Interview über Toten Hosen: „Es ist kein Verrat, nüchtern auf die Bühne zu gehen“
Mit „Weil Du nur einmal lebst“ kommt eine Dokumentation über die 2018er-Tournee der Toten Hosen ins Kino, die nun auch auf Blu-ray und DVD erschienen ist. Ein Interview mit Campino und der Regisseurin des Films, Cordula Kablitz Post, über abgelegte Feier-Rituale, den Hörsturz und fanatische Fans aus Argentinien.
Wie sind Sie zu einer Entscheidung über den weiteren Tourneeverlauf gekommen?
Campino: Die Ärzte konnten lediglich sagen: „Wenn sich innerhalb von vier Wochen keine Verbesserung zeigt, tut sich da auch nichts mehr. Die Entscheidung, ob Sie dann noch auftreten wollen, können wir Ihnen nicht abnehmen.“ Mein Entschluss lautete, dass es ab einem Tag X weitergehen würde, ganz egal, wie es dann um mich stünde. Ich würde wieder auf die Bühne gehen und die Tour zu Ende bringen.
Campino sagt: „Guten Morgen“, die anderen entgegnen: „Guten Morgen“ – wurde das geprobt?
Kablitz-Post: Der Austausch der Musiker über den Hörsturz ist einer meiner Lieblingsmomente. Nichts davon ist inszeniert. Wir haben versucht, alles zu erfassen und keinen von ihnen aus dem Konzept zu bringen. Dementsprechend waren wir bei jenem Treffen so still, wie es geht. Wir drehten bereits am Morgen in der Berliner Waldbühne, weil Die Toten Hosen dort auftreten sollten.
Wie haben Sie mit Ihrem Team auf die Ereignisse reagiert?
Kablitz-Post: Es gab den Anruf beim Tourmanager mit dem Beschluss der Konzert-Absage. Alles bricht dann zusammen. Ich hatte mit Andi telefoniert, der mir die Nachricht überbracht hatte. Wir machten uns auf zur Band. Wirklich jeder, dem Campino die Diagnose persönlich mitteilte, wurde davon überrascht, und das haben wir auf Film.
Campino (lacht): Dass nichts inszeniert war, sieht man doch auch am Auftritt des Kellners während unseres Gesprächs. Man will so jemanden in solchen Momenten doch nicht wirklich im Bild haben, wie er unvermittelt fragt: „Möchten Sie noch was trinken?“
Kablitz-Post: Und es ist wirklich so: Die Bandmitglieder begrüßen sich mit „Guten Morgen!“
Später sind Die Toten Hosen beim Soundcheck, Campino singt „Tage wie diese“ und „Unsterblich“ – was auch im Kontext der Hörsturz-Diagnose funktioniert.
Campino: Natürlich bekommen bestimmte Lieder in solchen Momenten für einen selbst eine andere Bedeutung. Das Publikum wird davon aber nicht berührt. Eine Großveranstaltung abzusagen macht selbstverständlich keinen Spaß. Viele Gedanken schwirren einem durch den Kopf: Das Wetter ist perfekt, aber heute müssen 30.000 Fans nach Hause gehen und sind enttäuscht, während es für einen selbst nichts gibt, was man tun kann… die Lebenserfahrung kann einem helfen, ruhig zu bleiben. Der Hörsturz war ein Warnsignal. Es ist menschlich, dass sich jeder, bei dem die Dinge eigentlich gut laufen, auch mal überschätzt. Man glaubt, alles ist im Lack, und dann springt plötzlich eine Sicherung raus.
Im Film geht es auch um Tour-Routinen. Wie hätte „Weil Du nur einmal lebst“ vor 20 Jahren ausgesehen?
Campino: Unsere ganz naiven Zeiten waren spätestens 1997 vorüber. Damals starb bei unserem 1.000. Konzert ein junges Mädchen im Gedränge vor der Bühne. Dieser Tag war eine Zäsur. Von da an waren wir eine andere Band. Zu Ihrer Frage: Wie sich Die Toten Hosen vor exakt 20 Jahren gefühlt haben, kann ich nicht mehr genau sagen, aber ich weiß: Wir waren sehr, sehr lange bemüht, in der Punk-Szene nicht unseren „Ruf zu verraten“. Deshalb waren wir teilweise regelrecht verklemmt.
Wie zeigte sich das?
Campino: Manchmal fehlte die Lockerheit zu sagen: „Wir müssen uns nichts beweisen, wir brauchen nicht immer die Letzten sein auf einer Party.“ Heute denke ich anders. Es ist kein Verrat an der Sache, wenn man dazu steht, nüchtern auf die Bühne zu gehen.
Warum musste man trinken?
Campino: Alles andere hätte schon im Rollenverhalten untereinander zu Problemen geführt. In den 1990ern hatten wir einen Ehrenkodex: Wenn einer den anderen aus dem Hotelbett zog, weil er feiern wollte, mussten alle anderen mitmachen. Die Manic Street Preachers zum Beispiel, die mit uns auf Tour waren, standen ganz fertig herum, nachdem wir sie um 1 Uhr morgens aus den Zimmern geholt hatten, wollten aber nicht schon zu Beginn der Reise unangenehm auffallen. Sie kamen gerade aus Amerika, kannten uns noch nicht so gut und haben dann gute Miene zum bösen Spiel gemacht. So lief es andauernd ab: bloß nicht zugeben, dass man schlapp ist und sich einfach nur hinlegen will.
Kablitz-Post: Vor 20 Jahren hat Kuddel noch getrunken, oder? Da waren die Partys sicher noch heftiger?
Campino: Kuddel hat damals die Notbremse gezogen. Keine Drogen mehr, kein Alkohol. Wenn so einer dann nüchtern rumsitzt, während alle anderen durchdrehen, nimmt man ihn als störendes Element wahr. Er war das personifizierte schlechte Gewissen. Dann fing einer an, mit dem Rauchen aufzuhören. Ein Dritter sagte, er trinke jetzt nicht mehr vor, sondern nur noch nach den Shows. Ich finde es heute schön, dass sich niemand mehr nach einer Regel verhalten muss. Jeder wird mit seinem Benehmen in Ruhe gelassen.
Campino kommt auch auf den 1993er-Song „Wünsch Dir was“ zu sprechen und setzt ihn in Bezug zu Helmut Kohls Versprechen „blühender Landschaften“.
Kablitz-Post: Mir war wichtig, auf die Klassiker der Toten Hosen Bezug zu nehmen, deren damalige Relevanz abzubilden, aber auch, wie sie zu aktuellen Ereignissen passen. „Bonnie & Clyde“ verwendeten wir also für die Szene, als die Band in Dresden über den Schwimmbadzaun steigt. „Tage wie diese“ mit dem Konfetti auf der Bühne, das wirkte wie eine Befreiung – Campino hatte da seinen Hörsturz überwunden.
Bestimmten die Songs die Dramaturgie des Films?
Kablitz-Post: Das Motto war: Die Ereignisse geben der Doku den Inhalt vor, dann kam die Frage – welches Lied passt dazu? Gleichzeitig sollten die Stücke in einem Flow stehen, also Teil einer einzigen Erzählung sein. „Frühstückskorn“ war Punk, der beim Auftritt im Berliner Punk-Club SO 36 gespielt wurde. Für „Willkommen in Deutschland“ verwendeten wir Aufnahmen von „Wir sind mehr“ in Chemnitz, dem Festival gegen Nazis. Zuvor schon brachten Die Toten Hosen „Pushed Again“ in Gräfenhainichen, als die Rechten in Chemnitz anfingen auf die Straße zu gehen. Auch das landete im Film.
Welche Szenen sind entfallen?
Campino: Die Band hat sich beim Schnitt aus gutem Grund nicht eingemischt. Es gab Momente, die mir am Herzen lagen, es aber nicht in die finale Fassung geschafft haben, das ist in Ordnung. Dennoch bin ich gegenüber einigen Leuten in großer Erklärungsnot. Denn die wollen sicher bald wissen, warum sie nicht in der Doku vorkommen, obwohl sie sich darauf gefreut hatten. In Südamerika waren zum Beispiel während unserer Tournee drei ehemalige Klassenkameraden aus der 10b dabei, die auch aufgezeichnet wurden.
Kablitz-Post: Die Szene hätte ich auch gerne verwendet. Aber wir nahmen tausende Minuten Drehmaterial auf, mussten harte Entscheidungen treffen.
Campino: Ich fragte Cordula, ob sie nicht mal mit denen reden möchte, sie hätten bestimmt gute Geschichten aus der Schulzeit auf Lager. Und nun tauchen sie im Film nicht auf…
Ein Fall für einen Director’s Cut?
Kablitz-Post: Das ist ja schon mein Director’s Cut.
Campino: Die Jungs aus meiner Schule werden leicht enttäuscht sein. Sie hatten sich so viel Mühe gegeben.
Kablitz-Post: Das Timing, die Abwechslung müssen stimmen. Die Geschichte durfte nicht abgebremst werden, es geht ja nicht um Anekdoten, sondern um Einblicke in den aktuellen Touralltag der Band.
Welche weiteren geschnittenen Szenen waren bedeutsam?
Campino: Ich bin sehr stolz darauf, dass es in Buenos Aires eine Toten-Hosen-Bar gibt. Fans haben diesen Laden eröffnet, wir selbst haben damit nichts zu tun. Überall Devotionalien an der Wand, Plattencover, Konzert-Eintrittskarten. Ich glaube, sie schenken auch Alt-Bier aus. Wir sind da mal aufgekreuzt.
Die müssen ja einen Rappel gekriegt haben.
Campino: Sie haben alle Leute zusammengetrommelt, auch die aus der Küche. (spricht wie ein Spanier): „Ah! Campino!“ Eine tolle Begegnung, wir kommunizierten irgendwie, denn sie sprachen kein Englisch.
Kablitz-Post: Wir hatten 90 Film-Minuten geplant, am Ende sind es 106 Minuten geworden.
Campino: Klar ist man versucht zu sagen: „bitte noch diese Szene rein, jene auch“ – aber es wäre doch Quatsch gewesen, eine reine Anekdotensammlung zu produzieren.
Kablitz-Post: Im Schnitt gibt es ein klares Prinzip: die Geschichte steht im Vordergrund und darüberhinaus gilt „Kill Your Darlings“. Und „Darlings“ – von denen hatten wir eine Menge.
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