The Jesus and Mary Chain live in Berlin: Die den Rock’n’Roll lieben
Fast 20 Jahre lang haben The Jesus and Mary Chain keine Tour in Deutschland absolviert. Bei ihrem Auftritt in Berlin sind sie fast so laut wie einst – und die nostalgischen Fans lieben es.
In einer gerechteren Welt würden sie Könige des Rock sein, schon im Eröffnungsstück „Amputation“ wird innerhalb der ersten Minute viermal „Rock’n’Roll“ skandiert, und am Ende des Auftritts folgt die Bilanz: „I Love Rock’n’Roll“ und „I Hate Rock’n’Roll“. Auch optisch stehen The Jesus and Mary Chain in alter Tradition: Sie wirken wie die jüngere Ausgabe der Rolling Stones, das musikalische Rückgrat des Schlaks Jim Reid bilden zwei Gitarren – darunter die von Bruder William –, Bass und Schlagzeug. Unter neueren Quintetten präsentieren sich nur noch The Strokes in so beeindruckender Formation.
Das Meer aus Krach
Basis des Schotten-Rocks sind Feedbacks, und das Publikum im ausverkaufen Haus muss in Kauf nehmen, dass manche Songs im Meer aus Krach verschwimmen. Aber wie großartig man weggespült wird. Auch wegen der Freude, dass JAMC das letzte Mal in Deutschland vor fast 20 Jahren aufgetreten sind. Mit „You Call It ‘Schadenfreude‘“ kündigt Reid also „Teenage Lust“ an, zitiert ein Wort, das die Briten lieben, weil sie eines mit dieser Bedeutung in ihrer Sprache nicht haben. Das Schlagzeug von „Blues From A Gun“ pumpt neues Leben in jene Lieder, die Anfang der Neunziger durch Drumcomputer und Madchester-Rhythmen verhunzt wurden. „Reverence“ wird so zur besten heimlichen Coverversion des Stooges-Songs „I Wanna Be Your Dog“.
Reid ist 55, viele Fans sind mitgealtert, haben die Resthaare schwarz gefärbt und toupiert. Der Sänger, Röhrenjeans, hochgezogene Schultern, imitiert noch immer den Storchengang, wie er in den Indie-Discos der 1980er-Jahre zelebriert wurde. Der wie am Boden festgewachsene Bruder William sieht mit Vogelnestfrisur und dickbauchiger Gibson-Gitarre derweil aus wie der Beethoven des Underground.
Extra für den neuen Song „Always Sad“ kommt Gastvokalistin Bernadette Denning auf die Bühne, sie ist auf dem Comeback-Album „Damage and Joy“ zu hören. Anscheinend begleitet sie die Band bei ihrer Tour. Reid und die Newcomerin singen ihr Duett. Nein, ein Anti-Duett. Denning haucht „You’re The Best I Ever Had“, am zweiten Mikro, meilenweit entfernt von Reid, der starr nach vorne blickt.
Rock’n’Roll, so sieht’s wohl aus, kennt keine Umarmungen.