The Rebirth Of Cool: „Pulp Fiction“ erobert die Kinoleinwände
Das vielleicht größte, auf jeden Fall brutalste Kinomärchen der Neuzeit kam vor 30 Jahren in die Kinos: „Pulp Fiction“.
„Don’t be a square“, sagt Mia Wallace zu Vincent Vega und malt mit dem Finger in der Luft ein golden schimmerndes Quadrat („square“), so wie einst Mickey Mouse in „Fantasia“, und das sich gleich darauf in Luft auflöst – „sei nicht so kleinkariert“. Mit der Geste, die das reale Kinobild zum Zeichentrick macht, beschreibt sie doch ganz genau, was „Pulp Fiction“ ist: ein modernes Märchen, in dem alle Gesetze aufgehoben sind. In welchem Jahr, oder gar: In welchem Jahrzehnt spielt die Story? Unklar. So wie Vincent Vega (John Travolta), so soll auch der Zuschauer sich einfach nur fallen lassen.
Als „Pulp Fiction“ am 12. Mai 1994 seine Uraufführung in Cannes feierte, hat Regisseur Quentin Tarantino den Kritiker Roger Ebert nach dessen Meinung gefragt. Ebert sagte: Es handele sich hierbei entweder um den besten Film oder den schlechtesten, den er je gesehen hat. Weil „Pulp Fiction“ so vieles war, aber keinem Genre zugehörig. Jede Kategorie kapituliert gegen diesen Film. Krimi, Komödie, Thriller, Noir, Drogen-Epos, Roadmovie, Sadomaso-Hölle – klingt alles so klein dagegen. „Pulp Fiction“ sprengte den goldenen Rahmen, den Mia Wallace mit ihren Zeigefinger in den Himmel zeichnete.
Der Begriff „Pulp Fiction“ bezeichnet Trivial-Literatur, in der Kurzgeschichten versammelt sind. Auch hier fügen sich – chronologisch ungeordnete – Stories zu einem Ganzen; Titel wie „Vincent Vega and Marsellus Wallace’s Wife“, „The Gold Watch“ oder „The Bonnie Situation“ sind als Vorlage für Dialog-gesteuerte Szenen, in denen Harmlosigkeiten zu Explosionen führen, längst in Drehbuch-Seminare auf der ganzen Welt eingegangen. In diesen Pulp Stories erleben wir den Tod des einen Auftragsmörders, die biblische Erweckung des anderen; ein doch nicht so bestechlicher Provinzboxer, der plötzlich bei seiner Ehre gepackt wird; ein Kleinstadtganoven-Pärchen, das seine Träume begraben muss.
In der Welt von Regisseur und Co-Drehbuchautor Tarantino gibt es kein Gut und Böse, alles ist ebenso harmlos wie schwergewichtig. Die Märchenwelt hat ihre eigenen Gesetze. Die Posse darum, wie man den blutbesudelten Rücksitz einer Limousine reinigt, widmet Tarantino ähnliche Detailfreude wie einem Vortrag über Frauenfüße und dem metrischen System des Hamburgers.
Schon bald werden diese Details viel wichtiger als das Verständnis der ganzen Geschichte. „Pulp Fiction“ zerfällt in mächtige Einzeleindrücke. In der Lebenssphäre von „Pulp Fiction“ erleben wir: Killer, die schon um 8 Uhr geschniegelt und hellwach zur Tat schreiten, der „Wolf“ (Harvey Keitel) kommt sogar frisch um 8.30 von einer Party; als McGuffin ein Koffer, auf den der Boss scharf ist, dessen Inhalt aber nie gezeigt wird, nur das daraus tretende göttliche Strahlen; eine Heroin-Injektion, die im Kino in Zeitlupe und hoch aufgelöst noch nie so verführerisch aussah wie hier; eine Knebelung per Tischtennisball, die auf das Schlimmste gefasst macht. Zu allen diesen Szenen hat Tarantino einen Song-Soundtrack kompiliert, der vor allem erzählerisch eingesetzt wird. Darunter Unbekanntes wie die Neil-Diamond-Coverversion von „Girl, You’ll Be A Woman Soon“ (Urge Overkill), die sich um die unbedarfte Mia Wallace kümmert. Oder Vergessenes wie Dick Dales „Misirlou“. Im vielleicht bis heute einzigen Vorspann-Switch der Kinogeschichte tauscht der Regisseur das Stück mitten im Spiel einfach durch ein anderes aus, „Jungle Boogie“ von Kool & The Gang. So viele Songs, die untergebracht werden wollten.
Nicht zuletzt war „Pulp Fiction“ auch der Film des Hauptdarstellers. Daniel Day-Lewis, Sean Penn, Bruce Willis, William Hurt. Alle waren Anfang der Neunziger Stars, alle wollten die Rolle des Vincent Vega spielen. Bekommen hatte sie John Travolta – der vor Drehbeginn 1993 auf dem Tiefpunkt seiner Karriere angelangt war. Oder, wie es dessen damaliger Manager Mike Simpson brutal formulierte: „Travolta was at that time as cold as they get. He was less than zero.”
Aber Tarantino, damals 31, boxte bei der Produktionsfirma Miramax seinen Favoriten durch. Travolta sollte also den Mafiakiller verkörpern, auf den halb Hollywood scharf war. Konkurrent Bruce Willis wurde so zur zweiten Geige als traumatisierter Boxer Butch. In Interviews spricht Travolta offen von Tarantinos ungewöhnlicher Entscheidung. „Ich war so enttäuscht vom Verlauf deiner Karriere“, soll der Regisseur ihm gesagt haben. „Ich will das wieder in Ordnung bringen.“ Travolta: „Davon war ich tief gerührt.“ An einen Erfolg des „kleinen Indie-Films“ glaubte er nicht. Doch er spielte er den heroinabhängigen, langhaarigen Mörder im Smoking, der auch mit Bauchansatz noch geschmeidige Bewegungen auf der Tanzfläche hinbekommt. Die Huldigung an seine zuvor bekannteste Darstellung, in der Milieustudie „Saturday Night Fever“ (1977), war jüngeren Zuschauern gar nicht bewusst. Travoltas an einen Gesichts-Striptease erinnernde Zweifinger-Geste, die er beim Tanzen über die Augen zieht, wird bis heute kopiert.
„Pulp Fiction“, der 30 Jahre alt wird, wird nun in vielen Kritiker-, vor allem Fan-Listen als einer der besten Filme aller Zeiten aufgeführt. Dennoch bemäkeln viele Cineasten, und solche, die es werden wollen, Tarantinos Geschichten. Dass der Regisseur sein enzyklopädisches Kinowissen durch unzählige Zitate zur Schau stellt, stößt manchen auf; Totschlag-Argumente á la „Dann doch lieber das Original gucken, und hier habe ich diesen ganz bestimmten Tarantino-Diebstahl entdeckt“, begleiten ihn bis heute.
Das Märchen von „Pulp Fiction“ schien perfekt, bis ein anderes Märchen ihm den Garaus zu machen schien: Bei den „Oscars“ trumpfte 1995 „Forrest Gump“ in fast allen Kategorien auf, Tom Hanks gewann gegen Travolta, Regisseur Robert Zemeckis gegen Tarantino – dem als einzige Auszeichnung für sein Werk immerhin der Drehbuch-Preis blieb. Heute gilt die Niederlage seines „Schundfilms“ als eine der größten Fehlentscheidungen der Oscar-Geschichte. Das muss sich damals auch schon Samuel L. Jackson gedacht haben, der in der Rolle als Killer Jules ebenfalls für „Pulp Fiction“ Oscar-nominiert war. Auch er: übergangen. Jacksons Reaktion, als nicht sein Name, sondern der Martin Landaus vom Oscar-Zettel abgelesen wurde, konnte man an den Lippen ablesen: „Shit“.
Eine Frage bleibt: Funktioniert dieser eine Trick, Spritze ins Herz, wirklich?