The Sixth Sense
von M. Night Shyamalan
Ein Keller. Langsam gleitet die Kamera durch den dunklen Raum an Regalen mit Weinflaschen vorbei. Dann geht das Licht an. Eine junge Frau im roten Kleid schreitet die Treppe hinunter. Plötzlich verharrt sie, blickt sich irritiert um und reibt fröstelnd ihre Arme. Sie greift eine Flasche und eilt wieder nach oben ans wohlig knisternde Kaminfeuer. Anna (Olivia Williams) und ihr Mann, der Kinderpsychologe Dr. Malcolm Crow (Bruce Willis), feiern bei Rotwein eine weitere seiner vielen beruflichen Ehrungen. Schließlich gehen sie ins Schlafzimmer hinauf, lachen, turteln, küssen sich, als sie einen kühlen Luftzug verspüren. Ein Fenster wurde zerbrochen, und aus dem Bad dringt ein Geräusch. Dort steht, halbnackt und bewaffnet, Crows früherer Patient Vincent (Donnie Wahlberg). Der brüllt, Crow sei ein Pfuscher, und rächt sich „for fucking up my life“ mit einem Bauchschuss. Danach richtet er sich selbst Crow fallt rückwärts auf das Bett Blut quillt über die Decke.
In den Jenseitsphantasien der Menschen kündigten sich der Tod und ruhelose Seelen von Toten immer schon mit einem eisigen Hauch an. Im Prolog von „The Sixth Sense“ sind somit subtil alle Hinweise angelegt, die bis zum verblüffenden Ende die seltsamen Ereignisse einJahr später begleiten. Ybn dem Vorfall erschüttert, will sich Crow intensiv mit dem verhaltensgestörten Achtjährigen Cole (Haleyjoel Osment) beschäftigen, der ähnliche Symptome aufweist wie sein Attentäter. Offenbar von der Scheidung seiner Eltern traumatisiert, kapselt er sich ab, wird von den Kindern gehänselt und gibt im Unterricht verstörende Antworten. In der Küche findet die verzweifelte Mutter Lynn (Toni Colette) alle Schubladen und Schranktüren offen vor, obwohl sie nur für wenige Sekunden draußen war. Mit seinem Spielzeug flüchtet Cole jeden Tag in eine Kirche, wo er Kerzen und Madonnenfiguren klaut, die er zu Hause unter einer Decke zum Altar anrichtet So fühlt er sich in der Nacht sicher vor den Dämonen, die ihn umtreiben.
leinwand NEU IM KINO
Er sehe Leichen, gesteht Cole, nachdem Crow geduldig sein Vertrauen erreicht hat, die blutigen Leiber von Unfallopfern und Ermordeten. Crow diagnostiziert Halluzinationen. Erst als ihm eine Traueranzeige auffällt für ein Mädchen, von dem Cole erzählt hat, muss er dessen übernatürliche Sensitivität anerkennen. Da der Knabe noch überfordert ist, sich als Medium der zornigen Schattenwesen zu begreifen, gehen sie gemeinsam den Botschaften aus dem Totenreich nach.
„The Sixth Sense“ ist ein Spuk-Thriller aus dem Geiste Edgar Allen Poes, der in seinen besten Schauerfabeln paranormale Phänomene mit kriminalistisch-wissenschaftlicher Methodik beschrieb, ohne das Übersinnliche zu verneinen. Im geduldigen, gemächlichen Rhythmus einer Therapiesitzung baut der 29-jährige Drehbuchautor und Regisseur M. Night Shyamalan mit Kameramann Tak Fujimoto („Das Schweigen der Lämmer“) im herbstlichen Philadelphia eine jenseitige Atmosphäre auf, wie man sie zuletzt in „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ gesehen hat. Mehr als eine Stunde vergeht, bevor die üblich gestalteten Zombies auftauchen. So erstaunt es schon, dass diese nur 20 Millionen Dollar teure Produktion in Amerika mit einem Umsatz von knapp 270 Millionen Dollar der zweiterfolgreichste Film des Jahres wurde.
Beklemmung entsteht vor allem durch Osments blasses Gesicht und verängstigte Augen, worin sich der für uns unsichtbare Grusel spiegelt. Shyamalan nennt den Film eine Mischung aus Robert Redfords Drama „Eine ganz normale Familie“ und William Friedkins „Der Exorzist“. Da Crow besessen Geistern nachspürt, entfremdet sich seine Ehefrau von ihm. Als er zu spät im Restaurant erscheint, zahlt sie wortlos und geht. Kommt er heim, blickt sie an ihm vorbei und knöpft ihre Strickjacke zu. Nachts steht er schweigend an ihrem Bett. Mit Indizien wie der verschlossenen Kellertür und spiralförmigen Treppen sowie metaphysischen Metaphern aus Traumdeutung und Omen, Psychoanalyse und Okkultismus sind nahtlos mehrere Sinnesebenen verknüpft. Und nach der Wiedergeburt des Actionstars als Schauspieler ist dies Willis‘ berechtigter Triumph.