Tränen: Die Powerpop-Hauptstadt Chemnitz wuchert weiter
„Mitten ins Gesicht“: Wilde Live-Action mit Stadion-Wumms. Doppelte Berlin-Show von Kraftklub-Gitarrist Steffen und Perfomance-Wunder Gwen
Offiziell existieren sie erst seit Juni 2023. Seinerzeit brachten Gwen Dolyn und Kraftklub-Gitarrist Steffen Israel ihre Version des Songs „Duell der Letzten“ heraus; im Original von Chaos Z. Die Chemie zwischen den Beiden stimmte – Chemnitz inspirierte die in Berlin und Darmstadt sozialisierte Sängerin. Und so wird die Sachsen-Musikreihe Kraftklub, Blond, Power Plush neuerdings um Tränen (ohne Artikel) verlängert.
Bereits neun Monate später wird ihr ausverkauftes Berliner Konzert in der Berghain Kantine aufgestockt. Ein weiterer dicht gefüllter Gig fand am vergangenen Freitag (1. März) kurzerhand im Badehaus Simpla auf dem RAW-Gelände an der Warschauer Brücke statt.
„Mitten Ins Gesicht“ ist nicht nur der Auftaktsong, sondern auch eine Art inoffizielles Motto des Abends. Keine Atempause. Das Publikum ist gleich voll dabei.
Gwen Dolyn trägt schwarzen Glitzer-BH, Minirock und fashionable Klotzstiefel. Die Mittzwanzigerin, die in einem nicht ganz ernst gemeinten Performance-Video vorgeführt hat, was sie so alles mit ihrem Körper machen kann (etwa: mit der Zunge ins Nasenloch), fühlt sich sichtlich wohl auf der Bühne.
Mal sind es flotte Scherze, mal persönliche Anekdoten, die sie nach jedem Lied erzählt. Auch ihre beiden Cousinen sind heute Abend im Publikum dabei: „Hallo, Cousinen!“. Auch IRMGARD wird vorgestellt, eine Art Stoffmonster oder Werwolf mit Leuchtaugen. Im Verlauf des Abends wandert das haarige Ding durch die Menge. Das schafft Nähe und Vertraulichkeit, wie in der Kita.
Der Tränen-Sound ist eine derzeit allseits beliebte Neo-Version von 1980er-Punk-Pop. „Zu Alt Geboren“ oder auch „Es Ist nicht wie es aussieht“, stehen dafür. Das Badehaus ist ein lauschiger Club, Tränen können aber auch Stadion, wie man im Frühherbst im Vorprogramm von Kraftkub in der Wuhlheide gesehen hat.
Mangels Bruce-Springsteen-mäßigen Repertoire verlegt man sich nach rund 50 Minuten auf Coverversionen. Mit dem „Duell der Letzten“ fordert man dazu auf, Kunst zu zerstören, um auf die Zerstörung des Planeten aufmerksam zu machen. Nach einer albern gehaltenen Ansage, es handele sich um einen brandneuen Song, der so eben auf der Fahrt ins „Ach so coole Berlin“ entstanden sind, kommt „Teenage Dirtbag“ von Weezer.
Auch das „Hungrige Herz“ von MIA kommt zur Aufführung. Und wenn man so will, gibt es durchaus eine Linie von deren Sängerin Mieze zu Gwen Dolyn. Next Generation Deutsch-Wave-Attacke. Am Ende tobt der Saal, als vollends überdreht „Stures Dummes Herz“ gesungen wird. Noch eine Zugabe und Schluss!
Es passt zum Tränen-Selbstverständnis, dass sich Sängerin Gwen Dolyn in Kneipen-Zivil im schwarten Sackkleid unters Publikum mischt. Einzig der Glitzer im Gesicht erinnert noch an die Bühnenpersönlichkeit von eben. Mit ihrem schönen Liebeskummerlied „Ertrinken“ hat sie auf ihre parallel laufende Solokarriere aufmerksam gemacht. Das „System Kraftklub“ hat sich zu einer Talentmaschine der besonderen Art entwickelt.