Tote Hose in Meppen
Mit dem „Liebesroman“ schließt Gerhard Henschel seine wunderbar pedantische Trilogie über das junge Leben des Martin Schlosser ab.
Inge Lüttjes hätte ahnen können, an was für einen Typen sie geraten war. „Nach der Arbeit ist mir für 10 bis 12 Stunden das Bett der angenehmste Aufenthaltsort“, schreibt der junge Richard Schlosser 1951 an seine Geliebte. Knapp 30 Jahre später, Richard und Inge sind längst verheiratet, lebt er seinen Autismus offen aus, sträubt sich gegen jeglichen Sozialkontakt und verlässt nur ungern den Hobbykeller. Er weigert sich in den Urlaub zu fahren, will sich um das Treffen mit ehemaligen Klassenkameraden drücken, selbst die Einkehr in ein griechisches Restaurant – „Da müsste ich ja wohl übergeschnappt sein“ – kommt für ihn nicht in Frage.
Auf über 2300 Seiten hat Gerhard Henschel das Leben der Familie Schlosser festgehalten; erst in dem Briefroman „Die Liebenden“, dann in der Trilogie „Kindheitsroman“, „Jugendroman“ und nun im „Liebesroman“. Es sind die tagebuchartigen Notizen von Martin Schlosser, dem dritten der vier Kinder des Ehepaars Schlosser (wobei es aus Sicht von Martin auf seine kleine Schwester Wiebke gut hätte verzichten können) – und Gerhard Henschel hat in Interviews keinen Zweifel daran gelassen, dass Martin sein Alter ego ist.
Der Roman umfasst die Jahre 1978 bis 1980, die ja per se fesselnde Zeiten waren – schließlich standen Punk und New Wave in voller Blüte -, und für einen Heranwachsenden müssten diese Jahre noch aufregender gewesen sein. Aber nicht für Martin Schlosser aus Meppen. Der junge Mann ist gegen jegliche Moden gefeit: Er kann weder mit Punks noch Poppern etwas anfangen, trägt nichts anderes als Jeanshosen und Bundeswehrparka, und sein Musikgeschmack ist wie aus der Zeit gefallen. Er verehrt die Beatles, zu seinem Geburtstag wünscht er sich entweder eine Platte von Leonard Cohen, Hannes Wader oder Udo Lindenberg. Martin torpediert das gesamte Konzept von Jugend, das vorsieht, dass die Älteren die Musik der Jüngeren verachten. Bedauerlich auch, dass Martin bei den Mädchen so gar nicht vorankommt. Er ist so schüchtern, dass man miterrötet, und folgerichtig unberührt. Er tagträumt von der großen Liebe mit seiner Klassenkameradin Michaela Voigt, vermeidet aber, sie anzublicken und versucht sie auf dem Pausenhof zu ignorieren.
„Liebesroman“ ist, und daher ist der Titel nur ironisch zu verstehen, ein detailliertes Protokoll darüber, wie dämlich und verklemmt man sich als Pubertierender anstellen kann. Trauriger Höhepunkt ist ein Abendspaziergang, auf dem ihn wie ein Geschenk des Himmels eine blauäugige Blondine und eine Dunkelhaarige im Minirock ansprechen und „ganz freundlich“ fragen: „Willst Du mit uns schlafen?“ Und was macht Martin? Er reißt sich los. Nachts im Bett verzweifelt er über sich selbst, aber dann ist es auch zu spät.
Die „FAZ“ hat die „fortdauernde Lektüre“ von „Jugendroman“ als „langweilig“ bezeichnet. Okay, es gibt bei Henschel weder Bombenangriffe noch Vampirattacken noch verworrene Liebschaften. Stattdessen berichtet er über gelebtes Leben mit all seinen Routinen und Schleifen. Er zwingt den Leser dazu, sein Leben mit dem von Martin Schlosser zu vergleichen: War ich in meiner Jugend auch so seltsam? Waren meine Eltern genauso abwesend? Bin ich zu meinen Kindern auch so knurrig? Und warum sind alle kleinen Schwestern eine Pest? Allesamt die großen Fragen des Lebens, allesamt mitnichten langweilig.
Schlossers Berichte zeigen, dass einige Dinge erstaunlich konstant sind, so wie die Verkehrsnachricht von der „ungesicherten Unfallstelle am Kamener Kreuz“ oder das Gejammer über ungleiche Vermögensverteilung. Sie bestätigen auch die Grundgewissheit, wie gut es ist, dass die gute, alte Zeit vorbei ist. Heute regieren keine Alt-Nazis wie Filbinger mehr, Schriftsteller werden nicht als „Ratten und Schmeißfliegen“ bezeichnet, und trotz aller Lästereien über „Political Correctness“ und „Gutmenschentum“ ist man froh, dass die unterirdische Wortwahl aus den 70er-Jahren nicht mehr zu hören ist, zumindest auf politisch-repräsentativer Ebene. Und während heute immer wieder die große Wehklage einsetzt, wie sehr Pornografie im Internet die Jugend versaue, erinnert Martin Schlosser an die Kehrseite – die Mühsal und Ausdauer, vor dem TV-Schirm irgendwann einmal endlich ein wenig nackte Frauenhaut zu erspähen.
Martin Schlosser lebt eine vergeudete Jugend. Seine Gemütslage in „dem kleinbürgerlichen Trauerspiel“ („Deutschlandradio“) changiert zwischen seiner Wut auf Scheißschule, Scheißeltern, Scheißmeppen, in dem er „am liebsten alles kurz und klein schlagen“ würde (was er aber nie tut), und Sarkasmus: „Fünf Jahre in einer der elendsten Außenstellen der abendländischen Kultur. Schwächere Teenager als ich wären daran zerbrochen.“
In „Liebesroman“ wird aus Martin eine relativ gefestigte Persönlichkeit, er wird zu einem Menschen mit Eigenschaft: schüchtern, bildungsbeflissen, introvertiert, kein Rebell. Wird er so werden, wie er sich erträumt, und „Germanistik studieren, in einer richtigen Großstadt, und in einer Wohngemeinschaft leben, mit gewitzten Leuten?“ Als er mit 17 endlich mal seine Ferien nicht bei Verwandten oder bei seinem alten Kamerad Michael verbringt, sondern sich aufmacht nach Florenz, da empfindet er Heimweh nach dem sonst so verhassten Meppen. „Was hatte ich in Italien verloren?“ fragt er sich – und klingt auf einmal genau wie sein Vater.