The Rolling Stones bei der Londoner Pressekonferenz: „Wir waren faul“
Die Rolling Stones luden die Weltpresse nach London, um zu erklären, warum sie so lang dafür brauchten, „Hackney Diamonds“, ihr erstes Album mit neuen Songs seit 18 Jahren, zu machen. Und wie es dazu kam, dass dann alles doch so schnell ging. Spoiler: Die Antwort darauf kommt einem bekannt vor. Rolling-Stone-Reporter Robert Rotifer war für uns dabei.
Die Pressekonferenz für das allererste Rolling-Stones-Album, damals vor 59 Jahren, so wie Mick Jagger sich dran erinnert: „Keith und ich saßen in einem Pub in der Denmark Street, da waren ein Journalist vom ‚Melody Maker‘ und einer vom ‚NME‘ dort. Wir sagten: ‚Hier ist das Album‘ [macht eine Handbewegung, die die Übergabe einer Platte suggeriert, Anm. d. Red.] und dann tranken wir ein Bier zusammen.“ Die Kritiken seien durchaus gemischt gewesen, räumt er ein, „aber es hat sich schon ordentlich verkauft.“ Nun ja, irgendwas muss sich ja wohl verändern in einem halben Jahrhundert, insofern ist es auch ganz legitim, dass die von einer Video-Welt-Premiere begleitete Ankündigung von „Hackney Diamonds“, dem ersten Stones-Album seit dem aus Blues-Covers bestehenden „Blue & Lonesome“ (2016), ihrem ersten Langspieler mit neuen Songs seit „A Bigger Bang“ (2005) bzw. ihrer ersten Neuveröffentlichung seit der Lockdown-Single „Living in a Ghost Town“ (2020), in Form eines globalen Webcasts vor Augen, Kameras und gezückten Handys der eigens für diese halbe Stunde Medienereignis eingeflogenen Weltpresse stattfinden sollte.
Ach ja, das dabei verkündete Veröffentlichungsdatum ist übrigens der 20. Oktober, falls es Stones-Fans da draußen geben sollte, die das noch nirgends sonst gehört oder gelesen haben.
Aber zurück nach London: Gestern, vor der großen Übertragung aus dem Hackney Empire, einem typisch viktorianischen Backsteinfassaden-Theater im Osten Londons, hatten die sozialen Medienkanäle der Stones ein Bild von Jimmy Fallon und Mick Jagger in einem Pub veröffentlicht. Fallon halb versteckt hinter der Lokalzeitung Hackney Citizen, am Tisch hinter ihm sitzend unverkennbar Mick Jagger, die Beine überschlagen, ebenfalls Zeitung lesend, einer der letzten Rockstars der ersten Generation, scheinbar in freier Wildbahn. Keine paar Minuten dauerte es, bis auf einer meiner Timelines ein Bekannter schrieb: „Mick Jagger im Old Ship? Verrückt.“ Die Location war also für Ortskundige leicht auszumachen. Und heute Mittag sollten wir Journalistengesocks nun von ebendort unsere Pässe für die Veranstaltung abholen. Kein Wunder also, dass schon am Vormittag die leicht panische Kunde vom aus Security-Gründen geänderten Abholort durchkam. Die Stones wissen ihren Mob zu locken und zu necken, sie haben darin ja auch schon sechs Jahrzehnte Erfahrung.
„Wir sind eine Londoner Band“
„Wir setzten uns hin, wälzten ein paar Ideen“, sollte Keith Richards später im Interview mit Jimmy Fallon den Tribut an die Nachbarschaft im Titel des neuen Albums erklären, „und irgendwo zwischen ‚Hit and Run‘ und ‚Smash and Grab‘ kamen wir dann auf ‚Hackney Diamonds‘.“ Und wirklich steht der Ausdruck im Cockney-Slang für die Glassplitter, die nach einem Autodiebstahl als Andenken auf eine entwendete Karre am Parkplatz glitzern. „Und wir“, wie Keith mit Lokalpatriotismus zum Applaus des Publikums feststellte, „sind auch eine Londoner Band“. Tatsächlich hat es was zu sagen, wenn die Stones uns ausgerechnet hierher einladen. Die alten Londoner stomping grounds der Band im Westen der Stadt, Kensington & Chelsea, sind längst nur mehr ausgestorbene Kapitalanlage für die Superreichen. Hackney, die einstige Heimat von Autodieben und dem Salt of the Earth des Londoner Proletariats dagegen ist heutzutage eine Hipster-Hochburg, Inbegriff eines jungen, multiethnischen Großbritannien, und gerade für solche Details hatte Mick Jagger immer schon einen gute Nase. So wie auch für die Auswahl seiner Seilgefährten. „Fallon is a woke joke“, schreibt ein Kampf-Poster zwei Stunden vor der Beginn der Pressekonferenz in die Kommentarleiste zum Live-Feed auf YouTube. Es ist 2023, und die Culture Wars sind überall.
Plangemäß pünktlich um 12 Uhr 50 jedenfalls sind die für die Presse servierten Cupcakes mit Stones-Logo im Old Ship verzehrt, abfotografiert und über soziale Medien verteilt (von Mick und Jimmy hier leider keine Spur), und die dort ihren wertvollen Armbändchen festgehaltene Journaille wird ins Hackney Empire nebenan gelotst, vorbei am Haupteingang über den roten Teppich.
Hinter der Absperrung hat sich in der prallen Spätsommer-Sonne bereits eine Traube von ein paar Hundert Fans versammelt. „You got the Diamonds“ steht auf einem ihrer Transparente, „Happy 80th, Mick“ auf dem anderen, und plötzlich beschäftigt einen dann doch der Gedanke, dass dieser Event wohl der letzte seiner Art sein könnte. Inzwischen füllt sich der mit reichlich Gold- und Samtornament verzierte Saal des Empire, die Bühne dekoriert mit einer glitzernden, zersplitterten Version der Rolling Stones-Zunge (ein Update der Grafikerin Paulina Almira). Zwei Kronleuchter zwischen nach Boudoir-Manier drapierten, schweren Vorhängen, auf den Bühnenbrettern noch ein paar gestrandete Kronleuchter als leicht exzessiver Touch. Im Bühnenvordergrund drei rote Samtstühle mit jeweils einem Tischchen, einem roten Lämpchen und Wasserglas daneben, ihnen gegenüber die Stuhl-Tischchen-Lämpchen-Gläschen-Kombo für Fallon. In wenigen Minuten wird dieses Szenario sich vom Hintergrund unzähliger Journalisten-Selfies zur Bühne für die Überlebenden der einst oder noch immer größten Rock-Band dieser brennenden Welt wandeln, der „ultimativen Rock-Band“, wie der strahlend wie ein Geburtstagskind auf die Bühne wippende Jimmy Fallon sie nennt.
Und da kommen sie auch schon hereingetänzelt. Ronnie in rauledernen Beatle Boots, schwarzen engen Hosen, schwarzem Hemd und dunkelblauem Jackett, Keith in schwarzen Jeans, tiefblau schillerndem Hemd, Hut und dunklen Sonnenbrillen, Mick ebenfalls in – was schon? – schwarz: matt glänzende Hosen mit scharfer Bügelfalte, schimmerndes Hemd, Knautschsamtjacke. Diese drei Männer sind vermutlich die einzigen Menschen zwischen 76 und 80 bzw. außerhalb des Zuhältergewerbes, die diesen Look glaubhaft durchziehen können.
„Vielleicht waren wir zu faul gewesen“
Es sei „sehr früh in Los Angeles“, sagt Jagger, immer der Mann auf Achse, und springt wie ein junger Hecht auf, als es an die Verlautbarung des Veröffentlichungsdatums des neuen Albums geht (es ist der 20. Oktober!). Wie wir erfahren, entstand „Hackney Diamonds“ im Schnellverfahren. Vor Weihnachten habe die Band an ein paar Ideen herumgedreht, sagt Ronnie. Dann, setzt Mick fort, kam es zur Einsicht, dass es einen Plan brauchte: „Vielleicht waren wir zu faul gewesen, und wir sagten: ‚Setzen wir uns eine Deadline.‘“ Bis zum Valentinstag sollte alles fertig sein, und so kam es dann auch.
23 Tracks wurden aufgenommen („eigentlich zwei Alben“, wie Ronnie Wood einwirft), ein Dutzend davon werden veröffentlicht (man ahnt, da kommt noch was nach). Die Arbeit begann bei Keith in Jamaica mit der ersten Single „Angry“ und anderen Tracks, danach ging’s nach New York. „Wir besorgten uns einen Produzenten“, sagt Jagger, „Andy Watt. Der trat uns in den Arsch.“
Nach ein paar weiteren Sessions in London, auf den Bahamas und New York wurde das Album in L.A.. fertiggestellt. Zwei der zwölf Songs („Mess it Up“ und „Live By The Sword“, falls der ROLLING STONE das richtig verstanden hat) stammen allerdings noch aus dem Jahr 2019 und wurden mit dem seither verstorbenen, eigentlich unersetzlichen Charlie Watts eingespielt, einer davon sogar mit Bill Wyman am Bass (über die viel kolportierten Gast-Rollen von Paul McCartney am Bass und Elton John an den Tasten fiel leider bei der Pressekonferenz kein Wort).
„Alles ist anders ohne Charlie“, sagt Keith Richards, „Die Nummer vier fehlt, er ist da oben“, meint er, und deutet himmelwärts. Aber Watts habe den Rest der Band schon vor vielen Jahren instruiert: „Wenn mir was zustößt, ist Steve Jordan euer Mann.“
„Alles in Bewegung halten!“
Was wir sonst noch erfahren: „Wenn der Sänger eine Platte machen will, dann sollte man ihn sofort aufnehmen“, erläutert Keith Richards die Grundsätze des Geschäfts. Das ist auch Mick Jagger neu: „Ach so geht das? Das hatte mir niemand gesagt!“ Außerdem: Keith Richards raucht nicht mehr. Ronnie Wood spielt mit Leuten wie Van Morrison, „weil man seine Finger in Bewegung halten muss. Das ist wichtig, wenn man in unser Alter kommt.“ Ein vielsagendes Funkeln in seinen Augen. „Alles in Bewegung halten!“ Und ja, bei solchen Worten aus dem Mund eines Rolling Stone hört man im Saal auch heute noch immer Frauen jauchzen.
Andere Neuigkeiten: Eine Nummer namens „Sweet Sound of Heaven“, sagt Mick Jagger, sei ein richtiger Gospel-Song. „Du warst nie in deinem Leben in der Kirche“, fällt ihm Keith ins Wort. „Das ist völlig falsch!“, protestiert Mick. Und so wird ganz öffentlich klar, was er meint, wenn er auf eine Frage des Fan-Clubs meint, das Geheimnis einer langen Beziehung (in diesem Fall zwischen ihm und Keith) sei: „Manchmal nicht so viel miteinander reden.“
Dazu passend hat man dann kurz das Gefühl, dass Fallon das auf seinen Konversationskärtchen vorbereitete Material auszugehen droht, und als er sich in seiner Beschreibung der schieren Erstaunlichkeit dieser Band verliert, liefert ein schlagfertiger Jagger dem Komiker die Pointe.
Fallon: „Also ihr habt doch gemacht, was noch nie jemand gemacht hat.“
Jagger: „Was denn? 18 Jahre darauf zu warten, ein neues Album zu machen?“
Und schon ist der Auftritt der Stones vorbei, sie können ein Bier trinken gehen oder vermutlich was Gesünderes, und es geht an die versprochene Videopremiere. Jimmy Fallon erklärt, dass es eine alte Tradition der Stones sei, immer eine der „heißesten Schauspielerinnen“ der jeweiligen Epoche in ihren Videos dabei zu haben. Er steigt von der Bühne herab und hält sein Mikro in Richtung der in Reihe eins sitzenden Sydney Sweeney (bekannt aus „The Handmaid’s Tale“, „Everything Sucks!“, „The White Lotus“) die im neuen Video zu „Angry“ eben diese traditionelle Rolle erfüllt.
Sie finde den Song sehr eingängig, sagt Sydney, und stellt Fallon ihre in der Reihe hinter ihr sitzende Mutter vor. Und schon sehen wir auf der Leinwand den Clip: Sweeney im offenen Wagen auf der Fahrt durch L.A. auf den Billboards spielen dabei die Stones in ihren verschiedenen Inkarnationen über die Jahrzehnte. Ihre Botschaft („Wir bleiben immer dieselbe Band“) ist dabei tatsächlich dieselbe wie quasi immer schon, jedenfalls seit Ende der Sechzigerjahre.
Der ROLLING STONE blickt verstohlen rüber zur Mutter der Schauspielerin. Sie schüttelt den Kopf und lächelt betreten, während ihrer Tochter auf der Leinwand viel Dekolleté und Hintern zeigt (sie trägt eine im Schritt offene Hose aus lose aneinander gehefteten Ledersternen mit viel Abstand dazwischen und hält sich nicht viel auf der Sitzfläche des Cabrios auf). Der Sitznachbar gratuliert der Mutter der Schauspielerin per Handschlag. Gut gemacht!