Those were the days
Ein Auszug aus Wolfgang Doebelings Reminiszenz „Set Me Free", die in dem Sammelband „THE BOYS ARE BACK IN TOWN" erschienen ist
Jazzratte nannte mich mein Klassenlehrer. Latein, Geschichte, Musik. Jazz als Inbegriff für das Unbotmäßige, Kultur-Zersetzende, Abendland-Gefahrdende. Zulukaffergetrommel schmähte er es, wenn ihn wie so oft der Zorn darob übermannte. Und Ratten waren Schädlinge, übertrugen Seuchen. Mein Aussatz war weithin sichtbar. Haare bis auf die Schultern. Meine Verdorbenheit bis ins Mark hörbar. Die Rolling Stones.
Im Jahr davor hatte besagter Herr Nau ein Tribunal inszeniert, ein Exempel statuiert. Wir Schüler durften unsere Lieblingsplatten zum Musikunterricht mitbringen. Und wurden dafür belobigt und getadelt. Die Schleimer schleppten Verdi-Opern an, die Brandenburgischen Konzerte oder doch wenigstens die Beatles, deren „Yesterday“ mit gönnerhaftem Wohlwollen bewertet wurde. Für einen Schlager, verfügte Nau, sei das so übel nicht. Als die Reihe an mir war, hielt die Klasse den Atem an. Nau war berüchtigt für seine Tobsuchtsanfalle, die sich stets in Schimpfkanonaden entluden, garniert mit der einen oder anderen Ohrfeige, wenn dem Choleriker mal wieder der Gaul durchging. Bei den ersten Tönen von „Satisfaction“ verfinsterte sich seine Miene denn auch bedenklich. Doch anstelle des erwarteten Rappels ließ er uns eine Lehrstunde angedeihen, die durchaus prägen sollte. Der Mann rannte zur Tafel, zog eilig Notenlinien und transponierte Keefs Riff, Micks Melodie und Charlies Swing in eine Partitur-Skizze, samt Notenwerten und Taktzeichen. Dann, das letzte „I can’t get no“ war kaum verklungen, nahm Nau den Zeigestock und bewies uns mit hochrotem Kopf und vor Erregung bebender Stimme ein für allemal den Unwert dieses „schändlichen Krachs“, dessen Ursprung er treffsicher im „amerikanischen Busch“ ortete. Und der Text sei „eine an Schamlosigkeit nicht zu überbietende Sauerei“, auch wenn man ihn kaum verstehen könne, weil der „so genannte Sänger“ brülle wie ein „brünstiger Gorilla“, Doebeling setzen, sechs. Und die Klasse applaudierte ihm mehrheitlich. All die Verdi-Pfeifen, Tschaikowsky-Trantüten und Beatles-Streber ergriffen Partei für den Anstaltstyrannen und höhnten in meine Richtung. Da siehst du es, feixten sie, die Stones sind blöde Affen.
Stuttgart war trist. Tiefste Provinz. Nachts fand man Zuflucht im Äther. Auf der Mittelwelle, 208 Meter. Radio Luxemburg. Und vor allem bei den Pirate Stations, deren Empfang zu wünschen übrigließ und doch zahllose Wünsche erfüllte. Radio Caroline, Radio England, Radio London. Was der Transistor hörbar machte, war unsere Utopie. Die in einem fernen Pop-Kosmos Wirklichkeit war. Die Antenne als wichtigstes Utensil im Überlebenskampf auf feindlichem Terrain.
Im Kaufhaus Horten wurde ich hinterrücks mit einem Krückstock niedergestreckt Der Täter, ein alter, verbitterter Mann, hätte sicher weiter auf mich eingedroschen, wenn sich nicht einer der schaulustigen Gaffer meiner erbarmt und dem Amok-Rentner Paroli geboten hätte. Zum Unmut der Umstehenden. Denn der Züchtiger, ein fraglos verdienter Volksgenosse, hatte zündende Argumente. „In Deutschland“, dröhnte er, „tragen Jungen keine Mädchenfrisuren.“ Und man gehe rechts. In Deutschland. Sollte ich mich links herum gegen den Kundenstrom gestemmt haben, fahrlässig, mit Fransen über den Augen und Ohren, so ganz und gar undeutsch, fragte ich mich benommen. Zwei Verkäuferinnen halfen mir auf die Beine und ins Freie. „Hier“, drückte mir die ältere der beiden gütig lächelnd eine Mark in die Hand, „für den Friseur.“
Partner der Welt. Mit diesem Slogan warben die Stadtväter für die Kapitale der Schwaben. Sehr sinnig, auf hintersinnige Art. Die Welt fand ja fürwahr anderswo statt. Wenn ich des Morgens den Unterricht absaß, übermüdet nach popmusikalischen Abenteuern auf fernen Piratenschiffen und drei Stunden
Schlaf, mutmaßte Herr Nau, ich hätte mir die Nacht in einem Jazzkeller um die Ohren geschlagen. „Bei den Kaffern.“ Doch gab es einen solchen Ort nicht, leider.
Wir hatten nur die – Mausefalle. Ein halbseidenes Etablissement in der Altstadt, wo sich Altrocker und GIs mit ihren Miezen ein Stelldichein gaben. Und Italiener. Nicht die Heimwehsorte mit einer Träne im Knopfloch, auf die Tina und Marina in Napoli warteten, sondern der ölige, verschlagene Schlag, der mit Klappmessern gestikulierte. Die Mausefalle war eine Diskothek, veranstaltete aber alle paar Wochen Live-Musik. Meine ersten Konzerte.
Das allererste war so erregend wie kurz. Joey Dee And The Starliters. Scharfe Combo. Wildes Twist-Treiben im Schummerlicht, in den Kleidern lange Schlitze, die Nylons mit Naht. Der Türsteher ließ mich für ein Capri-Eis von der Garderobe aus zehn Minuten zusehen und zuhören. Einlass ab 18. Ich war 14, sah aus wie 13. Keine Chance.
Ein Jahr später muss ich bedeutend älter ausgesehen haben. Slophosen, Cuban Boots, die Haare weit überm Kragen. Jedenfalls durfte ich rein. Teuer war’s. Fünf Mark. Die Cola nochmal einsfünfzig. Aber dafür erlebte ich die Swinging Blue Jeans. Fetzig und fabulös. Und die Pretty Things. Fahrig, fusselig, torpid. Eine gigantische Enttäuschung, auch wenn sie irrsinnig lange spielten. Beinahe eine dreiviertel Stunde. Über die lokalen Bands, die hier oder bei Schulfeten und Jugendhaus-Schwofs regelmäßig ihre Gitarren einstöpselten, breiten wir besser den Mantel des Schweigens. Nach München, in den Zirkus Krone. Die Beatles, immerhin. Und tausend kreischende, kleine Mädchen. Fesch sahen sie aus, die Pilzköpfe, in ihren adretten Anzügen. Was sie indes spielten, ging im Geschrei der Girlies unter. Egal, war eh Kindergarten.
Gemessen an den Stones war überhaupt alles Kinderkram. Essen, Grugahalle. Die Fans ekstatisch, die Freunde und Helfer gut gerüstet Hundertschaften. Beritten. Knüppel aus dem Sack. Wasserwerfer. Wer nicht reinkam, klopfte draußen Rhythm für die Blues. Drinnen walteten andere Kräfte, die jedoch auch Spuren hinterließen. Delirium tremens. Ein Typ in der Reihe vor mir hatte seine Boots ausgezogen und sich die Absätze abwechselnd im Watts-Wyman-Takt auf den Schädel gekloppt, so heftig, dass er post festum groggy zwischen den Klappstühlen hing. Ausgeknockt, mit verdrehten Augen und seltsam seligem Grinsen.
Ich war ähnlich benommen und überwältigt, definitiv mehr staunendes Objekt als Herr der Lage. Das sollte sich im Jahr darauf ändern. 1966! Im August war es in London zu einem Quantensprung in Sachen Sex gekommen, mit Natürlich hatte ich eins ergattert, ich war ja auf Draht Die Vorfreude blieb ediche Wochen am Köcheln. Am Gig-Tag zogen mein Freund Peter und ich schon nachmittags los, wollten die Kinks treffen, bei ihrer Ankunft, hinter der Bühne, irgendwo, möglichst privatim.
Das Equipment wurde über eine Rampe in die Halle gekarrt, wir quetschten uns dazwischen und drangen so bis zur Bühne vor, von wo wir dem hektischen Treiben ein paar Stunden lang beiwohnten. Als gehörten wir dazu. Keiner fragte nach Credentials. Guitar Cases im Dutzend, Mick Avorys Schießbude, Soundcheck. Dann, eine Stunde vor Konzertbeginn eine ernüchternde Durchsage. Die Halle werde nun geräumt. Wer Tickets habe, möge sich draußen anstellen. Tickets hatten wir schon, doch Platzkarten waren das nicht Die ersten würden die besten Plätze bekommen. Wir waren zwar die ersten, Maylies aus Stockholm. Okay, Bill Clinton würde das nicht unter Sex subsumieren, aber es war toll, feite mich gegen die Beleidigungen des Alltags. Fear and loathing in Stuttgart, das schien vorüber. Von einer Souveränität, die ohne ständige Bestätigung auskommt, war ich freilich meilenweit entfernt. Mein juveniler Hochmut brauchte Futter. Sollte er kriegen und nicht zu knapp. The Kinks hatten sich angesagt für den Winter. Meine fünfte Lieblingsgruppe, nach den Stones, Walker Brothers, Beach Boys und Byrds. Großes Konzert auf dem Killesberg, im Vorprogramm The Creation, David Garrick und das Hazy Osterwald Sextett 3000 Tickets zu 12 Mark, weg wie nix.
BNatürlich hatte ich eins ergattert, ich war ja auf Draht. Die Vorfreude blieb etliche Wochen am Köcheln. Am Gig-Tag zogen mein Freund Peter und ich schon nachmittags los, wollten die kinks treffen, bei ihrer Ankunft, hinter der Bühne, irgendwo, möglichst privatim.
Das Equipment wurde über eine Rampe in die Halle gekarrt, wir quetschten uns dazwischen und drangen so bis zur Bühne vor, wo wir dem hektischen Treiben ein paar STunden lang beiwohnten. Als gehörten wir dazu. Keiner fragte nach Credentials. Guitar Cases im Dutzend, Mick Avorys Schießbude, SOundcheck. Dann, eine Stunde vor Konzertbeginn eine ernüchternde Durchsage.Die Halle werde nun geräumt. Wer Tickets habe, möge sich draußen anstellen. Tickets hatten wir schon, doch Platzkarten waren das nicht. Die ersten würden die besten Plätze bekommen. Wir waren zwar die ersten würden aber gleich, durch den Hinterausgang hinauskomplimentiert, die letzten sein. Dammit.
Ich nahm mir eine Setlist von der Bühne, drehte sie um, kritzelte mit Kugelschreiber „Management Kinks“ drauf und klebte sie mit Gaffa-Tape auf den besten Stuhl des Saals. Erste Reihe, Mitte. Zwei Meter vor der Bühne. Peter tat es mir nach. „Management Creation“ stand auf seinem Zettel. Dann kamen die Ordner.
Draußen herrschte heilloses Gedränge. Alle älter als ich, alle größer, die Ellenbogen auf Höhe meiner Augen. Und alle drückten sie in Richtung dieses einen Tors. Ich verlor einen Schuh, musste die Stampede vorbeilassen.
Zehn Minuten vor Konzertbeginn waren dann die meisten drin, nur Peter und ich nicht. Wir suchten meinen Schuh, der sich wie von Geisterhand geworfen weit von jenem Ort entfernt hatte, an dem er mir abhanden gekommen war. Es war dunkel, nass und kalt Als wir ihn endlich gefunden hatten, ein verklumptes Stück schwarzes Leder, ein ex-Schuh, war unsere Hochstimmung längst umgeschlagen in schicksalsergebene Betrübnis. Den Tränen nahe, stolperten wir in die Halle, um uns herum Tosen und Toben, sämtliche Plätze besetzt Nur zwei nicht. Erste Reihe, Mitte. Wir konnten unser Glück nicht so recht fassen, doch auf dem VCfeg zu den Logenplätzen wandelte sich unser Gemütszustand so rasend, dass mir davon schwindelig wurde. Von Defätismus zur Glückseligkeit im Bruchteil einer Sekunde. Das war Rekord, jedenfalls in meinem Leben. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Abend mehr genoss, das Staunen und so etwas wie Anerkennung in den Augen der Umsitzenden. Die waren im Schnitt immerhin sechs, sieben Jahre älter. Twens! Oder die Kinks, die noch besser waren als erhofft. Dandies, in blauen Samt-Jackets, engen Hosen und London im Blut The Creation waren cool, David Garrick warf sein verschwitztes Rüschenhemd ins Publikum, wo hundert Hände daran zerrten, bis es in ebensoviele Teile zerlegt war. Ein Ärmelstück hing ein paar Monate als Trophäe an der Wand meines Zimmers. Bis ich das Ding als kindisch klassifizierte und wegwarf. Da schrieben wir bereits 1967. Stuttgart war immer noch tot, hatte aber viel von seinem Schrecken eingebüßt.