Tindersticks sind die Meister der melancholischen Zwischentöne
Für ihr neues Album „The Waiting Room“ haben die Tindersticks zu jedem Song einen Kurzfilm drehen lassen. Sänger Stuart A. Staples im Interview über sein Leben als Hobbyregisseur,Träume, Ängste und die kommenden Live-Shows.
Der erste Strahl Morgen-Sonne schleicht sich ins Zimmer. Jemand dreht eine Münze. Autos rasen im Zeitraffer über eine Stadtautobahn. Ein Mann beobachtet das Treiben auf einem Bahnhof. Menschen flanieren vor einem Casino. Regentropfen zittern auf einer Scheibe. Eine Hochzeitsgesellschaft lächelt in die Kamera. Eine Frau driftet nachts im Pool. Ein Riesenrad gewährt Blicke auf ein idyllisches Wohnviertel. Ein monströses Fahrzeug rollt über rotbraunen Morast. Wolken spiegeln sich in einer Vitrine mit ausgestopften Vögeln.
Sie sind verwirrt? Geben Sie sich einfach dem Assoziationsstrom des neuen Tindersticks-Albums hin. Denn so klingt es, übersetzt in Bilder. Zu jedem Song auf „The Waiting Room“ gehört ein Kurzfilm, ein in der Popgeschichte einzigartiges Projekt – sofern man diese Band überhaupt jemals einem System namens Pop zurechnen konnte. Tindersticks-Musik war immer eine höhere Form von Kunst, für die man jedoch nicht zehn Semester Bildhauerei studiert haben muss oder eine Jahreskarte für die Tate Gallery braucht, um sie zu verstehen. Weil sie vom Leben und der Liebe in allen Schattierungen erzählt. Eine Musik, romantisch und abgründig, die Räume schafft, in denen man leben kann, wenn man sich hineintraut.
Der Realität entfliehen
„The Waiting Room“ ist wieder so ein Raum, ein schier unergründliches, endlos verzweigtes Geflecht aus Wirklichkeiten, die wiederum den Kosmos Tindersticks bilden. „Der Kern des Albums soll es ermöglichen, der Realität zu entfliehen und Platz zu machen für Träume“, sagt Sänger Stuart A. Staples dann tatsächlich. Ein Satz, den man von ihm zuallerletzt erwartet hätte, weil er so unangenehm nach „Herr der Ringe“-Paralleluniversum schmeckt. Doch Staples stellt klar: „Um etwas Kreatives und Schönes zu erschaffen, muss man gewissermaßen zeitweise die Realität aufheben. Wenn man zu genau hinschaut, wird man nie eine Melodie finden.“
Und die ungelebten Träume? Die versteckten Ängste? Die „fear of emptiness“ aus dem neuen Stück „How He Entered“? Sieht man die auf dem grell überschminkten Antlitz dessen, was wir Realität nennen? Genau dafür gibt es ja die Tindersticks: um diesen Zwischentönen und Dissonanzen nachzuspüren. „Der Song handelt von einem Mann, der vielleicht ich bin“, erklärt Staples mit schelmischem Grinsen. „Dieser Mann resümiert. Er sieht, was er hat und was er sich immer erhofft hat. Er sieht seine Freunde und seine Verluste.“ Und er trägt wahrscheinlich so einen Eselskopf wie den auf dem Cover von „The Waiting Room“.
Die Entstehungsgeschichte des Albums beginnt 2012 in Clermont-Ferrand, wo alljährlich ein Kurzfilmfestival stattfindet. Festivalleiter Calmin Borel kontaktierte Staples, weil er noch einen Musiker für die Jury suchte. Staples, der mit seiner Familie seit vielen Jahren unweit der französischen Stadt in der Auvergne wohnt, willigte ein. Während der mehrtägigen Veranstaltung entwickelte er mit Borel die Idee für ein gemeinsames Projekt, das miteinander korrespondierende Kurzfilme und Musikstücke beinhalten sollte. Dabei schwebten Staples keine Klanginstallationen zu bewegten Bildern vor, auch keine Storys, die den Songs übergestülpt werden, wie das bei herkömmlichen Musikvideos häufig der Fall ist. Überhaupt nichts, was ablenkt.
Die Verschmelzung von Film und Songs
Staples Vorgabe war es, „Filme und Songs zu einer Atmosphäre zu verschmelzen“. Borel wählte einige Regisseure aus, die ihm dafür besonders geeignet schienen. Den Anfang machte Staples selbst. Gemeinsam mit Ehefrau Suzanne Osborne drehte er den eingangs erwähnten Sonnenaufgang. „Wir haben das an drei Tagen probiert und viel über den technischen Umgang mit einer Kamera gelernt“, sagt er und lacht. Ein bisschen Herumdilettieren kann nie schaden und setzt im besten Fall ungeahnte improvisatorische Kräfte frei. Das wussten die Tindersticks schon, bevor sie auf dem Radar der Musikpresse auftauchten, als sie noch aussahen wie die Boheme von Nottingham auf Sozialstütze und musizierten, als hätte man The Velvet Underground und ein Kammerorchester aus dem 19. Jahrhundert zusammen in einen Keller gepfercht.
Die Faszination Tindersticks, die spätestens seit dem „Second Album“ von Großbritannien aufs europäische Festland herüberschwappte, erfasste auch die französische Regisseurin Claire Denis, die seit Mitte der Neunziger die Scores für beinahe all ihre Filme von der Band komponieren ließ. 2016 wird sie ihre erste englische Produktion drehen, Gerüchten nach eine Science-Fiction-Geschichte mit Patricia Arquette und Robert Pattinson in den Hauptrollen. Für den Soundtrack bereits gebucht sind natürlich die Tindersticks, wie Staples giggelnd bestätigt. Für den neuen Song „Help Yourself“ ließ Denis den Hauptdarsteller aus ihrem Drama „35 rhums“ in einem Bahnhof irgendwo in Frankreich herumwandern. Andere Drehorte des Projekts befinden sich in Brasilien, England und Deutschland. So verwischt „The Waiting Room“ nicht nur musikalisch-stilistische Grenzen, sondern auch kulturelle und territoriale. Aber mit derart bedeutungsschwangeren Konzepten will Staples sein Publikum lieber nicht belasten. Die Filme seien lediglich ein Extra zum Album. Im Februar 2016 werden die Tindersticks für ausgewählte Shows beides verbinden. „Dann möchte ich den Leuten nicht vorschreiben, wie sie die Songs wahrnehmen sollen. Ich singe oft mit geschlossenen Augen und weiß, dass viele mit geschlossenen Augen zuhören“, erklärt Staples. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass Staples ein sympathischer Interviewpartner ist. Wenn es eines Beweises bedarf, dass Genies nicht von Natur aus arrogante, prätentiöse Arschlöcher sind, ist dieser Mann Beweis genug. Er hört sich die Deutungen seiner Musik aufmerksam, manchmal mit kindlicher Neugier an. Kaum vorstellbar, dass er einem gegenüber barsch werden könnte, wenn das Gespräch nicht nach seinem Wunsch verläuft. Doch man sieht es seinen zögerlichen Reaktionen an: Der Mann, der uns mit den anderen beiden Genies der Tindersticks, David Boulter und Neil Fraser, so viele wundervolle Alben geschenkt hat, möchte jetzt ausschließlich über Musik sprechen.Zum Beispiel über sein Duett mit Lhasa de Sela, über die er lange nicht sprechen wollte, nicht konnte, nachdem die Sängerin am Neujahrstag 2010 mit 37 Jahren an Brustkrebs gestorben war. Die US-amerikanisch-mexikanische Lhasa, so ihr Künstlername, war eng mit Staples befreundet, hatte schon 2003 auf „Waiting For The Moon“ einen Gastauftritt und sang auf Staples’ Soloplatte „Leaving Songs“. Kurz vor ihrer Erkrankung nahmen die beiden ein Demo auf, dessen Vokalspuren für die neue Ballade „Hey Lucinda“ dienten. Man muss nicht danach fragen, warum das Stück so lange liegen blieb. „Ich konnte Lhasas Stimme nicht mehr hören“, bringt Staples stockend heraus. „Ich hörte nicht nur den Song, sondern den Moment, den wir miteinander teilten. Aber wenn man sich nicht irgendwann gestattet, solche Dinge hinter sich zu lassen, gehen sie nie vorbei.“
Schiefer Soul und Funk noir
Den Song zu vervollständigen habe ihm alles abverlangt, was er in den letzten 20 Jahren gelernt habe. Dazu zähle auch die 2014 veröffentlichte „Vertonung“ des belgischen In Flanders Fields Museum, das die Schrecken des Ersten Weltkriegs zeigt. „Die Arrangements auf ‚The Waiting Room‘ wären ohne diese Erfahrung nicht denkbar“, sagt Staples. Etwa der schiefe Soul von „Help Yourself“, der abstrakte Funk noir von „Were We Once Lovers?“, das himmlische, über Streichern rezitierte „How He Entered“ oder das schummerige Instrumental „This Fear Of Emptiness“, bei dem Staples eine Verbindung zu Neu! hört, auch wenn ihm das Wort „Krautrock“ ein Graus ist.
Manche Menschen werden sich zeitlebens nach den frühen, schwelgerisch-schwermütigen Tindersticks sehnen. Aber lassen Sie sich nicht beirren: Diese Band war nie besser!
Tindersticks live 2016
- Sa 05.11.2016 – Rolling Stone Weekender (Ostsee-Ferienpark)
- Mo 07.11.2016 – Leipzig (Felsenkeller)
- So 13.11.2016 – Dortmund (Konzerthaus)
- Mo 14.11.2016 – Berlin (Konzerthaus)