Thorsten Nagelschmidt – „Eine Stimme, die aufputscht und beruhigt“

Ich bin ein Kind der Achtziger, sozialisiert mit dreieinhalb Minuten langen Songs von Talk Talk, Cock Robin und den Pet Shop Boys, die ich heute noch liebe. Dürstend nach Subversion, Zersetzung und Distinktion, verbrachte ich den Großteil der 90er Jahre in den Katakomben von Politpunk und Hardcore, doch im Grunde meines Herzens bin ich immer Popper geblieben.

Als 1998 „Gran Turismo“ von den Cardigans erschien, war das endlich wieder radiokompatible Musik, die ich ohne schlechtes Gewissen gut finden konnte, und die darüberhinaus sogar irgendwie aufregend, geheimnisvoll und frisch klang. Zwar hatte mir schon der Sixties-Pop von „Rise & Shine“ und „Sick & Tired“ gut gefallen, aber so gleichermaßen düster und sexy, so seltsam verschroben und trotzdem eingängig wie auf „Gran Turismo“ hatte ich Popmusik lange nicht gehört. Was nicht nur an den tollen Songs, sondern vor allem der kühlen und sehr dogmatischen Produktion lag. Und dann die Outlaw/Highway/Desert-Romantik des „My Favourite Game“-Videos mit den vier verschiedenen Enden. Das war, man verzeihe mir den schlimmen, hier aber nun mal passenden Ausdruck: ganz großes Kino. Dann kam „Long Gone Before Daylight“, klang ganz anders, aber genauso fantastisch. What a Kombination: Peter Svenssons cleveres Songwriting und Nina Perssons feine Lyrik, vorgetragen mit einer Stimme, die einen an Stellen berührt, von denen man gar nichts wusste. Bei dem gehauchten Einzähler von „For What It’s Worth“ bekomme ich jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut, und „03.45 No Sleep“ ist das vielleicht schönste Stück Eskapismus, das jemals auf eine Platte gepresst wurde.

2006 sah ich die Band in Köln. Vor dem Konzert lief ich zielstrebig zum Merchandise-Stand und kaufte mir ein T-Shirt. Das hatte ich seit Jahren nicht gemacht. Die Cardigans haben mich auch mal zu einem Song inspiriert, der wegen dem vorzeitigem Abbruch meiner sowieso nicht beabsichtigten Singer/Songwriter Karriere nie veröffentlicht wurde. Er hieß „Surrogat“ und begann so: „Eine Stimme, die aufputscht und beruhigt – im selben Moment, und hier ist einer, der erkennt, was das bedeutet.“

Nagels aktueller Roman „Was kostet die Welt“ ist im Heyne Verlag erschienen.

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