TIEF IM RHYTHMUS

Ein latin-disco-club in der innenstadt von Montreal. Auf dem Abendprogramm steht, für luftige neun Dollar, eine Band namens The Reflektors. Kurzfristig verteilte Flyer bitten um „angemessene Kleidung“. Smartphones oder Kameras sind streng verboten. Trotzdem bildet sich schon am Nachmittag eine Schlange vor der Salsathèque. Einige Leute tragen Anzug oder Abendkleid, und schon kommen Gerüchte auf, dass man in normaler Straßenkluft gar nicht in den Laden komme. Tatsächlich mustern Türsteher die Reihe und weisen Turnschuh-oder Jeans-Träger auf den gewünschten Dresscode hin. Woraufhin einige Fans zum Aufmöbeln des Outfits zu H&M flitzen oder hektisch bei einem stadtbekannten Kleiderfundus anrufen. Ein Mann mit Alu-Schutzweste, Blechschild und silberner Maske gibt am Rande des Menschenauflaufs gar den „Mr. Reflektor“. Kein schlechter Auftrieb für eine obskure Band.

Als am späteren Nachmittag drei schwarze SUVs an der nächsten Straßenecke halten und sechs Menschen mit überdimensionierten Pappköpfen grüßend an den Wartenden vorbeiwackeln, erkennen auch staunende Passanten, dass hier eine spezielle Inszenierung im Gange ist: Arcade Fire stellen bei einem Geheim-Gig das neue Album „Reflektor“ vor. Die Maskerade -vor ein paar Jahren erstmals benutzt für den Clip zu „Sprawl II“ von „The Suburbs“ – spielt auch im Video zur gleichnamigen neuen Single eine Rolle. Ein kleines Spektakel für das mit Spannung erwartete vierte Album der wohl größten Indie-Rockband der Welt -einer der Höhepunkte der laufenden Saison.

Allein schon weil sie sich nicht erst seit „The Suburbs“ – aber dort besonders eloquent und elegant -einer schwer überschaubaren Weite von Geschmacksvarianten geöffnet haben. Da gab es dieses vage Gefühl von Achtziger-Postpunk. Talking Heads und The Cure schwebten im Raum. Gegenläufige Referenzen reichten von Springsteen zu den Sugarcubes, andere von ABBA zu Gun Club oder von Supertramp zu Sonic Youth. Diese Auswahl war jedoch nur ein kleiner Vorgeschmack auf das Potenzial ihrer Musik, wie sich nun auf „Reflektor“ zeigt. Von Gitarren-Punk zu Daft Punk, von Alvin-Stardust-Glam zu Dancehall-Rappeln, von Talking Heads zu Videogame-Elektro und von Michael Jackson zu Voodoo-Trommeln reichen die Verweise. So unmissverständlich man dabei den typischen hohen Arcade-Fire-Ton erkennt -man sollte „Reflektor“ auch als Dance-Album verstehen.

Als sich schließlich die Türen der verwinkelten Salsa-Tanzschule öffnen, standesgemäß ausgestattet mit Spiegelwänden und bunten Lichterketten, werden letztlich auch ungestylte Fans eingelassen -vorausgesetzt, sie streifen sich einen der weißen Overalls über, die an der Garderobe verteilt werden. Weil der Test-Gig gefilmt wird, wünscht die Band sich ein außergewöhnliches Szenario. Und so betreten Arcade Fire Punkt neun mit ihren Pappköpfen die Bühne – und machen schnell klar, dass es künftig ein wenig anders zugeht als gewohnt. Das zweite Schlagzeug – bis zur letzten „Suburbs“-Tour noch Standard -fehlt. Stattdessen verdichten zwei Perkussionisten mit Bongos, Congas und Timbales den Rhythmus. Auch auf die Bläsersektion hat man verzichtet. Sarah Neufeld streicht wie gewohnt die Geige, Dauer-Live-Bandmitglied Owen Pallett wechselt wie immer zwischen Saiten und Tasten. Aber statt Indie-Hymnen feiern Arcade Fire an diesem Abend in der Salsathèque eine verschwitzte Clubnacht.

So ist das“, sagt Bandchef Win Butler, „wenn man 2013 Musik macht. Die Leute reden immer von der Reinheit des frühen Rock’n’Roll oder der Reinheit von irgendwas, das eben neu ist. Als ich in den Neunzigern ein texanischer Teenie war, hast du entweder Grunge oder House, ABBA oder Sex Pistols gehört. Beides gleichzeitig gut zu finden war jenseits jeglicher Vorstellung. Heute hat so jemand wie die Kanadierin Grimes als Haupteinfluss vermutlich Mariah Carey und verbindet das problemlos mit der seltsamsten und schrägsten Elektronik. Für uns ist Musik gut, wenn sie gut ist. Ob das traditionellster Folk, afrikanische Musik oder Top-40-HipHop ist. Elvis hatte diese Palette nicht, aber“, lacht der 33-Jährige, „dadurch ist es auch sehr leicht für uns, Scheiß zu bauen. Weswegen manche Kids dann sauer werden. Schon faszinierend, diese Entwicklung.“

Ähnlich schillernd ist auch die Annäherung an eine Band, die sich in den Wochen vor dem neuen Album professionell rarmacht, wo jede Marketingfibel Hochpräsenz vorschreibt. Es gab diesen Test-Gig in Montreal, doch der wurde nur äußerst sparsam vermarktet. Statt Vorab-Album oder -Stream fand eine reglementierte Listening-Session bei ihrer deutschen Plattenfirma Universal statt (in den USA und Kanada sind sie nach wie vor beim Winzig-Indie Merge), wo die einzige deutsche CD im Tresor liegt. Kein Interview in Montreal, wo die Band lebt und arbeitet, oder in New York, wo sie sich für ein halbstündiges Special im Rahmen der legendären Comedyshow „Saturday Night Live“ aufhielt. Nur spontan zugerufene Telefon-Verbindungen mit dem Gitarristen Richard Parry, dem Bassisten Tim Kingsbury und schließlich gar mit dem Mobiltelefon Win Butlers.

Arcade Fire stehen wie kaum eine andere Band für den Nachweis, dass unabhängig hergestellter Rock höchst marktgängig und populär sein kann. Sie verkörpern eine stadiontaugliche U2-isierung des Indiemarkts, die entgegen den üblichen Regeln der Stadionkultur funktioniert. Das deutete sich schon 2004 an, als nach einer beiläufigen EP das erste Album des kanadischen Septetts um Butler und seine Frau, Régine Chassagne, erschien (die als einzige aus der kurzen EP-Frühphase der Band übrig geblieben waren). „Funeral“ wurde mit seiner Mischung aus introspektivem Schmerz und allerlei Folkrock-Gewimmel zum bis dahin größten Erfolg des kleinen Indielabels Merge aus North Carolina. „Die beste Band Kanadas“, wie die kanadische Ausgabe des „Time“-Magazins titelte, wurde von der weltweiten Kritik wie von einflussreichen Kollegen empfohlen. Sie spielten mit David Bowie, David Byrne und Bruce Springsteen. Auf einigen Konzerten durften sie U2 als Vorprogramm und Zugabenstütze begleiten. Von da an ging es sternenwärts.

Das zweite Album, „Neon Bible“, richtet den Blick noch etwas anstrengend nach außen -in die Verwahrlosungen der Ära von George W. Bush. „The Suburbs“ findet einen dialektischen Mittelweg zwischen Selbstbeschau und Weltverhältnis. Die Vorstadt kann man sich hier als jene Siedlung bei Houston, Texas, vorstellen, in der Win Butler und sein jüngerer Bruder Will, der Bassist der Band, aufwuchsen. Der Vater ist ein wohlhabender Halliburton-Geologe und Enkel des Swing spielenden Erfinders des Gibson-Gitarren-Pick-ups. Die Songs erinnerten an diese Kindheit, ebenso nostalgisch beseelt wie von Ödnis und Teen-Unsicherheit zerfressen. Zugleich hatten sie das instrumentale Maximum und die emotionale Sprunghaftigkeit zu einem klar identifizierbaren Bandsound festgezurrt.

Ihre Auftritte inszenierte die fast durchweg multiinstrumental begabte Band als Spektakel, indem sie wie in der Musik selbst Positionen und Funktionen von Gitarren, Mandolinen, Geigen, Orgeln, Drehleiern, Akkordeons, Keyboards und Percussion scheinbar spontan wechselten. Arcade Fire sei, fand der „NME“, die erste echte Band des 21. Jahrhunderts: Selbstbewusst und stimmig erfanden sie die neue Unübersichtlichkeit und archivarische Allgegenwart als Band-Dynamik.“Wir ziehen zwar keine Streichhölzer“, sagt Tim Kingsbury dazu, „aber wenn eine Songidee kommt, dann greifen sich tendenziell alle das Instrument, auf dem ihnen gerade etwas einfällt oder das sie gerade in diesem Moment am spannendsten finden. Ich habe diesmal überraschenderweise auf fast allen Songs Gitarre gespielt, wo ich doch sonst oft am Bass lande.“ Was ihm auch die Gelegenheit gab, ein bisschen in die Vergangenheit zu schweifen: „In meiner Schulzeit habe ich als Rocker Disco-Licks, sagen wir,’Le Freak‘ von Chic, eher scherzhaft angespielt, obwohl ich sie mit dem komplizierten Hirn des Teenagers auch total super fand. Diesmal konnte ich das zum ersten Mal ernsthaft vertiefen.“

„The Suburbs“ erreichte 2010 in den USA Goldstatus und Platz eins der Billboard-Charts. Dazu Mehrfachplatin und Chartsspitzen in Kanada, Großbritannien und anderen europäischen Ländern, worauf naturgemäß der Ober-Grammy für das beste Album sowie einige kanadische Junos und zwei Brit Awards folgten. Gleich zwei Abende hintereinander spielten sie im New Yorker Madison Square Garden vor ausverkauftem Haus, deren erster unter der Regie von Terry Gilliam live auf YouTube zu sehen war. Und wie die Alben zuvor schob auch „The Suburbs“ sich global auf die Millionenmarke zu. Daher ist es bemerkenswert, dass sie auf dem entscheidenden amerikanischen Markt auch „Reflektor“ wieder auf dem kleinen Indie Merge veröffentlichen.

Arcade Fire lieben es eben außergewöhnlich: Die erste Single zu „Neon Bible“ konnte man über eine Nummer auf der Band-Website telefonisch anhören. Die Neonskulptur auf dem preisgekrönten Cover war eine Auftragsarbeit, die von der Band auch als Bühnenbild benutzt wurde. Zu „The Suburbs“ veröffentlichten sie ein interaktives Video, arbeiteten mit Spike Jonze an einem grimmigen kleinen Vorstadt-Halbstünder, der auf der Berlinale Premiere feierte, und die CD erschien mit gleich acht verschiedenen Covers. Diesmal nun gab es vorab ein ulkig paranoides, retrofuturistisches Video zur Single „Reflektor“ von Anton Corbijn, in dem die gehetzte und mit Pappköpfen maskierte Band eine Art Ufo-Erscheinung in Form einer riesigen Discokugel hat. Auf dunklen Waldstraßen stehen Männchen aus Spiegelmosaiken herum, und schließlich trägt die Band noch einen Sarg in diesem Discokugeldesign durch die Gegend. Darüber hinaus startete man eine kleine analog-virale Guerilla-Kunstaktion. Graffiti-Künstler malten das Reflektor-Logo in verschiedenen Städten der Welt auf Straßen und Wände, anonym und ohne Hinweise auf Facebook oder Twitter.

„Es hat uns immer gutgetan, etwas verschlossen und geheimnisvoll zu sein“, erklärt Richard Parry. „Wir wollten die Welt nicht übersättigen wie in der sonstigen Celebrity-Kultur bei „The X Factor“ oder „America’s Got Talent“. Uns hat die wachsende Popularität ermöglicht, weiterhin Kunst zu machen.“ Statt einer großen Plattenfirma haben Arcade Fire ein Major-Management in Gestalt von Scott Rodgers, der auch Paul McCartney und Björk vertritt. Ein halbstündiges, im Anschluss an „Saturday Night Live“ ausgestrahltes NBC-Special, in dem Bono, Ben Stiller und James Franco auftraten, muss man auch nicht als Understatement beschreiben. „Als Band will man natürlich Alben verkaufen“, konstatiert Parry nüchtern. „Man kann jetzt auch nicht mehr am Telefon mit einem Journalisten quatschen, als wär es der Typ von nebenan“, hört man ihn grinsen. „Wir nehmen uns als Künstler ernst. Es ist toll, dass wir uns jetzt nicht nur mehr Experimente leisten, und auch, dass diese Experimente schiefgehen können.“

So habe man längere Zeit „in diesem Schloss auf Jamaika“ gearbeitet, um schließlich doch das meiste davon zu verwerfen. „Aber der Prozess war wichtig. Der entscheidende Job ist es, ästhetisch stimmig und aufregend zu sein, ein gewisses Ethos zu bewahren. Oder eben „, da lacht er ein bisschen verlegen, „cool zu sein.“ Butler sagt: „Manchmal denke ich, wir haben fast zu viel Kontrolle über die künstlerischen Projekte. Wir segnen tatsächlich noch jedes Foto selbst ab und wünschen uns manchmal: Oh Gott, könnte uns nicht jemand sagen, was wir tun sollen? Jeder Albumtitel hätte eigentlich auch immer der Name der Band sein können. Mit jedem neuen Album stehen wir wieder da: Okay, Leute, das ist jetzt die Band – fast als würden wir gerade erst anfangen.“

Tatsächlich wirkt der Schritt zum neuen Album, eine gut 75-minütige Doppel-CD mit etlichen Sechs-bis Siebenminütern, größer als je zuvor. Zu den „Suburbs“-Aromen hatte sich 2010 zwar schon die eine oder andere Anleihe bei Giorgio Moroder gefügt. Doch diesmal erzählt Parry von der Bewunderung für Fela Kuti oder amtliche Tanzbands aus der prädigitalen Siebziger-Disco. Er berichtet von der Freude, wirre elektronische Sounds, explodierende Verstärker und schräge Pedal-Manipulationen aufzunehmen. Schließlich hat sich die Band James „LCD Soundsystem“ Murphy ins Studio geholt.“Wir haben schon im Studio gescherzt, dass jetzt alles, was hier nach Disco klingt, James in die Schuhe geschoben wird“, schnaubt Butler, nicht nur amüsiert. „Er hat zwei Songs gemixt, von denen einer weniger als alle Songs des Albums nach ihm klingt. Es war eher so: Wir fanden zum Beispiel den Song ‚Nighttime‘ sehr gelungen. Régine, die eine große Tänzerin ist, meinte:’Spinnt ihr? Dazu kann man doch nicht tanzen.‘ Und da hat James dann eben geholfen.“ Tim Kingsbury meint: „Er hat als Bandmusiker vielleicht einen anderen Zugang als ‚Suburbs‘-Produzent Markus Dravs, der auch wieder dabei ist. James brachte einige elektronische Elemente ein und half bei ein paar Nummern, den Groove zu finden. Mit LCD war er aber bei aller Phatheit eher ein Minimalist, der sich zum Durcheinander vorarbeitet. Wir dagegen gehen vom Durcheinander aus. Er hat geholfen, das ein bisschen auszudünnen.“

Butler wiederum erklärt den Weg in die Disco als ziemlich selbstverständlich, der längst über eine spezifisch kanadische oder gar Montrealer Szenerie hinausgeht. „Montreal wirkt wie ein enormer melting pot. In Texas waren die Communities doch sehr für sich. Aber hier treffen Hipster, Nigerianer, Polen und Amerikaner sich mit den Québécois im Alltag oder beim Ausgehen. Die meisten Leute, mit denen ich Basketball spiele, kommen aus Haiti oder Südafrika“, sagt der ehemalige Schul-Basketballheld Butler, der gelegentlich Benefiz-Spiele zwischen Musikern und Profis organisiert. „Nicht umsonst haben wir die Warm-up-Shows in dieser Latino-Disco gespielt. Wenn wir ausgehen, landen wir eher in einem afrikanischen als einem Indierock-Club. Der Vibe der Stadt ist ansonsten sehr künstlerisch. Grimes und ihr Label Arbutus Records, Godspeed und wir könnten ja musikalisch nicht weiter entfernt sein. Dennoch haben alle etwas sehr Montrealhaftes an sich.“

Einen weiteren Anstoß für den musikalischen Stimmungswechsel gab eine Reise nach Haiti, woher Régine Chassagnes Eltern in den Sechzigern vor dem Despoten François „Papa Doc“ Duvalier und seiner Killermiliz nach Montreal geflohen waren. Schon auf „Funeral“ ging es -im Song „Haiti“ – um Chassagnes familiäre Wurzeln, und nach dem schweren Erdbeben 2010 engagierte sich die Band stark in der Hilfsorganisation Partners in Health. Zusammen mit der haitianischen Band RAM, mit der sie auch schon in den USA tourten, spielten sie zwei Auftritte in Haiti: einen in der Hauptstadt Port-au-Prince, einen im Landesinneren, wo auch die Partnersin-Health-Zentrale steht. „Es waren vielleicht 2.000 Leute da“, erinnert sich Kingsbury, „wir waren die Vorband, aber ich habe vermutlich niemals einen besseren Vibe auf einem Konzert gespürt.“ Butler wiederum weist darauf hin, dass die haitianische Inspiration keine touristische oder musikethnologische Idee wie bei David Byrne sei: „Meine Frau ist Haitianerin, im April wurde unser Sohn geboren, der also Halbhaitianer ist -Haiti ist“, sagt der Texaner mit bemerkenswerter Deutlichkeit, „unsere Kultur.“

Am klarsten verweist das zweiteilige „Here Comes The Nighttime“ auf diese Reise, mit seinen rappelnden Global-Beats eins der zentralen Stücke des Albums. Der Text steuert beinahe programmatisch auf den neuen musikalischen Schwerpunkt zu: „Es geht los in den Beinen, dann in den Kopf, und wenn du es nicht spürst, sind deine Glieder tot.““Nighttime“ handelt vom Glück des Rhythmus und seiner Bedrohlichkeit, man hört von predigenden Missionaren und verschlossenen Grenzen, und die Musik verschiebt sich unter Voodoo-Getrommel und den theatralischen Stimmen Butlers und Chassagnes von aufgekratzt zu düster, von dröhnenden Bässen zu kinderliedhaften melodischen Einschüben:“Wenn es im Himmel keine Musik gibt -wozu ist er dann da?“

I n Port-au-Prince gibt es in der Nacht keine Elektrizität auf den Straßen“, erzählt Butler. „Abends entsteht eine verrückte Energie, weil alle versuchen, vor dem Sonnenuntergang nach Hause zu kommen. Es ist zugleich furchteinflößend, aufregend und lustig, und man sieht dort überall diese Missionars-Rudel mit den gleichen T-Shirts herumlaufen: Weiße, die den Leuten was von Gott erzählen wollen.“

Auf das musikalisch-transzendente Motiv spielt auch das Cover an, das Auguste Rodins Skulptur „Orpheus und Eurydike“ zeigt, denen auch je ein Titel des Albums gewidmet ist. Tatsächlich, so Butler, beruhe das Album stark auf Marcel Camus‘ bra-

silianischer Filmvariante „Orfeu Negro“ von 1959, die mit begeisterter Geste die Handlung in den Karneval verlegt. Der ehemalige Theologiestudent Butler war tief beeindruckt vom karibischen Karneval und seinen Voodoo-Unterströmungen. „Das wirkt auf westliche Betrachter, als seien die auf Drogen, aber mit dieser Spring-Break-Sauf-und-Titten-Orgie, die etwa in New Orleans als Karneval läuft, hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt er. „Man spürt vielmehr eine eindrucksvolle Spiritualität, die mit dem afrikanischen Ursprung zu tun hat, und jede Zeremonie hat ihren eigenen Rhythmus. Für die in die Sklaverei verschleppten Afrikaner war Rhythmus die Verbindung zu den Ahnen. Deren Geist reist übers Wasser und kommt durch die Beine über dich, wenn du tanzst. Man versteht in diesem Kontext etwas vom Trauma der Verschleppung, davon, wie man es überlebt, und von der Komplexität der Verhältnisse.“

So lösen diesmal die durchgängig bewegten Beats die Wechselbäder von hymnischer Feier und zweifelnder Angst aus. Ein zentrales Thema, sagt Butler, seien die herrschenden Vorstellungen von Normalität. Arcade Fire singen von schmerzhafter und verletzender Liebe, von schwulen Teenagern -und von der Veränderung menschlicher Beziehungen in der digitalen Welt. „Als jemand, der in seiner High-School-Zeit noch ohne Internet aufwuchs, kann ich die irrsinnige Veränderung klar sehen“, meint Butler. „Ich finde die Geschwindigkeit vor allem interessant, weiß aber auch, dass digitale Strukturen übernommen wurden, um Dinge zu verkaufen.“

Doch schon taucht man wieder in den Strudel der Musik ein: Manche mögen in den Themen und den weitläufigen Refrain-Passagen einen U2-Einfluss erkennen. Und zog nicht auch Bono ins Elektroland, um seine Band voranzubringen? Tatsächlich jedoch hört man deutlicher den Einfluss der Talking Heads, auch wenn Parry gegen den Vorschlag „Fear Of Music“ eher „Remain In Light“ anführt und Butler Byrnes brasilianische Reise. „Im Gespräch mit Bono habe ich interessanterweise bemerkt, dass wir die gleichen Einflüsse haben“, sagt Butler. „Joy Divison, Echo & The Bunnymen, New Order -als hätte ich die Neunziger übersprungen.“ Zu Bonos Weltverbesserungsgeist meint er: „Ich finde es immer gut, jemanden zu hören, der auf der Suche ist. Mir sind Fragen grundsätzlich lieber als Antworten.“ Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Bands besteht in der rückhaltlosen Zeitnähe von Denken und Sound bei Arcade Fire. Ihr Bandmodell arbeitet hochmodern, effektiv, aber jenseits der üblichen Weltkarriere-Logik. Natürlich entzaubert der große Erfolg den beharrlichen Mythos einer weltfernen Indie-Romantik. Ähnlich wie Steve Jobs vereinen Arcade Fire nerdige Findigkeit mit durchaus umsichtigem Unternehmertum.

Die explosive Musikalität wiederum sehnt sich weder nach einem fernen Paradies noch nach nostalgischer Sicherheit. Bei aller Skepis und Grübelei feiern Arcade Fire die Freiheit der Entscheidung und das Glück des Augenblicks. Zum letzten Album schlug ein englischer Kritiker folgende Bandgeschichte in Kurzform vor: „‚Funeral‘: Leute sterben;’Neon Bible‘: ALLE STERBEN!;’Suburbs‘: Aber ehrlich, nicht heute, also macht euch mal locker.“ Jetzt darf man ergänzen: „Reflektor“: dann wird der Arsch schon folgen.

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