Auch nach 30 Jahren sind die Tindersticks ihr eigenes Universum
Auf ihrem neuen Album „Soft Tissue“ betreiben Stuart Staples und die Tindersticks einmal mehr ihr Spiel der Intimität und der Nuancen.
Unter die haut gingen die Songs der Tindersticks schon immer. Gleich auf ihrem famosen Debüt heißt einer der schönsten Songs „Blood“. Nun also „Soft Tissue“. Das 14. Studioalbum der Band ist nach dem anatomischen Begriff für Weichteile benannt, die sich um Knochen und Muskeln weben.
Keine Metapher, wie Stuart A. Staples bestätigt. Vielmehr wurde der Titel als Teil einer Songliste bereits in dem Spoken-Word-Stück „How He Entered“ auf der Platte „The Waiting Room“ (2016) vorgestellt, neben „This Fear Of Emptiness“ und weiteren. „All die anderen Lieder wurden irgendwie tatsächlich auch zu Musikstücken“, sagt der Sänger. „Es ist eine Idee, die darauf wartete, in die Tat umgesetzt zu werden.“
„Soft Tissue“ bringt etwas für die Tindersticks zu Ende
„Soft Tissue“ bringe dabei etwas zu Ende, das 2012 mit „The Something Rain“ begonnen habe. „Es gibt einen roten Faden, der all diese Platten verbindet“, erklärt er. Das neue Album verbindet die Intimität früherer Aufnahmen mit dem Electro-experimentellen Kurs von „Distractions“ (2021) und der melodiösen Fülle und Leichthändigkeit von „No Treasure But Hope“ (2019). Zudem soll es, verdeutlicht Staples, hörbar machen, wie die Band vor allem auch auf der Bühne zusammenarbeitet.
Staples: „Es ist eine Art Konversation zwischen einer aggressiven Seite, die auch in mir schlummert, und einer sanften Seite, die mit ihr zusammenfließt und auf sie reagiert.“ Es ist freilich auch ein offenes Gespräch der vielen Kreativen im Tindersticks-Kosmos, die wie ein Uhrwerk zusammenarbeiten.
„New World“ entpuppt sich gleich am Anfang als Einlösung dieses Prinzips: Zunächst ein glorioses Bläser-Inferno, einer der kraftvollsten Einstiege in ein Album der Tindersticks überhaupt, das dann in sich zusammenfällt und von einer Elektroorgel und einem metallischen Rhythmus aufgefangen wird. Staples tastet nach einer neuen Realität („Maybe it’s a new world“), bevor er mit Gastsängerin Gina Foster gemeinsam lamentiert: „I won’t let my love become my weakness.“
Die formidable Zusammenarbeit nicht nur mit Foster, die auch noch ein weiteres Mal zu hören ist, sondern auch mit Terry Edwards und Julian Siegel an den Blasinstrumenten ist völlig ohne Selbstzweck. In Songs wie „Always A Stranger“ verschmelzen die musikalischen Qualitäten der Musiker nahezu miteinander.
Nach über dreißig Jahren Bandgeschichte treibt die Tindersticks noch immer ein geheimnisvolles Verlangen an. Staples: „Es ist das Bedürfnis, nach etwas zu greifen und an Orte zu gehen, an denen man noch nicht war. Und ich habe das Gefühl, das kommt von jedem von uns.“
Die Arrangements haben dabei nicht nur weiter ihren sentimentalen Schmelz – sie aktivieren, wie „Don’t Walk, Run“, auch jene cineastische Energie, die längst zu einem Markenzeichen der Briten geworden ist und die über ihre kongeniale Soundtrackarbeit für die Regisseurin Claire Denis hinausgeht.
Die Kunst der Tindersticks war immer eine subtile Arbeit an den Nuancen. Mögen Lieder wie „Nancy“ auch einem „easy vibe“ entspringen – ihre Struktur erhalten sie durch einen disruptiven Einschlag, sagt der Sänger. Für diese Störfeuer ist in der Band Staples zuständig. Er sucht geradezu manisch nach ihnen.
Als Musiker empfindet er sich immer noch nicht. Auch nicht als Lyriker. Einen Roman würde er nie schreiben können – zu wenig Geduld, zu viele Gedanken, die wild kreisen. Sein Songwriting sei eher intuitiv, es gleiche der Arbeit eines Malers, der für eine Empfindung eine bestimmte Farbe sucht, sagt Staples.
Das Bildmaterial der Tindersticks ist dabei fest in Familienhand. Kreierte in der Vergangenheit Staples’ Ehefrau, Suzanne Osborne, das Cover-Artwork einiger Alben, ist diesmal Tochter Sidonie an der Reihe, die nicht nur das mit Filz entstandene Kunstwerk für die Plattenhülle gestaltete, sondern auch das Video zu „New World“ inszenierte.
Bleibt die Frage, wie es den Musikern gelingt, einander so kontinuierlich zu Höchstleistungen anzutreiben. „Ich glaube, das liegt daran, dass unsere gemeinsame Arbeit intensiv, aber nie kompliziert ist“, glaubt Staples. „Es ist eine Intensität, die man genießen kann.“
Tindersticks auf Tour 2024
- 5. Oktober 2024: München – Prinzregententheater
- 6. Oktober 2024: Leipzig – Schauspielhaus
- 7. Oktober 2024: Berlin – Theater des Westens
- 13. Oktober 2024: Hamburg – Kampnagel