Nachbarschaft auf Plastikstühlen und versorgt sich in den umliegenden Marktkneipen mit Getränken. Wer sich die Nacht um die Ohren schlagen möchte, wechselt in den preisgekrönten Museumskomplex Arquipélagolud, der sich für das Tremor-Festival in einen Azoren-Berghain verwandelt.

Gemeinsames Dinner im Gemeindezentrum

Zum Programm gehört auch, nach extra Anmeldung, ein rustikal-üppiges Abendessen im großen Pfarrsaal der Heilig-Geist-Gemeinde im Fischerort Rabo de Peixe, wo die örtliche „Community Kitchen“ ein Menü aus regionaltypischen Gerichten zubereitet. Eintopf und Fisch zum spaßigen Karaoke mit dem Dorf-DJ, der portugiesische Tanz-Klassiker zelebriert. Wer möchte, kann sich auch bei Familien einbuchen, und dort die lokalen Kochkünste testen, allerdings sollte man dafür das Portugiesische halbwegs beherrschen.

Die Konzerte werden zur Schnitzeljagd durch die Region, wenn die ehrwürdige Musikschule ihren Konzertsaal aus dunklem Holz für die Electro-Tracks der amerikanische Berlinerin Lyra Pramuk öffnet, der ehemals noble Kaufmannsclub Ateneu Commercial ein subsonische Performance mit Unterwasservideos ermöglicht oder im leergeräumte azorischen Restaurant-Saloon Solar de Graza dunkle Doom-Klänge donnern. An der Bar stehen korrekte Kellner mit schwarzen Westen. Ein Bier der Regionalmarke Especial kostet ein Euro.

Lyra Pramuk
Paul Oprata

Das größte Venue ist der imposante, 1917 erbaute Kuppelbau Colliseu Micalense mit seinen drei hohen Logenrängen. Der brasilianische Neo-Bossa-Nova-Star Rodrigo Amarante spielt hier zum Finalabend ein vielumjubeltes Set, bevor es den kurzen Fußweg rüber auf ein Gewerbegelände geht, wo in einer großen Reparaturhalle der örtlichen Verkehrsbetriebe mit den Nachtkonzerten der atlantische Ausklang beginnt…

Infos zu TREMOR 2023 gibt es HIER

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