Tony Soprano
Normalerweise hegt man eher selten Sympathien für einen Menschen, der andere erpressen, zusammenschlagen und sogar ermorden lässt. Tony Soprano ist eine Ausnahme. Am 10. Januar 1999 lief in den USA auf HBO die erste Folge von „The Sopranos“. Eine unerwartete Erfolgsgeschichte: David Chases weitverzweigte Story einer Mafia-Familie in New Jersey brachte es auf 86 Folgen und gewann im Laufe von acht Jahren fünf Golden Globes und 21 Emmys.
Am Ende bekam James Gandolfini, der den Boss der Bande spielte, angeblich pro Episode eine Million Dollar. Jeden Cent zu Recht. Zwischen Schlawiner-Charme und Brutalität schwankend entwarf er Tony Soprano als einen von Mutterkomplexen gequälten Macher, der im Morgenmantel die Zeitung reinholt, die Lasagne seiner Frau lobt und sich dann von irgendeiner billigen Schlampe im „Bada Bing“-Club verwöhnen lässt. Schon wenn zu Beginn der Blues von Alabama 3 ertönt, ist man gefangen. Eine bedrohliche Stimme erzählt: „Woke up this morning and I got myself a gun…“ Der Mafia-Alltag schien auch gar nicht so viel wahnsinniger zu sein als die Realität. Während Bill Clinton gerade noch der Amtsenthebung entging (anders als Tony Soprano war es ihm nicht gelungen, seine Affären zu verheimlichen) und zwei irre Teenager an der Columbine High School in Littleton 13 Menschen töteten, schauten Millionen Amerikaner zu, wie Tony Soprano versuchte, seiner Rolle als Capo gerecht zu werden. Das Geschäft läuft einigermaßen, es ist das Privatleben, das ihn immer wieder umhaut. Er hasst seine kaltherzige Mutter, macht sich Sorgen um die Kinder, findet seine Frau nicht mehr so sexy, wie er sollte. Ein ganz gewöhnlicher Typ also, von der Gesetzlosigkeit jetzt mal abgesehen.
Faszinierend war aber nicht nur der gebrochene Held, sondern auch die Virtuosität, mit der die Folgen inszeniert wurden. „Die Sopranos“ bewiesen, dass Fernsehserien längst kein Abfallprodukt mit Klischee-Charakteren mehr waren, sondern so kunstvoll wie Kinofilme. Plötzlich tauchten am laufenden Band geschickt gestrickte Serien auf, die einen nicht mehr losließen: In „24“ brach man mit dem Verdichtungsgesetz und erzählte mit Split-Screen und in Echtzeit“, wie es immer so schön hieß, was der Undercover-Agent Jack Bauer an nur einem fatalen Tag erlebt. Der junge Regisseur J.J. Abrams schuf mit „Lost“ eine neue Erlebniswelt, in der Mystik, Abenteuer und Apokalypse auf verschiedenen Zeitebenen verschwammen. Mit „Alias“ gelang ihm eine Agenten-Serie mit einer Heldin, die sich nichtfiir Schuhe oder Sex interessierte, sondern für Verschwörungstheorien und Kampftechniken.
In Deutschland liefen „Die Sopranos“ erst ein paar Tage nach dem 11. September 2001 an. Das ZDF zeigte sie zuerst am Samstagabend, dann immer später und zu unterschiedlichen Uhrzeiten, bis kein Videorecorder mehr mitkam. Manch anderer innovativer TV-Serie widerfuhr ein ähnliches Schicksal: schlechte Sendezeiten, miese Einschaltquoten, weg vom Fenster. „Six Feet Under“ verschwand sang- und klanglos, „Alias“ wurde sinnlos versendet, ohne neue Staffeln anzukündigen, und „The L Word“, eine komplexe Beziehungsgeschichte über kunst- und selbstverliebte Lesben in Los Angeles, wird inzwischen praktisch nur noch für die DVD-Veröffentlichungen synchronisiert. Serien-Liebhaber wissen sowieso, dass das die schönste Art ist, den Lebensweg ihrer bevorzugten Protagonisten zu verfolgen: per Box-Set, 16 Folgen am Stück, ohne Werbung. Angeblich schaffen Meister der Zuschauerkunst sogar 24 Folgen „24“ ohne Pause – in Echtzeit eben. Jack Bauer und Tony Soprano, sie sind die Helden der Neuzeit. Ein gequälter FBI-Agent, der kaum Skrupel kennt. Ein sympathischer Mafiosi, der Panikattacken hat. Zwischen „Lindenstraße“ und „Dallas“ war die Welt einfacher. Aber längst nicht so aufregend.