The Who – Talkin‘ ‚bout Our Generation
Mit "Quadrophenia" blickten THE WHO im Jahr 1973 auf die britische Mod-Jugend der frühen 60er-Jahre zurück. Nun gibt es den "Director's Cut" ihres letzten großen Albums. Pete Townshend und Roger Daltrey erinnern sich.
Pete Townshend
Vorerst gescheitert
Wie der Schöpfer von „Quadrophenia“ in der Mod-Bewegung von 1964 sein Thema fand – und dann seiner Kreation nicht traute . Von Jon Savage
Keine Frage: „Quadrophenia“, am 19. Oktober 1973 veröffentlicht, war eine bemerkenswerte Leistung. Eine der wichtigsten Rockbands der Zeit, auf dem Zenit ihres Könnens, präsentierte einen ambitionierten Songzyklus, der das Mod-Phänomen aufarbeitete – jene Subkultur, die den Who Mitte der Sechziger ihr erstes Publikum beschert hatte. Gleichzeitig war es das Porträt eines desorientierten jungen Mannes, der an den archetypischen Scheideweg kommt: den Schritt von der emotionalen Geborgenheit einer Gruppe zum erwachsenen, individualisierten Ich.
Das Album war durchaus erfolgreich (Platz zwei in England und den USA), erwies sich aufgrund der vertrackten Konstruktion und vielen Soundeffekte zunächst aber als zu sperrig, um es auf die Bühne zu bringen. „Als das Album abgeschlossen war“, so Townshend, „überkam mich dieses schreckliche Gefühl des Scheiterns – weil wir es nicht live umsetzen konnten. Dabei hatte ich das Material eigens geschrieben, um, Tommy‘ (das Who-Album von 1969) zu ersetzen. Erst nach einigen Jahren war ich in der Lage, aus der Distanz zurückzublicken und zu sagen: Eigentlich ist es eine verdammt gelungene Arbeit.“
Im Juni 1996 – bei einem Hyde-Park-Konzert im Rahmen der „Prince’s Trust“-Benefiz-Aktivitäten – wagten sie sich erstmals wieder an die komplizierte Materie, um im Laufe des folgenden Jahres „Quadrophenia“ auf Tourneen in den USA und Europa vorzustellen. Und da inzwischen jedes wichtige Who-Album wiederveröffentlicht worden war, entschloss sich Townshend nun, in sein privates Archiv einzutauchen und „diese außergewöhnliche Phase zwischen, Lifehouse‘ und, Quadrophenia'“ wieder zum Leben zu erwecken. „Ich wusste, dass ich früher oder später meine, Erinnerungen‘ aufarbeiten würde. Und ich dachte mir, es sei eine gute Idee,, Quadrophenia‘ als Testlauf zu benutzen – mich mit meinem Tagebuch zu beschäftigen, mit Fotos, Aufnahmen, Demos, auch mit den Büchern und Tagebüchern anderer Leute. Richie Unterbergers Buch („From Lifehouse To Quadrophenia“) war gerade erschienen, und auch wenn eine Menge Fehler drin stecken, ist es doch ein wunderbar recherchiertes, enthusiastisches Buch. Als man also an mich herantrat und das Projekt vorschlug, dachte ich:, Ich könnte mich da wirklich reinknien.‘ Ich arbeitete dann vier Monate daran – zwei Monate für die Liner Notes, zwei Monate für die Demos., Quadrophenia‘ ist das einzige Who-Projekt, von dem ich noch fast alle Demos habe.“
Das Resultat ist ein 5-CD-Set, das das remasterte Originalalbum enthält, zwei CDs mit unveröffentlichten Demos, eine DVD und einen langen, faszinierenden Essay, den Townshend eigens für das Projekt verfasste. Nach 25 Jahren traf ich ihn zum ersten Mal wieder, diesmal in seinem Haus in Richmond Hill mit einem wundervollen Blick über die Themse. Ich begegnete einem 66-jährigen Mann, der sich als „alt und weise und zufrieden und gelassen“ bezeichnete, ohne dabei auch nur einen Hauch seiner Intelligenz und Scharfzüngigkeit eingebüßt zu haben.
Sie schreiben in den Liner Notes, dass die Idee zum Album schon seit geraumer Zeit in Ihrem Kopf herumschwirrte, dass die Initialzündung aber erst kam, als Sie sich an eine Nacht erinnerten, die die Band unter dem Brighton-Pier verbrachte. Es war die Nacht vom 29. März 1964, nachdem die High Numbers, wie The Who noch hießen, im Aquarium aufgetreten waren. Welche Erinnerungen haben Sie noch an das Konzert?
Es war ein reines Mod-Publikum, überwiegend Jungs – und überwiegend wohl Jungs von auswärts. Ich glaube nicht, dass es in Brighton damals eine nennenswerte Mod-Szene gab. Die Leute kamen halt aus London, in der Regel auf ihren Scootern, und wir glaubten natürlich, dass sie nicht zuletzt wegen uns beim Konzert waren, aber vermutlich wären sie ohnehin gekommen.
Wir hatten das Gefühl, in ihre Welt einzudringen – so wie wir es kurz zuvor schon im „Scene“-Club erlebt hatten. Man erlaubte uns, hier aufzutreten – und dieses Gefühl war es, denke ich, das der Ausgangspunkt meiner Story war. In den frühen Tagen unserer Karriere versuchte ich mir klar zu werden, für wen ich eigentlich die Songs schrieb. Zeitweise glaubte ich, ich schriebe sie für Roger, der ein R&B-Sexsymbol sein wollte – oder für Keith und John, die sich aber nie so recht entscheiden konnten, ob sie lieber die Beatles oder die Beach Boys sein wollten, oder sogar Jan & Dean. Und ich fragte mich, ob ich nicht selbst etwas hatte, das ich artikulieren wollte – obwohl in meinem Kopf eigentlich alles durcheinanderlief.
Vor diesen Leuten zu stehen … die auch einen ganz eigenen Stil beim Tanzen hatten und ihre ganze eigene Musik hörten, die fast schon so etwas wie Swing war, geradezu Jazz-Swing, auch wenn es natürlich Motown war – wobei der R&B aus New Orleans durchaus einen vergleichbaren Swing hatte. Keith jedenfalls konnte das nicht spielen, Keith konnte nicht swingen.
Irgendwann hörten die Jungs mit dem Tanzen auf … Während die Mod-Girls weitertanzten, fast auf Tuchfühlung, und sich dabei tief in die Augen schauten. Es war fast schon ein lesbisches Ding, jedenfalls hochgradig erotisch – diese jungenhaften Mädchen, die eng zusammentanzten und die Jungs ignorierten, aber am Ende des Abends nichts dagegen hatten, von einem Jungen mit Scooter abgeschleppt zu werden … Während die Mädchen also weitertanzten, kamen die Jungs zur Bühne vor – und wir hatten das Gefühl, dass wir plötzlich auf etwas gestoßen waren, dass wir toleriert wurden, akzeptiert wurden – und man uns die offizielle Erlaubnis gab, auf dieser Bühne zu stehen. „Wir sind hier die Stars, aber ihr dürft uns für eine Weile unterhalten – vorausgesetzt, ihr benehmt euch vernünftig.“ Das war die Stimmung, die in der Luft lag.
Aus welchen Gründen auch immer war ich mit einigen meiner Art-School-Freunde nach Brighton gefahren – Nick Bartlett, meinem Kumpel Barney (Richard Barnes, der spätere Who-Biograf), auch ein paar Mädchen. Wir entschlossen uns, nicht im Van zurück nach London zu fahren – den damals Roger zu steuern pflegte, was ziemlich furchtbar war -, sondern den Zug zu nehmen. Doch dummerweise war der letzte Zug schon abgefahren.
Wir spazierten also zum Pier runter und stellten fest, dass darunter all die Jungs in ihren Anoraks hockten. Sie rauchten zwar kein Gras, aber waren mit „Purple Hearts“ gut eingedeckt und quasselten um die Wette. Wir setzten uns dazu, schluckten auch ein paar von den Dingern – jedenfalls genug, um die Nacht durchzuhalten und morgens den Frühzug zu nehmen. Die Nacht war nicht mal kalt, aber definitiv nass. Gelegentlich wurde einer der Jungs von einer Welle erwischt, aber sie lachten nur und machten sich nichts draus.
So weit ich mich erinnere, wurden die Konzerte im Aquarium von dem Burschen gebucht, der auch den Scene-Club managte. Er wanderte in den Knast, weil vor dem Scene immer die Strichjungen standen – obwohl er damit gar nichts zu tun hatte. Zwei oder drei von den jungen Mods waren tatsächlich Stricher. Sie waren schwul, konnten damit aber gut umgehen. Das Geld investierten sie in Drogen. Sie galten als völlig harmlos, aber auch als unglaublich cool: Man musste schon Mut haben, um sich als Stricher auf die Straße zu stellen. Ich sprach mit anderen Leuten über dieses Phänomen – Rod Stewart zum Beispiel, von dem ich immer vermutete, dass er schwul sei, was aber nicht zutraf. Oder David Bowie, dem das völlig schnurz war. Oder Marc Bolan, der – glaube ich – zeitweise auch als Strichjunge arbeitete, aber nie mit der Wahrheit rausrückte.
Wann sind Sie erstmals einem Mod begegnet?
Erstaunlicherweise in Roger Daltreys Familie. Ich glaube, er hatte eine ältere und eine jüngere Schwester, und mit der jüngeren war ich mal kurz liiert. Gillian, die ältere, hatte einen Freund, der einer der ersten Mods gewesen sein muss. Er hatte einen Scooter und eine PVC-Jacke. Die jüngere Schwester, die ich rumzukriegen versuchte, sagte mir daraufhin, ich solle mir doch auch eine Jacke und einen Scooter zulegen. Für den Scooter reichte es nicht, aber die PVC-Jacke hab ich mir tatsächlich besorgt.
In den Liner Notes schreiben Sie, dass die Karriere der Who von diversen Wundern begleitet wurde. War diese Begegnung mit den Mods eines davon?
Ich denke schon. In gewisser Weise war ich ja darauf vorbereitet: Ich hatte in den letzten Tagen auf der Kunsthochschule bemerkenswerte Leute kennengelernt, von denen einige den Weg der frühen Who begleiteten. Durch meinen Vater hatte ich auch Einblicke in die Musikszene, insofern fühlte ich mich in der Lage, die Ereignisse richtig einzuordnen.
Ich tat mich aber schwer, dieses „Wunder“ den Jungs in der Band zu vermitteln. Ich hatte den Eindruck, sie wollten lieber etwas Greifbares, Handfestes, sie wollten berühmt sein und Hits haben, sie wollten all die Dinge, die wir heute haben: beeindruckende Häuser und schöne Frauen und Enkelkinder und viel Geld und Autos und die Möglichkeit, nur dann zu arbeiten, wenn man Lust hat.
Ich wollte Kunst machen, ich war wirklich im Brian-Eno-Land. Und in dieser Situation, in der ich meine Stimme als Künstler zu finden versuchte, trafen die Mods voll auf die Zwölf. Sie gaben mir das Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein. Als ich damals mit meiner PVC-Jacke nach Hause ging, fragte ich mich, wie ich da wohl reinpassen würde, aber als wir dann eine, Mod-Band‘ waren, eine erfolgreiche Mod-Band, hatte ich das Gefühl, meine Position, meine Funktion gefunden zu haben.
Songs wie „Substitute“ und „I’m A Boy“ gehörten zu Ihrer Identifikation?
Absolut. Das Thema der sexuellen Orientierung war ungemein wichtig. Man sollte sich vor Augen halten, dass das noch vor der großen sexuellen Liberalisierung war, die wir heute kennen. Man beschäftigte sich damals noch nicht mit den Problemen der Kinder, die im Krieg oder in den Nachkriegsjahren geboren wurden. Es war damals alles in der Schwebe, es gab keine Fixpunkte. Ich erinnere mich an Jungs, die zum Kriegsende vier, fünf Jahre alt waren – und die sich später hartnäckig weigerten, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Man wusste genau, dass sie etwas Schreckliches erlebt haben mussten, vielleicht war es auch nur das Gefühl, von den Eltern im Stich gelassen worden zu sein. Was immer es war – sie hatten Narben.
Was mich an „Quadrophenia“ immer faszinierte, war die Tatsache, dass das Album das Jahr 1965 behandelt: Es war kaum zu glauben, dass diese Ereignisse erst acht Jahre zurücklagen.
Es fühlte sich länger an, in der Tat. Die Geschichte spielt eigentlich auch schon im Jahr 1964, um genau zu sein. Vor allem in „Cut My Hair“ spürt man den Zwiespalt, in dem der Typ aufgerieben wird: Wenn du jung bist, ziehst du irgendwann bei deinen Eltern aus und schließt dich Gleichgesinnten an, und dann bleibst du entweder im diesem Umfeld oder definierst dich als Individuum. Und Jimmy beginnt, sich von den Mods zu distanzieren. Was nur möglich ist, weil die Mod-Bewegung in sich zusammenbricht. Er fühlt sich verlassen und verraten. Am Ende leidet Jimmy wahrscheinlich an einer biochemischen Störung: Er ist manisch-depressiv. Wenn „Tommy“ den Autismus thematisierte, dann handelt „Quadrophenia“ von manischer Depression.
Roger Daltrey
Hinter blauen Augen
Er war ein Rocker mit Locken – und am Anfang dietreibende Kraft der Who. Ohne Daltrey hätte es die Band nicht lange gegeben. Von Mark Paytress
Oktober 1973. Auf der Bühne der Shepperton Filmstudios geht die große Mod-Keilerei in die nächste Runde – auch wenn die berüchtigten Schlägereien in den englischen Seebädern bereits ein Jahrzehnt zurückliegen. „Wir sind gerade bei den Proben, um mit, Quadrophenia‘ auf Tour zu gehen“, erinnert sich Daltrey. „Wir arbeiten uns bis zum vorletzten Song vor, doch plötzlich sehe ich, wie die Filmcrew untätig auf ihren Ärschen sitzt. Ich sage:, Was zum Teufel soll das denn? Ihr sollt den Scheiß doch aufnehmen!‘ In dem Moment kommt Pete zu mir rüber, offensichtlich mächtig angefressen, und fängt an, mir mit dem Finger in die Brust zu piksen., Tu gefälligst das, was man dir sagt.‘ Ich sehe, wie unsere Roadcrew, die meine Wutanfälle zur Genüge kennt, aufspringt und sich in Stellung bringt, weil sie davon ausgeht, dass ich Pete an die Gurgel gehen werde. Tatsächlich aber ist es Pete, der mich anspuckt und zu den Jungs sagt:, Kümmert euch nicht um den kleinen Wichser. Ich bring ihn jetzt auf der Stelle um!‘ Er nimmt seine Gitarre und will sie mir über den Schädel ziehen, doch sie trifft nur meine Schulter und geht dann auf dem Boden zu Bruch. Er versucht es mit ein paar Hieben, aber er ist so außer sich vor Wut, dass er nur eine Lachnummer abgibt. Als er wieder auf mich losgehen will, kommt mir sein Kinn so perfekt vor die Fäuste, dass ich ihm einen klassischen Aufwärtshaken verpasse.“
Townshend verliert das Bewusstsein und muss ins Krankenhaus eingeliefert werden. „Es tat mir in der Seele leid, Pete schlagen zu müssen“, sagt Daltrey heute, „aber ich wusste nicht, wie ich ihn sonst hätte aufhalten sollen.“
1973 zählten The Who bereits zur Rock-Aristokratie: Man besaß gediegene Landsitze, frönte dem Luxus und kultivierte hochtrabende kreative Träume. Nichtsdestotrotz war Daltreys Brachial-Aktion eine willkommene Erinnerung, dass die Band ursprünglich auf den wenig gastlichen Straßen von Shepherd’s Bush zu Hause war. Nicht dass Townshend diese Erinnerung gebraucht hätte: Seit Monaten schon arbeitete er an einem Projekt, das er seine „Mod-Oper“ nannte – eine Hommage an jene Subkultur, die ihre spirituelle Heimat geworden war. Gleichzeitig aber sollte das Projekt auch eine neue Phase ihrer Karriere einläuten: Auf dem Höhepunkt des grellen Glam-Rock-Spektakels wollte Townshend mit seinem Song-Zyklus nicht nur die Mechanismen innerhalb der Band beleuchten, sondern auch ein paar schlaue Gedanken zum Wesen der Jugendkultur artikulieren.
Im Lauf ihrer langen und konfrontationsfreudigen Geschichte war die Aggressivität immer das Pulverfass gewesen, das jederzeit zu explodieren drohte. Mitte der Sechziger, auf dem Höhepunkt ihrer Mod-Inkarnation, teilte Townshend voller Stolz mit, dass „The Who eine Band mit eingebautem Hass“ seien. Natürlich war die Aussage Teil ihres kunstvoll aufgebauten Mythos, doch völlig aus der Luft gegriffen war sie nicht. Es war sicherlich kein Zufall, dass Songs wie „Anyway Anyhow Anywhere“ und „My Generation“, die der Schlachtruf jugendlicher Zerstörungswut wurden, von einer Band stammten, die untereinander nur mit gefletschten Zähnen und geballten Fäusten zu kommunizieren pflegte.
Im September 1965 fand diese Phase ein abruptes Ende, als Daltrey kurzerhand an die Luft gesetzt wurde. Der Sänger hatte wieder einmal seine Fäuste fliegen lassen – diesmal in Richtung Keith Moon, dessen unkontrollierter Pillen-Konsum Daltrey ein Dorn im Auge war -, und selbst als er nach einer Denkpause wieder in die Band aufgenommen wurde, geschah das nur unter der strikten Auflage, sein Mütchen künftig gefälligst zu kühlen. Er schlüpfte damals in die Persona des „Peaceful Perce“ (in Anspielung auf die Percy Road in Shepherd’s Bush, wo er als Kind aufgewachsen war), fand sich plötzlich in blumigen Kleidern wieder und musste – im Falsett! – Townshends neue Songs singen. (Am deprimierendsten muss für ihn „I’m A Boy“ gewesen sein, in dem Townshend die Frage des sexuellen Selbstverständnisses thematisierte.) Der Who-Frontmann, einst Inbegriff animalischer Aggressivität, war kurzerhand kastriert worden.
Erst als er die Gelegenheit erhielt, sich als „Tommy“ neu zu erfinden, fand Daltrey wirklich zur Gruppe zurück. Auch wenn es Townshends Idee war, Pop mit opernhaftem Gestus zu kombinieren, war es doch Daltrey, der den Charakter mit Leben füllte und überall mit diesem „deaf, dumb and blind kid“ identifiziert wurde. Als der flippernde „Tommy“ plötzlich in den Stadien der Welt Erfolge feierte, erwiesen sich die Reminiszenzen an die frühen Mod-Tage schnell als unerwünschter Ballast: Daltrey mutierte über Nacht zum braungebrannten Rock-Idol, das gottgleich seine goldenen Locken schüttelte.
Im Frühjahr 1973 konnte er zudem erstaunliche Erfolge mit seiner Solo-Karriere verbuchen – nicht zuletzt befördert durch die Qualitäten eines damals noch unbekannten Songschreibers namens Leo Sayer. „Giving It All Away“ schaffte es in den britischen Charts immerhin in die Top 5 und war damit erfolgreicher als alle Singles, die The Who seit „Pinball Wizard“ (1969) veröffentlicht hatten.
Trotzdem: Die Vemutung, dass hinter den internen Querelen zur Zeit von „Quadrophenia“ letztlich ein Kampf um die Ausrichtung der Band gestanden habe, wird heute von Daltrey umgehend vom Tisch gewischt. „Nee, hatte damit nicht die Bohne zu tun“, sagt er mit der ihm typischen Unverblümtheit. „Es war nur eine dumme kleine Prügelei, die danach zu einem weltbewegenden Ereignis aufgebauscht wurde. Ich konnte mich mit Jimmy durchaus identifizieren. Es geht nun mal um die Phase der jugendlichen Verunsicherung, die wir alle durchlaufen. Es heißt ja, dass, Quadrophenia‘ von uns vieren inspiriert worden sei, von den vier Charakteren in der Band, auch von der Mod-Bewegung, die uns geformt hatte, aber wie bei allen Sachen, die Pete schreibt, vollzog sich meine Reaktion mehr auf der musikalischen Ebene – und die Musik war schlicht und einfach fabelhaft.“
Eines lässt sich aber dennoch festhalten: Ohne Roger Daltrey wäre „Quadrophenia“ nie zustande gekommen. Er war, wie er selbst sagt, „so etwas wie der Fels in der Brandung, das Fundament, auf dem die Band stand. Irgendeiner musste die Rolle ja übernehmen. Alle waren Alkoholiker. Moon war der Schlimmste: Er schluckte alles, was man ihm in die Hand drückte. Pete genauso. Und John (Entwistle) war auch nicht viel besser.“ The Who, so Daltrey, hätten nach 1971 keine Zukunft mehr gehabt, wenn er genauso über die Stränge geschlagen hätte wie seine Kollegen. Richard Barnes, der auf der Kunsthochschule ein Zimmer mit Townshend teilte, später den Namen „The Who“ vorschlug und 1979 die Mod-Bibel „Mods!“ schrieb, hält sogar diese Prognose noch für überoptimistisch: „In den frühen Jahren stand eigentlich nur eines fest: dass diese Band die nächsten zwei Jahre nicht überleben würde – ganz zu schweigen von fünf Jahrzehnten. Sie waren mit sich selbst einfach nicht im Reinen. Ich weiß, dass Rog denkt, ich sei Petes Sprachrohr, aber trotzdem: The Who ohne Roger? Völlig undenkbar. Es war seine Band. Er fuhr nicht nur ihren Van, sondern war die treibende Kraft, die die Band zusammenhielt.“
„Meine ausschließliche Ambition bestand damals darin, ein Sänger zu werden“, sagt Daltrey selbst. „Das war es, was mich von Anfang an motivierte – in einer Band zu sein. Insofern hatte ich mit meiner Identität nie Probleme, ich musste mir nie den Kopf darüber zerbrechen. Ich wollte immer das machen, was mich antrieb – und das war nun mal Musik.“
Der junge Daltrey, den sein Mitschüler Pete Townshend als „König der ganzen Nachbarschaft“ bezeichnete, war der geborene Draufgänger oder, wie er es selbst ausdrückt, „ein harter Hund, eine harte Nuss“. Er weigert sich, die Selbsteinschätzung weiter zu erläutern, sondern beschränkt sich darauf, die Ursachen seines zwielichtigen Rufes zu erklären: „Ich bin reichlich gehänselt worden, weil ich nun mal etwas kleiner geraten war – und das sind die Jungs, die immer zuerst dran glauben müssen.“ Auf die Frage, wie er das Blatt denn gewendet habe, lacht Daltrey schallend: „Indem ich einen Stuhl in die Hand nahm.“
Daltrey, von allen Who-Mitgliedern am tiefsten in der Arbeiterklasse verwurzelt, schloss sich bald Gangs an („Das ist nun mal das, was man in der Arbeiterklasse macht“) und legte stets Wert darauf, seine psychischen Narben unter Verschluss zu halten. Doch als man ihm dann emotionale Songs wie „See Me, Feel Me“, „Behind Blue Eyes“ oder das „Quadrophenia“-Finale „Love, Reign O’er Me“ vorsetzte, bahnten sich unterdrückte Gefühle in ungeahntem Ausmaß ihren Weg. Daltreys überraschende Selbstbeschreibung, er sei „immer noch ein Träumer mit dem Sternzeichen Fisch“, scheint zwar zu seinem handfesten Pragmatismus nicht recht zu passen, doch an der Verbissenheit, mit der er seinen Rock’n’Roll-Traum verfolgte, gibt es nicht die leisesten Zweifel. „Ich spielte mit Begeisterung Gitarre, aber genauso liebte ich es, eine Gitarre selbst zu bauen“, erinnert er sich an die Jahre mit seiner ersten Band The Detours, die 1960 an den Start ging. Drei Jahre später – Townshend und ein weiterer Mitschüler der Acton-County-Grundschule, John Entwistle, waren inzwischen in die Band eingestiegen – waren die Detours eine halb professionelle Band geworden, die immerhin so viel Geld einspielte, dass Daltrey seinen Job in einer Walzblech-Fabrik an den Nagel hängen konnte. „Ich sang damals zwar bei einigen Songs, war von mir als Sänger aber nie überzeugt.“ Als The Detours 1963 einmal im Vorprogramm von Johnny Kidd & The Pirates auftraten, hatte Daltrey dann sein Aha-Erlebnis. „Johnny hatte Bass, Gitarre, Schlagzeug und sang selbst – und es haute mich um. Ich dachte:, Geh nach vorn zum Mikro und mach endlich das, was du so gut kannst‘ – jedenfalls redeten mir das die Kollegen immer ein.“
Ende 1964 – die Band hatte sich im Februar in The Who umbenannt und trat dienstagabends als Headliner im Marquee auf – wurde Daltrey als ein „wichtiges Gesicht“ der Londoner Mod-Szene gehandelt. Es war ein Etikettenschwindel, über den Richard Barnes nur lachen kann: „Roger war kein Mod, er war ein Rocker. Townshend war derjenige, der total in der Szene aufging – vor allem, als Pete Meaden aufkreuzte.“ Meaden lernte The Who im April 1964 kennen, übernahm ihr Management und unterzog ihr Image einer Generalüberholung. „Sie waren letztlich nichts anderes als eine artifizielle Boy Group“, sagt Barnes belustigt. Meaden überzeugte sie, sich in The High Numbers umzubenennen und eine modische Mod-Gruppe zu werden, er „komponierte“ die beiden Seiten ihrer Debüt-Single („I’m The Face“/“Zoot Suit“) und peppte die Band visuell auf.
Musikalisch indes polierte Daltrey noch immer alte Blues-Songs von Howlin‘ Wolf auf, war aber auch am Sound des „young black America“ interessiert und hörte James Brown und Motown. „Mir ging es nur um den musikalischen Aspekt“, gibt er heute zu. „Mode war für mich nur ein Hilfsmittel, um besser auszusehen, um meine kurzen Beine etwas länger wirken zu lassen. Mehr steckte bei mir nicht dahinter.“
Ob als Hausband im Railway Hotel in Harrow (Sommer 1964), bei ihren Auftritten im Marquee (November 1964) oder ihren regelmäßigen Gigs im Goldhawk Social Club in Shepherd’s Bush: The Who bemühten sich, ihr Repertoire auf das jeweilige Publikum zuzuschneiden. Sie spielten James-Brown-Cover („Shout And Shimmy“, „I Don’t Mind“ und „Please Please Please“ – wobei die beiden Letzteren im Dezember 1965 auf ihrem Debütalbum „My Generation“ landeten), aber auch brandneue Songs von Eddie Holland („Leaving Here“) und den Miracles („I Gotta Dance To Keep From Crying“). „Wir liebten diese Nummern“, so Daltrey, „und indem wir sie spielten, fanden wir unseren eigenen Sound. Motown hatte diesen unglaublich coolen Beat. Der Sound sprang dich einfach an und packte dich bei den Ohren – was wiederum der Grund ist, dass dich die Who-Nummern in der gleichen Weise ansprangen.“
Die erste Who-Single – das Kinks-inspirierte „I Can’t Explain“ – war jedenfalls so messerscharf und maßgeschneidert wie ein passgenauer italienischer Anzug. „,I Can’t Explain‘ war schon okay“, so Daltrey, „aber, Anyway Anyhow Anywhere‘ war eigentlich die erste Single, bei der man sich sagte:, Wo zum Teufel kommt das denn her?‘ Es ließ sich nicht aus dem Blues oder irgendeinem anderen Stil ableiten. Es war, als hätten wir die Musik, die damals in der Luft lag, in einen eigenen Sound zusammengerollt. Es muss wohl die Arroganz der Jugend sein, die dir diese Freiheit gibt.“
In dieser Hinsicht trafen The Who – nicht zuletzt mit ihrem neuen Drummer Keith Moon, der ihrem Sound noch einen zusätzlichen Kick gab – genau die Stimmung der Mods, die Mitte der Sechziger die britische Jugendkultur dominierten. „Die frühen Singles, selbst, My Generation'“, glaubt Richard Barnes, „waren musikalisch eigentlich zu wüst und nicht gerade Mod-typisch – was zum Teil auf Rogers Wunsch zurückzuführen war, dass die Singles wie ihre Live-Auftritte klingen sollten, nämlich heavy, mit viel Bass und Echo. Die Mods tendierten eigentlich eher zu einem raffinierten, filigranen Sound, aber The Who waren eine so verdammt gute Band, dass sie trotzdem damit durchkamen.“
Mit dem akustischen Frontalangriff von „Anyway Anyhow Anywhere“ dehnten sie die Mod-Ästhetik jedenfalls bis zum Äußersten. Doch innerhalb von sechs Monaten hatte „My Generation“ die Who zum Stoff für die Geschichtsbücher gemacht. „Wir hatten einfach das Glück“, so Daltrey, „dass wir eine musikalische Chemie entwickelten, die völlig anders war als alles, was sonst in der Musikszene passierte.“
Angesichts der Tatsache, dass Daltrey die Band aufgebaut und bis dahin dominiert hatte, musste es eine schmerzhafte Erfahrung für ihn sein, dass Townshend (gefördert vom neuen Manager Kit Lambert) 1965 die Kontrolle übernahm. Doch Daltrey, sagt er jedenfalls heute, hatte damit keinerlei Probleme: „Ich habe es nie so gesehen. Nie! Mir ging es nur darum, dass die Band funktionierte – was für uns alle nur Vorteile hatte.“ Oft hat Daltrey im Lauf des Gesprächs gelacht, doch aus seinen letzten Sätzen klingt fast eine unterschwellige Drohung. Plötzlich ist er wieder der junge Mann, der seine Kollegen derart in Angst und Schrecken versetzte, dass sie ihn aus der Band werfen wollten. Aber sie wussten, dass The Who ohne ihn nicht denkbar waren.