Tindersticks – Die Nacht-Falken
20 Jahre nach ihren Anfängen triumphieren die TINDERSTICKS mit einem Wunderwerk.
Eine muffige, winzige Kemenate, die Toilette eine halbe Treppe tiefer, das Bad am anderen Ende des Hausflurs, eine elektrische Kochplatte als einzige Wärmequelle, die Wände zieren Burgunder-gesprenkelte Tapeten und ein paar Fetzen roter Samt. So in etwa stellen wir uns das Zimmer vor, das im Eröffnungsstück des neunten Tindersticks-Albums, „The Something Rain“, beschrieben wird, eine vor Details überlaufende Reminiszenz an die Zeit, als die Wahrnehmung noch durch ärmliche Verhältnisse geschärft war, als jedes Staubkorn noch bedeutungsschwer auf den Gemütern lastete. Man meint, noch den Tabakrauch zu riechen, der in den Vorhängen ruht, meint, jede Faser der abgesessenen Polstermöbel zu spüren und den abgestandenen Rest von zwei Holsten Pils zu schmecken. „Chocolate“ heißt das Stück, dessen Text gedruckt zwei A4-Seiten umfasst. David Boulter spricht sie als Selbstvergewisserung, ein letzter Blick zurück, bevor ein neues Kapitel beginnt.
Stuart Staples wird bei dem Gedanken ein wenig nostalgisch, dass auch er einst in so einer Behausung ein kümmerliches Künstlerdasein gefristet hat: „Jeder von uns kennt die Atmosphäre, die David da beschreibt: die Straßen und Pubs, jede Pommesbude.“ Wehmut schwingt in diesen Worten mit. Man stellt sich eine Szene wie in Aki Kaurismäkis „Das Leben der Bohème“ vor, als Stuart A. Staples und David Boulter 1990 entschieden, aus dem musealen Nottingham wegzuziehen nach London. Doch es sollte ein weiteres Jahr dauern, bis sich die beiden mit Neil Fraser, Dickon Hinchliffe, Al Macaulay und Mark Colwill zusammentaten, und weitere zwei, um eines der eindrucksvollsten, abgründigsten Debüt-Alben aufzunehmen, das trotz seiner Sperrigkeit Platz 56 der britischen Charts erreichte und dem Sextett in sogenannten Indie-Kreisen schnell eine treue Schar von Verehrern einbrachte. „‚Tindersticks‘ war der Moment, in dem alles zusammenkam, was wir die Jahre zuvor ausprobiert hatten. Das letzte Teil des Mosaiks“, erklärt Staples. „Tindersticks II“ und „Curtains“ hielten das Versprechen des Debüts auf verblüffende Weise. Charakteristisch für den Sound der Band, für den „melancholisch“ eine euphemistische Untertreibung wäre, wurden die dräuenden Streicherarrangements und Staples‘ flehentliches Genuschel, für das jeder Musikredakteur jenseits der Themse einmal tief in die Metaphernkiste griff.
„Simple Pleasures“ war 1999 der bemühte Versuch, sich selbst aus den rabenschwarzen Anzügen zu befreien, die sie sich fürs zweite Album geschneidert hatten. Die Tindersticks-Emphase war zur Methode geronnen. Doch die neue Leichtigkeit schienen sich die Musiker selbst nicht so wirklich abzunehmen. Weshalb sie 2003 mit „Waiting For The Moon“ zu altbewährten Mitteln zurückkehrten. „Nach ‚Waiting For The Moon‘ waren wir keine richtige Band mehr. Jeder lebte in seiner eigenen Welt. Wir fingen an, vieles halbherzig zu machen. Eine Pause schien das einzig Sinnvolle.“
Daraus wurden fünf Jahre, in denen Staples mit „Lucky Dog Recordings 03-04“ und „Leaving Songs“ zwei betuliche Soloplatten herausbrachte. Selbstheilung sei das gewesen. „Ich habe diese Alben gebraucht, um zu begreifen, was mit uns passiert war. Zwei Jahre lang spielte ich kein einziges Konzert und wusste nicht, wie ich auf Fragen nach der Zukunft der Tindersticks reagieren sollte“, erinnert sich Staples an diese Zeit der Unsicherheit.
Schließlich waren es Boulter und Fraser, die ihn dazu animierten, es noch einmal zu versuchen. Zum Trio geschrumpft, näherten sich die Musiker wieder behutsam an. „Wir haben uns für ein paar Stunden getroffen. Dieser erste Moment des Wiedersehens hat uns ermutigt. Und bei jedem darauffolgenden Treffen fühlten wir, dass wieder Bewegung in der Luft war.“
Und wenn eins fortan klar war, dann, dass Staples niemals wieder in einem Zustand permanenter Frustration leben wollte. „The Hungry Saw“ und „Falling Down A Mountain“ zerstreuten solche Zweifel endgültig. Mit Bassist Dan McKinna und Schlagzeuger Earl Harvin fand die Band zu einer klarer konturierten, für Tindersticks-Verhältnisse geradezu munteren Formsprache.
„The Something Rain“ scheint der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung zu sein, ein sublimer, oft repetitiver Bewusstseinsstrom, der auf seine Art eine genauso starke Sogwirkung entfaltet wie die frühen Meisterwerke. Weniger ist mehr – diese Plattitüde scheint hier einmal zuzutreffen, denn das Quintett reduziert alles aufs Wesentliche und zeigt so ganz neue Facetten. „Wir haben gelernt, die wesentlichen Bestandteile bewusst einzusetzen und unsere Rastlosigkeit kreativ zu nutzen. Früher habe ich vieles in meinem Leben nur demoliert. Ich hoffe, ich bin mit den Jahren etwas cleverer geworden“, sagt Staples. Es ist diese Bescheidenheit, die an ihm so verblüfft. Wer einen saturierten Kauz erwartet, muss sich schnell eines Besseren belehren lassen. „Man sollte irgendwann akzeptieren, wer man ist. Gute Musik reflektiert das für mich.“
Die kommt diesmal ohne große Melodiebögen, ohne aufbegehrende Streicher, ohne winselnde Trompeten aus. Stattdessen ist „The Something Rain“ eine Art Tindersticks-Minimal-Music mit verschrobenen Saxofon-Klängen. „Das Instrument hat einen schlechten Ruf, weil es oft geschmacklos eingesetzt wird. Für uns wurde es zur persönlichen Passion, dem Saxofon ein Stück Würde zurückzugeben. Ich glaube, dass uns das gelungen ist“, giggelt Staples. Vor allem markiert die Platte die Rückkehr zu dunkleren Tönen. „Es ging darum, eine bestimmte Art des Songwritings in eine extreme Richtung zu treiben. Die übliche Vorgangsweise ist: Wenn mir eine Idee kommt, greife ich zur Gitarre und versuche herauszufinden, um was es sich handelt. Dadurch vernichtet man aber Möglichkeiten, ohne sie überhaupt berührt zu haben. Hier haben wir das vermieden, indem wir mehr mit Bass und Schlagzeug gearbeitet haben.“
Geografisch haben sich die Tindersticks längst aus England verabschiedet und sich ein neues Refugium in der südwestfranzösischen Region Limousin eingerichtet, samt bandeigenem Studio Le Chien Chanceux und dem Sub-Label Lucky Dog Recordings. Er sei damals nicht aus einem romantischen Traum heraus umgezogen, versichert Staples. „Meine Frau und ich brauchten neuen Raum, um kreativ sein zu können. Davor hatte ich 18 Jahre in London gelebt. Irgendwann spürte ich dort, dass ich mich selbst verlor. Die Leute um mich herum definierten das, was mich ausmachte – nicht mehr ich selbst.“
Bei der Einrichtung im neuen Domizil half die Zusammenarbeit mit der französischen Regisseurin Claire Denis, für deren Filme die Tindersticks seit 1996 Musik beisteuern. Und tatsächlich lassen sich in einigen Scores, etwa in den abstrakten Klangflächen aus „L’intrus“ oder in den polyphonen Mustern aus „White Material“, Vorstudien finden. „‚White Material‘ hat die Palette der Sounds erweitert. Ohne diese Erfahrung hätten wir ‚Medicine‘ oder ‚Frozen‘ nicht so vollenden können, wie es die seltsame Natur dieser Songs erfordert“, erklärt Staples.
Als „strange mixture of violence and tenderness“ beschrieb Denis die Musik der Tindersticks in einem Artikel des „Independent“. Und Staples revanchierte sich mit dem Satz: „Claire has a certain kind of shyness that I understand.“ Keine Frage: Die künstlerische Freundschaft der beiden trägt auf „The Something Rain“ musikalische Früchte.