Todesursache: Woran starb Chris Cornell?

Chris Cornell wurde im Grunge-Hype der 1990er-Jahre mit Soundgarden emporgespült. ROLLING STONE erinnert an den einmaligen Sänger und beleuchtet die Hintergründe seines Todes.

Todesursache

Chris Cornell nahm sich am 18. Mai 2017 im Alter von 52 Jahren nach einem Soundgarden-Konzert in Detroit das Leben. Die Polizei fand seine Leiche in einem Zimmer des MGM Grand Hotel. Ein Polizeibericht zeichnet die letzten Stunden vor dem Tod von Chris Cornell nach. Die „Detroit News“ beschreibt die Ereignisse, auf die sich Kollegen des amerikanischen ROLLING STONE beziehen.

Laut Cornells Witwe Vicky habe Cornell sie kurz nach dem Konzert in Detroit angerufen und dabei benommen geklungen. Der 52-Jährige sagte am Telefon, er habe „ein oder zwei Ativan mehr“ eingenommen. Nach dem Soundgarden-Gig im Fox Theatre sei der Musiker gegen 23.30 Uhr ins MGM Grand Hotel gefahren. Dessen Bodyguard Martin Kirsten habe ihn aufs Zimmer begleitet, um dort einen Computer zu reparieren. Von Kirsten soll Cornell auch das Ativan erhalten haben. Als er seine Frau anrief, habe er wiederholt gesagt, wie müde er sei und legte dann abrupt auf. Kurze Zeit später war Cornell tot.

Der Autopsiebericht

Wie die Gerichtsmedizin wenige Tage darauf bestätigte, hat sich der Soundgarden-Sänger erhängt. Die zuständige Behörde von Michigan (Wayne County) veröffentlichte den Autopsiebericht von Chris Cornell inklusive der Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung. Demnach starb der Soundgarden-Sänger durch Suizid – und die Einnahme von Medikamenten habe keinen Einfluss auf des Selbstmord gehabt. Gerichtsmediziner Theodore Brown betont in seinem Bericht allerdings, dass er eine „Auffassung“ vertrete, keine Gewissheit haben zu können.

Sieben Medikamente wurden im Blut des Sängers gefunden. Darunter, wie berichtet, eine hohe Dosis des Benzodiazepams Ativan. Ebenfalls im toxikologischen Bericht gelistet sind Butalbital, Pseudoephedrine, Norpseudoephedrine, Koffein und Naloxon. Bis auf Koffein sind dies allesamt Medikamente, Beruhigungsmittel oder Verdauungs-Helfer. Chris Cornell nahm kurz vor seinem Tod also keine Drogen ein. Er galt seit vielen Jahren als clean.

Cornells Witwe betont Einfluss von Medikamenten

Die Witwe Chris Cornells, Vicky, gab nach dem Tod des Musikers bekannt, dass sie den Nebenwirkungen Ativans anlaste, den Suizid herbeigeführt zu haben.

Chris Cornell mit Vicky Cornell
Chris Cornell mit Vicky Cornell.

Gerichtsmediziner Brown gibt in seinem Bericht an, dass die Dosis in Cornells Blut mit 200 NG/ML zwar höher sei als die tägliche Durchschnittsdosis von 30-50 NG/ML. Statistisch löse jedoch erst eine Dosis von 300 NG/ML potentiell Selbstmordgedanken aus.

Statement an ROLLING STONE

Vicky Cornell schickte dem US-ROLLING-STONE nach Veröffentlichung des Autopsieberichts ein Statement. Darin beteuert sie erneut den Einfluss der im Blut aufgefundenen Substanzen, die nach Chris Cornells jahrelanger Abstinenz eine fatale Wirkung erzielt hätten:

„Many of us who know Chris well noticed that he wasn’t himself during his final hours and that something was very off. We have learned from this report that several substances were found in his system. After so many years of sobriety, this moment of terrible judgment seems to have completely impaired and altered his state of mind. Something clearly went terribly wrong and my children and I are heartbroken and are devastated that this moment can never be taken back. We very much appreciate all of the love we have received during this extremely difficult time and are dedicated to helping others in preventing this type of tragedy.“

„Viele von uns, die Chris gut kannten, bemerkten, dass er während seiner letzten Stunden nicht er selbst war und dass etwas absolut nicht stimmte. Aus diesem Bericht haben wir erfahren, dass diverse Substanzen in seinem Körper gefunden worden sind. Nach so vielen Jahren der Nüchternheit scheint dieses schreckliche Urteilsvermögen seinen Geisteszustand vollkommen beeinträchtig und verändert zu haben. Etwas ist offensichtlich schrecklich schief gelaufen und meine Kinder und ich sind erschüttert und am Boden zerstört, dass dieser Moment nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Wir wissen all die Liebe sehr zu schätzen, die wir in dieser extrem schweren Zeit erfahren haben, und möchten anderen helfen, eine solche Tragödie zu verhindern.“

Mitschuld des Arztes?

Die Familie verklagte im November 2018 den ehemaligen Arzt Chris Cornells, da sie ihm eine Mitschuld am Suizid des Musikers gibt. Die Klage wurde am 1. November beim Gericht von Los Angeles eingereicht. Die Angehörigen werfen dem Mediziner vor, Cornell zwischen 2015 und 2017 ohne jegliche Untersuchungen Psychopharmaka verschrieben zu haben. Darunter befanden sich große Mengen eines starken Beruhigungsmittels. Das Medikament habe den Künstler zu „gefährlichem und impulsiven Verhalten, das er nicht kontrollieren konnte und das ihn das Leben gekostet hat“ getrieben, heißt es in der Schrift. Der Arzt habe Cornell in dieser Zeit weder persönlich gesehen noch mit ihm gesprochen. Somit trage er Mitschuld am Suizid.

Chris Cornell 2014.

Dokumenten zufolge, die dem Nachrichtenportal „The Blast“ vorliegen, bestreitet Dr. Robert Koblin die Vorwürfe. Der Arzt verteidigt sich und sagt, dass Cornell die Risiken der Medikamente durchaus bekannt gewesen wären. Er habe sich geweigert, die möglichen negativen Auswirkungen der Substanzen zu berücksichtigen. Laut Koblin wäre sich Cornell der Nebenwirkungen solcher Medikamente „sehr wohl bewusst“ gewesen, wollte aber „nicht darüber informiert“ werden. Weiterhin behauptet der Arzt, dass er sämtliche Dinge getan hätte, um den Sänger über die Risiken der von ihm konsumierten Mittel aufzuklären. Cornell sei ein „suchtanfälliger Mensch“ gewesen.

Was ist Ativan?

Bei Ativan handelt es sich um ein Medikament gegen Angstzustände aus der Gruppe der Benzodiazepine. Über die Eindämmung von Angstzuständen hinaus hat das Medikament eine Epilepsie vorbeugende, beruhigende und schlaffördernde sowie und muskelentspannende Wirkung. Oft wird es – neben dem Kampf gegen Epilepsie – kurzfristig verwendet, um schwere Schlafstörungen zu kurieren. Die Wirkung des Stoffs tritt bereits nach wenigen Minuten ein.

Ativan (Lorazepam)
Ativan (Lorazepam)

Ativan hat beträchtliche Nebenwirkungen. Vor allem bei der zu kurzfristigen Absetzung kann es unter Umständen zu sogenannten paradoxen Effekten kommen, die verstärkte Aggressionen auslösen. Neben Müdigkeit und Schwindelgefühlen können die zuvor bekämpften Ängste verstärkt zurück kommen. Cornells Witwe vermutet, dass die Überdosis des Medikaments möglicherweise Suizidgedanken ausgelöst hat.

Medizinisch kann zwar durch Studien keinen Zusammenhang zwischen Suizidvorstellungen und dem Gebrauch von Ativan nachgewiesen werden. Möglicherweise erlitt Cornell aber eine derart heftige Psychose, dass er dieses Schritt nur deshalb erwog.

Erlöser des Rock

ROLLING-STONE-Chefredakteur Sebastian Zabel erinnerte nach Chris Cornells Tod an einen der größten Rockstars der 1990er-Jahre:

Geklöppel, Feedback-Geflirre, dann ein zickiges Gitarrenriff, tiefergelegtes Bassdröhnen und der glasklare, erotisch aufgeladene Gesang des schönen Mannes: „And you stare at me / In your Jesus Christ pose“. Ich verstand immer „I’m your Jesus Christ pose“, und das war fair enough. Denn der schöne Mann, der im Video zu dem Song mit nacktem Oberkörper, wehender Löckchenmatte und eben jener Erlöser-Pose in der Wüste herumsteht, war Chris Cornell, Vorsteher der Band Soundgarden, Erneuerer des Rock und hier gerade in der Form seines Lebens.

Soundgarden
Soundgarden in frühen Jahren.

Damals, 1991, hoben Soundgarden an, den Mainstream zu erobern. Nur einen Monat vor „Badmotorfinger“, dem Album von dem „Jesus Christ Pose“ stammt, war „Nevermind“ veröffentlicht worden. Cornell und Kurt Cobain kamen beide aus Seattle, hatten den Sound erfunden, den man dann Grunge nannte, hatten sich aber nicht viel zu sagen. Cobain machte sich über den Älteren lustig; es gibt eine wackelige Videoaufnahme, in der er Cornells Gesangsstil nachäfftNirvana kamen vom Indie-Punk, Soundgarden von Led Zeppelin. Und was Nirvana zur größten Band der Neunziger machte, das fehlte Soundgarden weitgehend: Das Gespür für Pop. Depressiv waren beide, Cobain und Cornell.

Auf dem Weg zu „Black Hole Sun“

Scheidungskind Cornell saß zunächst und seit den frühen 80er-Jahren hinter dem Schlagzeug, zunächst auch noch bei Soundgarden, die er gemeinsam mit dem Bassisten Hiro Yamamoto und dem Gitarristen Kim Thayil 1984 gründete. Das erste Soundgarden-Album, „Ultramega OK“, erschien 1988 – ein Jahr vor Nirvanas Debüt – noch auf dem ultramegakorrekten Undergroundlabel SST, dessen Motto „Corporate Rock still sucks“ damals auf der Stoßstange jedes verbeulten Vans zwischen Detroit und Seattle klebte. Kaum ein Jahr später wechselten sie zur Corporate Company A&M, auf „Louder Than Love“ war aber immerhin „Big Dumb Sex“, der Song mit dem markigen „Fuck you“-Refrain. Doch erst mit „Badmotorfinger“ und „Jesus Christ Pose“ erfüllte sich das Versprechen eines erneuerten Hardrocks, einer Metal-Band für Hipster, heißer, schöner, eleganter als ein Lavastrom.

Noch zwei Mal erhob Chris Cornell sein schönes Haupt: Ein paar Monate vor dem smarten feedbacksatten Sechsminüter „Jesus Christ Pose“ (wo er ja übriges einen Spiegel nagelt, in dem er sich selbst sieht – quite freudianisch, isn’t it?) hatte Cornell mit Mitgliedern von Mother Love Bone und Pearl Jam die Band Temple Of The Dog gegründet, ein temporäres Nebenprojekt, das viel deutlicher noch als Soundgarden auf seine Liebe zu klassischen Hardrock- und Metal-Motiven verwies. Ihr einziges Album ist ein feinnerviges Pastiche, elegant schimmernder Rock, wie es ihn in jener Zeit eigentlich nicht gab. Die Arbeit mit den Kollegen der später um ein Vielfaches erfolgreicheren Band um Eddie Vedder (der übrigens auch ein kleines bisschen auf „Temple Of The Dog“ mitwirkt) mag abgefärbt haben. Mit „Black Hole Sun“ schufen Soundgarden 1994 eine der schönsten Hardrock-Balladen, ein krächzendes, federleichtes, gleichwohl bassig-schweres Klammerbluesmonster, das die Zeit gut überdauert hat. („Superunknown“, das dazugehörige Album, eher nicht in voller Länge.)

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Cornells ewige Sehnsucht

Ein knappes Jahr später erschoss sich Cobain. Und mit Grunge war es schnell vorbei. Auch mit Soundgarden. Chris Cornell wurde nicht zum neuen Rock-Messias, füllte nicht die Leerstelle, die Cobain hinterlassen hatte – nicht wenige (vor allem in der Musikindustrie) hatten das wohl gehofft. Es kam überhaupt keiner mehr nach. Pearl Jam wurden groß, aber Vedder kein Idol. Die Nullerjahre kamen, Cornell hatte nun mit Musikern von Rage Against The Machine eine neue Band, Audioslave, gegründet. Die klangen ein bisschen nach Cornells ewiger Sehnsucht, den Hardrockträumen der Siebzigerjahre und überdauerten die Nullerjahre nicht.

Cornell nahm Soloalben und einen James-Bond-Song auf, er reformierte Soundgarden und spielte beim Lollapalooza. Aber all das waren natürlich bloß noch Nachwehen eines großen Moments Anfang der Neunzigerjahre, als Cornell wie der Erlöser der klassischen Rockmusik im Wüstensand stand. Dass der Song dann nach wahnsinnig vielen Minuten noch in einer Feedback-Improvisation enden durfte, machte eben auch den Unterschied zu den Anderen aus. Sowohl zu denen aus dem Mainstreamradio wie auch zu dem Nachbarn aus Seattle, der seine Rockpose im eigenen Badezimmer so gnadenlos nachäffte.

Sie können ja jetzt im Himmel noch mal drüber reden.

 

Jeff Kravitz FilmMagic
Buda Mendes Getty Images
Universal History Archive UIG via Getty Images
Krasner/Trebitz Redferns
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates