Tonträger des Jahres

Am 29. September, machen wir uns da nichts vor, hielten sich Freude und Fassungslosigkeit die Waage unter Kritikern und Konsumenten. „Viva Classic Rock!“, begrüßten die Kollegen vom amerikanischen ROLLING STONE bereits auf dem Titelblatt jubelnd den Doppelschlag der verdienstvollsten aller Veteranen, und auch in diesen Seiten hagelte es Sterne (von yours truly). Hätten Bob Dylan und die Rolling Stones an diesem denkwürdigen Tag schwache Platten veröffentlicht, wäre er nicht zum Event geworden, auf das jedes Feuilleton der Republik seitenfüllend einstieg. Doch so war die Euphorie bei den einen dermaßen groß, daß sie bei den anderen Entsetzen auslösen mußte. Schwer zu sagen, was dämlicher ist, das „Retro sucks!“-Wutgeheul der Zeitgeisi-Frommen oder das „Rock rules!“-Triumphgeschrei jener Deppen, die schon immer gesagt haben, daß die neuen Bands seit 1984 (1969,1978, wann auch immer) nichts mehr taugen und schon gar nicht zur Heldenverehrung. Kleingeister mit Lagermentalität. „Bridges To Babylon“ und „Time Out OfMind“haben, bei aller Klasse, nicht die Kraft, diese Kluft zu überbrücken.

Nicht schlimm, denn künftige Generationen werden den Plattenausstoß von 1997 eh nicht an Dylan und den Stones messen. Jede Pop-Phase gravitiert zu einem Mittelpunkt, zu einem Ort, an dem sich alle irgendwie aufgehoben fühlen. Der Soundtrack für Massen wie Meinungsmacher muß in Maßen modern sein, intelligent, ohne anzustrengen, zum Darin-Vertiefen, doch unbedingt alltagskompatibel, aussagekräftig, aber interpretierbar, und ein bißchen anonym. „Mainstream“ nennt man diesen musikalischen Konsens, und im auslaufenden Jahr ging der mit Millionenumsätzen dotierte Synergie-Preis der interntionalen Pop-Jury an die Briten Radiohead (auch wenn die Amerikaner noch nichts davon wissen). Kein übler Kompromiß, vergleicht man ihn mit den oft genug ziemlich faulen der Vorjahre. Keine üble Message auch, weil ja hübsch ironisch: „OK Computer“.

Die Traditionalisten wurden bestens bedient von John Fogerty und Chuck Prophet, das Techno-Rock-Crossover besorgten Prodigy und die Chemical Brothers, während Bowie und U2 prekäre Hochseilakte darboten, ohne Netz und doppelten Boden. Für David Bowie, der den Seiltanz schon seit 30 Jahren übt, zahlte sich die zirkusreife l Nummer aus. „Earthling brachte ihm nach diversen Flops Anerkennung und erklecklichen Umsatz. Für U2 lohnte sich das Unternehmen „Discotheque“ dagegen nicht, was daran gelegen haben mag, daß sie ungleich mehr zu verlieren hatten als der inzwischen sogar an der Börse gehandelte Formwandler.

Der passionierte Melancholiker ließ Nick Cave in sein Kämmerlein und Gene und Portishead, alsdann wurden die schweren „Curtains“ der Tindersticks zugezogen und das Licht ausgeknipst. Gitarren-Pop boomte. Anfang des Jahres lockten Blur wider den Sixties-Stachel, nicht ohne Oasis mit „Beetlebum“ eine kleine Niederlage auf deren ureigenem Terrain beizubringen. Im Sommer waren Blur freilich schnell vergessen, als die Platzhirsche Noel und Liam auf die Lichtung traten, ihr „D’You Know What I Mean?“ röhrten und die anderen Bewohner des Britpop Forest zurück ins Unterholz scheuchten.

Travis ausgenommen. Ihre gänzlich unironische Rock-Intensität, ‚Working Class-motiviett und von Noel protegiert, zeitigte eine Reihe zugkräftiger Singles und mit „GoodFeeling“ ein Album, das diesen Titel wahrhaftig verdiente. Fernab vom Charts-Rummel wurden derweil wunderschöne, ganz unaufgeregte Platten gefertigt, haltbarer oft als die Hits der Woche. „Andromeda Heights“ von Prefab Sprout etwa, ein Album von grandioser Strahlkraft, oder die süperben EPs der Jubilee Allstars aus Dublin, die feinen Pop-Perlen von Belle And Sebastian oder die scharfen, trashigen Singles der Fläming Stars, immer hart am Abgrund, stets stilvoll.

In der Kiste mit dem lachhaften Etikett „Insurgent Country“ fand sich auch in diesem Jahr viel Herzerwärmendes, angefangen bei Wayne Hancocks Hillybilly-Bop auf „That’s What Daddy Wants“ über Dale Watsons Honky Tonk-Seligkeit auf „IHate These Songs“bis zur American Desert Music von Hazeldine, deren Debüt-Album „How BeesFly“ ganz allmählich an Statur gewann und sich im kollektiven Bewußtsein einnistete. Völlig übergangen, vom Markt wie von der Kritik, wurde dagegen,, CallingOrer Time“

von Edith Frost, ein ebenso stilles wie eindringliches LP-Debüt.

Ein anderes, nicht minder brillantes Erstlingswerk konnte sich über Mangel an Aiifinerksamkeit bestimmt nicht beklagen: Erykah Badu, die texanische HipHop-Diva mit der BilÜe-Holiday-Stimme, übersprang mit „Baduizm“ mühelos die Genre-Grenzen durch Reduktion auf Soul und vornehmen Verzicht auf anbiederndes Ghetto-Getue. Ihre Single „On & On“ ist nur Rimshot, Baß und Gesang, ein dramaturgisches Meisterwerk und wohl das bezauberndste, beste Stück schwarzer Musik seit, sagen wir, Jahr und Tag.

Was war sonst von Bedeutung? Die Nationalisierung und Provinzialisierung der Ware Pop machte weitere Fortschritte in diesem unserem Lande. Sicher, Deutsch-Rap und Euro-HipHop sind Kinderkram, doch ist selbst MTV bereits eingeschwenkt auf die Regionalisierungs-Strategien des Pop-Kapitals. Was musikalisch nicht einmal so einen gewaltigen Unterschied macht, denn soviel besser als Nana sind Puff Daddy und Konsorten nicht. Ist letztlich dieselbe Soße, und die Fettaugen schwimmen halt oben.

Wie in jedem Jahr fielen auch ein paar Freak-Hits an, die den Charts ja immer etwas Farbe geben, ihren Schöpfern in der Regel jedoch nur kurzen Ruhm bringen. Die Ein-Mann-Pop-Manufaktur White Tbwn schenkte uns „Your Woman“, die nicht unterzukriegende Anarcho-Kommune Chumbawamba den Gassenhauer „Tubthumping“. Ach ja, und die ubiquitäre Kerze im Wind ’97, die meistverkaufte Single aller ‚Zeiten, auf der im Huckepack ein anderes Elton-Elaborat den Weg in mehr als 30 Millionen Haushalte fand, eines aus seinem aktuellen Album. Ein genialer Promo-Coup oder bloß Gedankenlosigkeit?

Was gern verdrängt wird bei Jahresrückblicken, ist die Erinnerung an die unzähligen, peinsamen Belästigungen aus Funk und Fernsehen, von Euro-Dance bis Schlager-Schund. Und was war der allergrößte Scheiß? Keine Frage, Drum’n’Bass.

Die zehn Alben nebenan sind das Resultat einer Umfrage unter allen ROLLING STONE-Mitarbeitern. Für die individuellen Top-Tens (die mit den Fotofix-Fotos!) fehlt diesmal einfach der Platz. Wer an diesen Listen mit den persönlichen Favoriten unserer Kritiker Interesse hat, lasse uns das bitte auf einer Postkarte wissen.

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