The Specials: Tanztritte ans Schienbein
Vor etwas mehr als 40 Jahren eroberte der Ska des 2-Tone-Labels die Welt. ROLLING STONE sprach zum unerwarteten Comeback der Specials im Jahr 2019 mit Sänger Terry Hall in London über alte Leidenschaften und neuen Schwung.
Der Pancras Square im Londoner Stadtbezirk Camden, eingefasst von sechs hypermodernen Bürokomplexen, die mit trendy Restaurants und Cafés ein Plaza-Feeling simulieren, ist Investoren-Architektur wie aus dem postmodernen Bilderbuch. Auf den ersten Blick durchaus imposant – ein Beispiel für das trotz Brexit-Grusel an allen Ecken und Enden boomende London.
Die 80er- und 90er-Jahre hindurch war die Gegend hier eine abbruchreife Logistikzone mit allerlei Lagerhallen, eingeklemmt zwischen den historischen Großbahnhöfen King’s Cross und St Pancras. Neben Drogendeals und Prostitution fanden in dem schattigen Wasteland viele der legendären Londoner Acid-House-Raves statt. Jetzt arbeiten die Kinder der damaligen DJs und Musiker bei Tech-Firmen mit komischen Namen. Ab 2016 zog die New Economy ein, etwa die UK-Zentrale von Google mit über 2000 Mitarbeitern, die Kochkurse bei einem Jamie-Oliver-Souschef belegen oder in ihren Denkpausen auf einem 90-Meter-Inhouse-Laufparcours trainieren können. Auch die britische Zentrale der weltgrößten Plattenfirma, Universal Music, hat am Pancras Square Nr. 4 eine schicke Bleibe gefunden. Das Gebäude mit einer Öko-Bio-Superfood-Kantine in der Lobby erinnert mit seinem mattweißen Interieur an ein hochgestelltes iPhone.
AmazonIn der Retrochic-Sitzgruppe hockt ein grau melierter Mann, ein fitter Mittsechziger im dunkelblauen Kurzmantel. Nach einer Weile erhebt er sich und fragt den nebenan wartenden Autor: „Hallo, bist du Ralf?“ Auf das etwas verblüffte „Ja“ fährt er munter fort: „Cool, dann haben wir gleich ein Interview! Bringt ja nix, hier schweigend herumzusitzen.“ Er stellt sich als Horace Panter vor, Bassist von The Specials, der soeben mit dem Zug aus Coventry angekommen ist. Eine Begegnung, wie sie in der Musikindustrie eher selten vorkommt, werden doch die Stars zumeist in der geheimnisvollen Aura abgedunkelter Hotelsuiten präsentiert. Sie sitzen jedenfalls nicht in Wartesälen herum.
Das wiederum lässt darauf schließen, dass „Encore“ von The Specials für Universal Music nicht unbedingt die wichtigste Veröffentlichung des ersten Quartals ist. Für Fans und Kenner ist es dagegen natürlich eine Sensation: Nach 38 Jahren wieder ein Album mit Sänger Terry Hall, der sich seinerzeit nach dem zweiten Specials-Album, „More Specials“, Knall auf Fall zurückgezogen hatte, um mit Fun Boy Three (und anderen Folgeprojekten) auf eine lange musikalische Reise zu gehen.
Gesellschaftsbild der beginnenden Thatcher-Ära
Während wir auf die Pressedame warten, amüsiert sich Panter mit gutturalem nordenglischen Akzent über die Sicherheits-Standards im Four Pancras Square: „Im Aufzug gibt es keine Stockwerknummern, und wenn man als Gast versehentlich in der falschen Etage aussteigt, kommt man nirgendwo rein – aber auch nicht mehr runter oder raus. Man muss von einem Mitarbeiter gerettet werden.“
Als die Specials mit Songs wie „Hey, Little Rich Girl“, „Man At C&A“ oder der grandiosen Single „Ghost Town“ bittersüß ein Gesellschaftsbild der beginnenden Thatcher-Ära zeichneten, war weder an iPhones noch an iPhone-mäßige Bürohäuser zu denken. Die Siebziger hindurch galt Großbritannien wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch als „der kranke Mann am Ärmelkanal“, was Supertramp bereits 1975 mit dem Album „Crisis? What Crisis?“ beschrieben – und was dann in Punk und New Wave ausgiebig verarbeitet wurde.
Die munterste neue Welle nach einigen Minuten Plauderei am Lobby-Couchtisch erscheint eine freundliche Mitarbeiterin mit Sicherheitsausweis und geleitet das Interviewduo in einen Besprechungs-Glaskasten, wo Säfte und Bananen warten. „Kaffee, Tee, Gentlemen? Terry hat sich einige Minuten verspätet. Er muss aber jeden Augenblick hier sein.“
Ska-Welle
Als The Specials im Mai 1979 (noch als The Special AKA) die Single „Gangsters“ veröffentlichten, die es aus dem Stand auf Platz 6 der britischen Charts schaffte, markierte das den Beginn einer ganzen Ska-Welle: Madness, The Selecter, The Beat, The Bodysnatchers, um nur die wichtigsten Bands zu nennen, schufen einen neuen Retrosound, der sich aus dem schnellen jamaikanischen Beat der frühen 60er-Jahre und der Energie des Punk speiste.
Als Zentralkomitee fungierte das Indie-Label 2 Tone aus der Industriestadt Coventry, das unter der ideologischen Ägide des Specials-Songschreibers und -Keyboarders Jerry Dammers stand. Die Linernotes der Doppelvinyl-Compilation „The 2 Tone Story“ zitieren seinen typisch sarkastischen Tonfall: „Strictly speaking, it doesn’t even exist as a record label. It’s more like a pisstake of a record label; except it is actually more successful than all the proper ones!“ Die raschen kommerziellen Erfolge von 2 Tone waren untrennbar mit der politischen Agenda verknüpft – angesichts der in den frühen Achtzigern grassierenden National-Front-Umtriebe in der britischen Popkultur.
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Die rein weiße Ska-Band Madness musste sich – im Gegensatz zu den Specials – in ihren Anfangsjahren oft genug der Faschoskins in ihrem Publikum erwehren. Es war ohnehin die hohe Zeit der tribalistischen Jugendkulturen. Musik, Mode, Politik und „Style“ (dazu gehörte auch Gewalt) waren vielfältig verschränkt, bis hin zur Geheimwissenschaft; Musikhören war nicht einfach nur Musikhören, sondern zugleich Lebenseinstellung und streng abgezirkelte Distinktion. Bestimmte Klamotten waren mehr als heute, da alles irgendwie Zalando ist, Codes für cooles Wissen. In Nick Knights berühmtem Fotoband „Skinheads“ finden sich im angehängten „Fashion Notebook“ zahlreiche Elemente des späteren Ska-Looks, der wiederum diverse Accessoires aus der Mod-Ära der Sechziger beinhaltet: eng geschnittene Anzüge, Loafers oder die schmalkrempigen Lederhütchen (Pork Pie Hats), die später zu klischeehaften Insignien der Ska-Bewegung mutieren sollten.
Bei all dem reichhaltigen Drumherum soll die reine Musikrezeption natürlich nicht vergessen werden. Das Musikmagazin „Sounds“ kürte das von Elvis Costello produzierte Debütalbum der Specials 1979 zum „Meilenstein“ – unter der Überschrift „Der Tanztritt ans Schienbein“. Ein Slogan, mit dem dann auch die Plakate der Deutschlandtournee der Specials versehen waren. Einige Monate später schrieb, ebenfalls in „Sounds“, Vivien Goldman in ihrer Abhandlung über „Mods, Ska und Skinheads“: „Sie haben ihren Bezug zur Original-Ska-Musik sehr deutlich gemacht, als sie den Posaunisten Rico Rodriguez (ein Jamaikaner, der zusammen mit den legendären Skatalites den Ska-Sound prägte, bevor er in den 60er-Jahren nach England ging) mit auf Tour nahmen und ihn groß auf ihrer Single vermerkten. Sein honigsüßer Bläsersound ist in der Tat ein wichtiger Bestandteil der Specials-Musik.“ Der große Soul-Experte und „Spex“-Mitbegründer Gerald Hündgen wollte sich über das Konzert in der Köln-Mülheimer Stadthalle im eiskalten Winter 1980 vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen: Die bislang sehr weiße Punk- und New-Wave-Szene hatte über den Umweg London plötzlich schwarze Elemente bekommen.
Energetische Tanzmusik und coole Outfits
Das reiche musikalische Erbe Jamaikas war auch in der Mainstream-Welt nicht mehr nur der Ganja- und Rasta-Vibe von Bob Marley oder Peter Tosh. Zumal die Urversion des Ska bereits in den 50er-Jahren entstand und mit den Einwanderungswellen aus der Karibik nach London kam, wo sich wiederum ab 1960 erste Plattenlabels wie Blue Beat gründeten. Mit dem Ska-Revival der späten Siebziger war Jamaika nun auch bei deutschen Musikfans mit energetischer Tanzmusik und coolen Outfits verbunden. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte blieb Ska als schwungvolle Stimmungsmucke im Underground und in Jugendheimen zwischen Bilbao und Bielefeld präsent, ohne sich musikalisch sonderlich weiterzuentwickeln. Auch die Urveteranen aus Jamaika fanden in dieser international vernetzten Subkultur bis ins hohe Alter ihr Auskommen.
Winkelzüge im Dutzend, die Tür geht auf – und ein verschmitzt dreinblickender Polohemdträger begrüßt seinen langjährigen Mitmusiker und den Journalisten aus Deutschland. Terry Hall wirkt fit, scheint keine Probleme mit seinem Haupthaar zu haben und beantwortet fast alle Fragen mit einer Art Auftakt-Bonmot, auf das eine ernsthafte Ausführung folgt, oder mit einem Witzchen, das in der Luft stehen bleibt. Seine langjährige Depression scheint kein Thema mehr zu sein. „Es ist so schwer, dieses Gefühl zu erklären, weil man selbst am allerwenigsten versteht, was passiert. Ich habe mich damals manchmal vier Wochen isoliert und es nicht mal gemerkt“, sagte er vor einigen Jahren in einem Radiointerview, „und nicht mal gewusst, was ich während der Zeit gemacht habe. Jetzt gibt es immer mal Höhen und Tiefen, aber die Medikamente halten alles zusammen. Ich merke, wie die Chemie meines Körpers darauf reagiert. Heute würde eine Tiefphase vielleicht ein, zwei Tage dauern und nicht gleich einen ganzen Monat.“ Seit jener Zeit scheint sich Hall psychisch stabilisiert zu haben, zumal er sein künstlerisches Werk über die Jahre kontinuierlich ausgebaut hat. Ein Blick auf seine Diskografie offenbart jedenfalls keine überlangen Kunstpausen.
„Wenn man jung ist, trifft man impulsive Entscheidungen“
The Specials hatte Terry Hall im Sommer 1981 nach „Ghost Town“ verlassen. „Ich war damals 22. Und die Vorläuferband Coventry Automatics gab es ja schon seit 1977 – für einen Youngster schon eine halbe Ewigkeit. Wenn man jung ist, trifft man impulsive Entscheidungen. Und ich wollte mal was anderes machen“, sagt er mit einem Achselzucken. Dieser konsequente Wille zur Veränderung führte ihn, gemeinsam mit den schwarzen Specials-Mitgliedern Neville Staple und Lynval Golding, geradewegs zum Nachfolgeprojekt Fun Boy Three.
Während sich bereits das zweite Specials-Album vom Revival-Stil des Debüts wegbewegte, ist Fun Boy Three ganz großes Pop‑Entertainment. Der Bruch mit dem munter-naiven Ska-Revival und den schwarz-weiß karierten Socken, die es in den Touri-Läden auf der Carnaby Street für 4,99 Pfund gab, war mit dem zweiten, weitaus subtileren Specials-Album vollzogen. Die charakteristischen, recht simplen Ska-Riddims wurden in ausgefeiltere Kompositionen überführt. Jerry Dammers blieb weiterhin der Hauptsongschreiber. Terry Hall bekam für „Man At C&A“ immerhin eine Koautorenschaft: ein apokalyptischer Song über die weltpolitische Lage. Der Dritte Weltkrieg wartete direkt vor der Haustür – mit viel Hall, verschleppten Riddims, aber keineswegs düster. In der kurzen Zeit ihrer gemeinsamen Existenz haben sie mit großem Schwung die jamaikanischen Klassiker interpretiert, siehe „Monkey Man“ oder „Too Much Too Young“, wo – besonders in ihrem Bühnenvortrag – die pure Spiel- und Tanzfreude regierte. Produzent Costello verzichtete auf Sperenzchen im Studio und ließ die Sache einfach laufen.
Kaum 16 Monate später, bei „More Specials“, wechselten sie zu einer „Neo-Lounge-Identität“, wie es in einem britischen Ska-Handbuch heißt. Der politische Duktus der Texte blieb bestehen, ebenso die Einflugschneise aus der Working Class. Der Specials-Sound jedoch gewann an Eleganz. Die noch junge Band verzichtete auf die Hilfe versierter New-Wave-Stars und legte selbst Hand an. Jerry Dammers als Honcho brachte vielfache musikalische Einflüsse und diverse Gastmusiker in die ohnehin schon vielköpfige Band. Dammers war längst klar, dass das kurzzeitig so erfrischende Aufpoppen des Ur-Ska sehr vergänglich und damit blitzeschnell zum Klischee geworden war. Der Song „Stereotype“ behandelt zwar nicht explizit den doofen Ska-Fan, aber die Stoßrichtung ist klar: „He’s just a stereotype/ He drinks his age in pints/ He has girls every night/ But he doesn’t really exist.“ Letztlich hatten die angestoßenen Experimente der zweiten Halbzeit der Specials genügend künstlerisches Potenzial für viele weitere Platten, doch die auseinanderstreben Künstlerpersönlichkeiten der orchestergroßen Bands passten schon bald nicht mehr unter einen Pork-Pie-Hut.
AmazonFür Terry Hall war dann Fun Boy Three die nächste Ebene. Vor allem das in Deutschland untergegangene zweite Album, „Waiting“ von 1983, zählt zu den epochalen britischen Pop-Platten der Achtziger. Während die restlichen Specials unter dem Urnamen The Special AKA der Linie des Chefideologen Jerry Dammers folgten (mit tollen Songs wie „Nelson Mandela“, „Racist Friend“ oder „What I Like Most About You Is Your Girlfriend“), waren Fun Boy Three einerseits freudvoller, andererseits aber auch weitaus melancholischer als The Specials. In „Well Fancy That!“ verarbeitet Hall gar die sexuelle Übergriffigkeit eines seiner Lehrer. Das Umschaltspiel von knallbunten Pop-Bonbons zu leiseren Chansons bleibt im Britpop bis heute ziemlich einzigartig. Die Eingangszeilen von „We’re Having All The Fun“ zeichnen ein überhaupt nicht lustiges Bild der britischen Kleinbürgergesellschaft, begleitet von einem rhythmischen Midtempo-Groove: „I live in a flat, I like Manchester United/ I live with my girlfriend and my cat, we’re really happy/ I like watching television, wearing duffle coats and moccasins/ Eating crispy pancakes and having mundane haircuts/ That’s me done …“
Terry Hall probierte alles einmal aus
Purer Spaß dagegen ist die Single „It Ain’t What You Do, It’s The Way That You Do It“ mit Keren Woodward, Sara Dallin und Siobhan Fahey, kurz Banamarama. Sie gehört in jedes Stilmuseum der Achtziger. Auch der einzige große UK-Charts-Hit von FB3, „Our Lips Are Sealed“, bei dem Terry Hall mit Jane Wiedlin von den Go‑Go’s zusammenarbeitete, ist große Songschreiberkunst. Nach „Waiting“ und immerhin sieben Top‑20-Hits, waren Fun Boy Three im Herbst 1983 dann auch schon wieder passé.
Bei Terry Hall schlossen sich in den folgenden dreieinhalb Jahrzehnten rund zwei Dutzend kleine und große Musikprojekte an: die wunderbare Popband The Colourfield, das Model-Trio Terry, Blair & Anouchka – und als Vegas bat er Eurythmics-Meister Dave Stewart zum Duett. Beim Spezialistenlabel Honest Jon’s kooperierte Hall mit dem Fun-Da-Mental-Chef Mushtaq. Hall arbeitete mit den Lightning Seeds, Sinéad O’Connor, Stephen Duffy, Tricky, Junkie XL, Leila Arab, Lily Allen oder auch Damon Albarn. „Jaja, da ist über die Jahre einiges zusammengekommen. Ich hatte aber nie den Eindruck, dass das unter dem Stress passierte, möglichst viele prominente Kollegen einzusammeln“, kommentiert er unaufgeregt.
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Der 1968 geborene Damon Albarn wiederum wird in manchen Quellen als „Ziehsohn“ des 1959 geborenen Terry Hall bezeichnet. Ein Jahrzehnt Altersunterschied bedeuten in der Popmusik die nächste Generation. Der „Independent“ schreibt von einem „key formative influence“ – doch so weit will Hall nicht gehen. Stattdessen ein Seitenhieb: „Er hat mich ständig abgezogen und nachgeahmt“, grantelt er – und lässt mal wieder eines seiner Statements im Ungewissen stehen. Sehr wahrscheinlich sind die beiden gute Musikerkumpels.
Nicht alle von Halls Projekten waren von epochaler Bedeutung, aber in ihrer Fülle und Winkelzügigkeit sind sie schon ziemlich einzigartig. „Ich habe einfach Musik gemacht, die irgendwann veröffentlicht werden wollte“, sagt er heute lapidar. Wenig eitel taucht er in den unterschiedlichsten Rollen auf: Mal Frontmann, mal Produzent, mal bescheidener Sidekick wie etwa bei Damon Albarns Multimedia-Supergroup Gorillaz.
Charakterkopf endlich wieder zurück an Bord
Der Tanztritt ans Schienbein, auch wenn es über den Zeitraum von fast vier Jahrzehnten anders wirkt, haben sich laut Hall und Panter die Kern-Specials nie aus den Augen verloren. Panter berichtet freimütig, dass er im großen Popgeschäft eher „weg vom Fenster war“ und bis heute in Hobbyformationen in der Pub-Szene seiner Heimatstadt spielt. „Ich bin eben ein Bassist, der eine Band braucht, die ihn zieht“, sagt er. „Coventry war noch nie eine besondere Schönheit, sondern ein eher derbes Ding. Das war bereits bei der Gründung von 2 Tone so – jetzt ist es immer noch hässlich, und es gibt noch mehr Obdachlose auf den Straßen.“ Im Brotjob arbeitet er als Kunstdozent, was genügend Freiräume gelassen hat, um immer mal wieder auf Tour zu gehen. Schließlich spielten die Specials nach dem Split des Nachfolgeprojekts The Special AKA 1984 in verschiedenen Besetzungen noch öfter live. Auch Platten von unterschiedlicher Qualität entstanden. Das Besondere an der neuen Inkarnation ist, dass es ein neues Album mit Terry Hall gibt, das erste seit 38 Jahren. Von „Urbesetzung“ zu reden wäre übertrieben – aber der Charakterkopf aus der ersten Reihe ist jetzt endlich wieder mit an Bord.
Und was wurde aus dem einstigen Mastermind Jerry Dammers, der in Interviews immer mal wieder mit Anti-Specials-Stänkereien auffällt? „Wir hatten durchaus die Vorstellung, dass alle noch mal im Studio zusammenkommen“, berichtet Panter. „Ich habe den Botschafter gegeben und mich mit Jerry getroffen. Was soll ich sagen: Nach zehn Minuten war klar, dass das mit uns leider nichts mehr wird. Unversöhnlich, der Mann. Ende der Durchsage.“ Über weitere Details zu sprechen erscheint ihm müßig. Der Karren mit Dammers scheint emotional so festgefahren wie bei einem unversöhnlichen Familienzwist. „Für mich dagegen fühlte sich das genau richtig an“, ergänzt Terry Hall munter. „Der Zeitpunkt, der inhaltliche Ansatz, die Übersetzung unserer Ska-Wurzeln in die Jetztzeit.“
Die erste Single-Auskopplung, „Vote For Me“, ist eine milde daherklimpernde Abrechnung mit der Politikerkaste der Class of Brexit – eine Art inhaltlicher Fortsetzung von „Ghost Town“, allerdings ohne Bitterkeit. „Unsere Texte behandeln zwar politische Themen, wir sind aber realistisch genug, unseren Einfluss auf das wahre Leben nicht zu überschätzen. Die heutigen Specials sind in erster Line eine Popband, die es auf der Bühne noch mal krachen lassen will“, sagt Horace Panter mit Understatement-Miene.
Die Edelversion von „Encore“ enthält deshalb neben dem regulären neuen Album eine Sammlung von Live-Tracks von verschiedenen Auftritten aus den vergangenen fünf Jahren. Musikalische Kreise schließen sich, und in einem moderat gedrosselten Tempo funktionieren die Specials-Klassiker „A Message To You, Rudy“, „Stereotype“ und ihre Maytals-Coverversion „Monkey Man“ bis heute sehr gut. Die anstehende Europatournee – in Hallen für etwa 3000 Zuschauer – ist jedenfalls bestens nachgefragt.
„Das Konzert in Amsterdam war ausverkauft, bevor wir überhaupt angekündigt hatten, dass wir dort spielen würden“, macht Terry Hall einen seiner Showbiz-Witze. „Du musst unbedingt mal bei uns vorbeikommen! Dann kannst du erleben, wie ältere Herren Rock’n’Roll-Lifestyle interpretieren. Wobei, das war eigentlich immer schon so. Backstage heißt für mich: Kühlschränke! Komm vorbei, dann zeige ich dir einen!“
Comebacks von alten Bands kommen selten über den Zustand der Nostalgie hinweg, und auch The Specials werden live von den alten Hits profitieren. Doch die bereits im zweiten Album angelegte Kultur des Wandels dürfte ihnen, was Frische und Unberechenbarkeit anbetrifft, auch 2019 zugutekommen. „Encore“ ist ein überzeugend gut gelungener Neuanfang.
Die Verhältnisse haben sich geändert
Zum Ende des Gesprächs wird die wichtige Frage erörtert, ob Hall denn „immer noch“ zu Manchester United ins Stadion gehe – seine Zuneigung zu dem Fußballverein wurde stets kolportiert, und schon vor 35 Jahren hat er sich explizit zu den Reds bekannt. Aber die Verhältnisse haben sich geändert: der fiese Investor aus der Glazer-Familie und die Trainerkabalen um den Fiesling José Mourinho (der jüngst allerdings durch Exspieler Ole Gunnar Solskjær ersetzt wurde)!
Und plötzlich wird der bisher eher lakonische Sänger völlig unzweideutig. Er zückt sein Smartphone und zeigt ein Bild seines jüngsten Sohns – in einem Manchester-United-Trikot in den Sitzreihen von Old Trafford. „Ich habe es bislang nie nicht geschafft, dort hinzugehen. Mein anderer Sohn verzichtet inzwischen meistens darauf – ich nicht! Ich war sogar im April 2011 beim Champions-League-Auswärtsspiel auf Schalke. Aber was ist das denn überhaupt für ein komisches Fussballstadion? Mit Dach?“
All die Winkelzüge des Lebens und die Achterbahnfahrt eines Künstlerlebens seit Teenagertagen konnten Terry Hall nichts anhaben. Aber ein Stadion, das wie ein Hallenbad wirkt – das schon.
Ein Artikel aus dem RS-Archiv