Tocotronic beim Lollapalooza: Musik für eine fremde Welt
Die Hamburger Band ist gut, wenn sie politisch wird. Ihr Schrammelrock stößt bisweilen an seine Grenzen. Der Auftritt vom Festival-Samstag.
„Dieses Lied“, sagt Dirk von Lowtzow, „ist gegen alle Chauvinisten und gegen alle Nationalisten“. Und Tocotronic stimmen „Aber hier leben, nein danke“ an.
Wie gut es tut, diese Tage – eine Woche nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, eine Woche vor der in Berlin – eine Band zu hören, die mit so deutlicher Ankündigung, mit so kraftvoller Musik gegen Rechts ansingt. Als hätten Tocotronic das Stück erst jetzt geschrieben und in den Ring geworfen.
Dabei ist es von 2005! In jenem trotz Bundestagswahl politisch irgendwie leeren Jahr war es ein Statement, zu dem einem der damalige Bezug erst einmal einfallen musste. Jetzt hat es wieder seinen Platz gefunden, im Jahr des Rechts-Rucks. „Ich mag den Tanz, das Idiotenfest“, heißt es in „Aber hier leben, nein Danke“, „wenn wir irren, nachts im Kreis“.
Heute, da Reime mit Kälbern in Jennifer-Rostock-Songs den Musik-Protest gegen die AfD anführen, sind Tocotronic mit dieser Deutlichkeit, vor allem mit diesem Anti-Spaß umso wichtiger. “ noch immer
Die Hamburger tragen diese Fackel des so genannten „Diskurs-Rock“ seit mehr als 20 Jahren.
Ihr seid die Freaks
Dabei sind Tocotronic wie geschaffen für Politik mit einer humorvollen, zweiten Ebene, gerade bei Festival-Auftritten. Ihre Musik ist nicht nur „Post“-allem, sie ist „Post-Post“-allem. Sie eröffnen ihr einstündiges Konzert beim Lollapaloza mit „Let There Be Rock“ (fehlt nur noch, dass sie „Rockpop In Concert“ gespielt hätten), es gibt auch heute natürlich das Lied gegen die Fahrradfahrer, das so böse ist, dass es Post-mäßig nicht mehr böse gemeint sein kann, aber böse vorgetragen wird. In „This Boy Is Tocotronic“, ihrem vielleicht noch immer stärksten Song, schieben sie hinter ihr „Hey Now“ seit einiger Zeit auch die Quelle hinterher: „Sing This Corrosion To Me“, von Sisters Of Mercy. Und „Hi Freaks“ erhält am Ende die Ergänzung: „Hi Freaks… beim Lollapalooza“.
Klar, das freakige Carnival-Festival aus Amerika ist wie geschaffen für dieses Lied, in dem es heißt, „der so genannte Realismus fällt nicht weiter ins Gewicht“, und deren Anrede im Songtitel längst in den Tocotronic-Wortschatz eingegangen ist – auf Facebook spricht die Band ihre Follower in jedem Beitrag mit „Freaks“ an.
So weit, so gut, so verständlich. Schwierig wird es immer dann bei Tocotronic, wenn von Lowtzow eine ganz bestimmte Rollenprosa aufführt. Der Sänger als trunkener Dichter, den Ruin vor Augen, das Ende seiner Weltverbesserungspläne; oder Howard Hawks, der sich im Zimmer einschließt und mit Flaschen um sich wirft. „Die Welt wird jeden Tag fremder“, kündigt er vor „Ich öffne mich“ an. Da gehen wir mit ihm d’accord! Dann aber schiebt er hinterher: „Genießen wir die Fremdheit des Morgens gemeinsam!“.
Blumen regnen ins Publikum
Diese prosaischen Sätze. Jene Bildsprache, mit der Tocotronic seit ihrem „Weißen Album“ von 2000 arbeiten. Romantik, Hermann Hesse, Gymnasium, Club der Toten Dichter, Cthulhu, Geheimer Literaturzirkel aus sich umarmenden Jünglingen, das Jahr 1913, undundund. Der ergraute von Lowtzow wirft dazu Blumen ins Publikum, lächelt aus einem starren Gesicht. Das könnte die Darbietung der Rolle eines Entertainers sein, der 1922 im, natürlich, Absinth-Rausch auf die Bühne wankt.
Zumal es seit vielen Jahren ein Missverhältnis gibt zwischen ihrer Poesie und der Musik. Das einstige Trio, heute Quartett, spielt noch immer Gitarre-Bass-Schlagzeug-Indiepop, mit ordentlich Schrammel und Geschepper. Jeder Song könnte von jeder ihrer Platten sein – wer sich mit Tocotronic überhaupt nicht auskennt, könnte anhand der Setlist nicht bestimmen, ob „Digital ist besser“ von 1995 ist oder 2015.
„Zurück in die Zukunft! Eine Prophezeiung! Digital ist besser!“, ruft der 45-Jährige. Mitte der Neunziger war der Song cool, weil es so gut wie keine deutschsprachige Band gab, die Indiepop draufhatte. Die heutigen Arrangements zeigen keine Weiterentwicklung dieses Klangbilds.
Der Einspieler vor ihrem Auftritt, die Musik vom Band, das hätte man fast vergessen: Sergei Prokofjews Ballettmusik von „Romeo und Julia“. Die Geschichte einer tragischen Liebe, wie jeder weiß.
Diese inhaltliche Verknüpfung funktioniert beim Lollapalooza-Gig von Tocotronic jedoch, zum Glück, nicht: Es ist eine Liebe, aber keine tragische. Die Fans bejubeln ihre Helden wie wild. „Wir sind, wir waren, wir bleiben Toctronic“, ruft von Lowtzow am Ende. Eine Bestätigung für ihre Freaks –diese Musiker machen noch lange weiter.
Vielleicht auch eine Mahnung an diejenigen, die politische Geschichte am liebsten vergessen machen würden.