The Harlem Shuffle
Wie der Weiße Mann den Blues bekam..
Eine kleine Etagenwohnung auf Chicagos South Side. Die Adresse: Calumet 3652. An einem Samstagabend im Sommer 1943 sitzt hier ein großer, kräftiger Mann. Eben erst ist er an der Illinois Station angekommen. Sechzehn Stunden im Zug hat er hinter sich, aufgebrochen ist er tags zuvor in Clarksdale, Mississippi. Fürs Erste ist der 28-Jährige mit dem flotten Menjou-Bärtchen nun bei Freunden untergekommen. Einen Job haben sie ihm schon beschafft. Am Montagnachmittag wird er sich pünktlich um drei Uhr zur Spätschicht in einer Papierfabrik melden. Mitgebracht hat er das, was er auf dem Leib trägt, dazu einen Anzug, ein paar gesparte Dollars und eine Akustikgitarre der Marke Sears Silvertone. Lange hatte er von der Reise in den Norden nur geträumt, nun aber hat er sich spontan dazu entschlossen. Der Anlass: Wieder einmal hatte es sein Vorarbeiter auf der Stovall Farm abgelehnt, den Stundenlohn des Traktorfahrers von zweiundzwanzigeinhalb Cent auf einen Vierteldollar zu erhöhen. Daraufhin hatte McKinley Morganfield genug. Er packte seine Habseligkeiten und verschwand. Für immer.
So in etwa berichten diverse Biografien (die lesenswerteste stammt von Robert Gordon: „Pate des Electric Blues“, Hannibal 2004) von dem Moment, als Muddy Waters in die Stadt Al Capones kam. Er war nicht der erste schwarze Landarbeiter, der seine Heimat verließ, um in der Stadt sein Glück zu suchen. Hunderttausende hatten es vor ihm getan. Gern gesehen waren sie bei den weißen Städtern nicht. Black is beautiful? Von wegen, die Rassentrennung war so allgegenwärtig wie unüberwindlich, und schwarze Brüder und Schwestern in den USA auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Sklaverei allenfalls geduldet. Gebraucht wurden sie höchstens als ungelernte Arbeiter, die für ein paar Dollars in den riesigen Autofabriken und Stahlwerken schufteten. Ein hartes Leben – und doch paradiesische Verheißung für Hunderttausende, die sich in Richtung Norden aufmachten, entlang der Highways 41, 51 und 61 sowie der Eisenbahnlinie, die aus dem Mississippidelta in die „Sindy City“ Chicago führte.
Denn viel zu ernten gab es auf den Baumwollfeldern des Südens für sie nicht. Das Dasein als Landarbeiter war entbehrungsreich, die Zukunftsaussichten trübe. Wer auf sich hielt, sah zu, dass er Land gewann – in Richtung Norden. Gründe gab es genug: Die flächendeckende Schädlingsepidemie etwa, die kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs große Teile der Baumwollernte vernichtet hatte. Oder die große Flut von 1927, die Hunderttausende der Ärmsten obdachlos machte. Und nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise von 1929. Der Ku Klux Klan tat ein Übriges und terrorisierte Schwarze, wo er nur konnte; allein zwischen 1910 und 1919 wurden in den Südstaaten rund 750 Fälle von Lynchjustiz und Mord an Afroamerikanern aktenkundig. Zu Beginn der dreißiger Jahre war das Wirtschaftssystem auch im Süden vollends aus den Fugen geraten. Die Zeche zahlten die da unten, nicht die da oben. Zudem begann die Technik unaufhaltsam Arbeitsplätze auf den Baumwollfeldern zu vernichten, Traktoren ersetzten die Maultiere, zunehmend wurde die Ernte maschinell erledigt. Rette sich, wer kann…
Der große Treck hinauf in die Industriestädte ist einer der wichtigsten Schlüssel, um die kulturelle Entwicklung in den USA des letzten Jahrhunderts zu verstehen. Schätzungen zufolge waren es gut fünf Millionen Afroamerikaner, die zwischen 1910 und 1950 nach Norden wanderten. Ein Prozess, der zwischen
den Weltkriegen seinen Höhepunkt erreichte. So verdoppelte Chicago seine Einwohnerzahl von der Jahrhundertwende bis 1930 von 1,6 Millionen Menschen auf knapp 3,4 Millionen. Desgleichen Memphis, dessen Bevölkerung sich zwischen 1910 und 1950 verdreifachte. Nicht viel anders erging es St. Louis, Kansas City, Detroit und natürlich New York. Auf der South und West Side Chicagos siedelte sich die größte schwarze Gemeinde oberhalb der Mason-Dixon-Line an. Und der ging es dort deutlich besser. Während Ende der vierziger Jahre das durchschnittliche Jahreseinkommen für Afroamerikaner im Bundesstaat Mississippi noch bei 439 Dollar lag, betrug es in Chicago zur selben Zeit bereits ansehnliche 1.919 Dollar.
Nicht nur Kind und Kegel, auch ihre Kultur brachten die Zuwanderer mit. Vor allem die Musik. Lieder, die sie bei den Barbecues, beim samstäglichen Tanz in den Juke Joints oder beim sonntäglichen Kirchgang gesungen hatten. Und längst bevölkerten die Musiker, die kurz zuvor noch in Louisiana, Texas und Mississippi von Kneipe zu Kneipe gezogen waren, die Bühnen der Vergnügungsviertel um die berüchtigte Beale Street in Memphis oder den Matthew Street Market in Chicago.
Die neue Umgebung veränderte auch die Musik selbst. Der primitive Countryblues passte sich schnell den Bedingungen des lauten Stadtlebens an. Bis erallerdings zu dem elektrischen Chicago Blues reifte, der das Pulverfass der Rockmusik mit entzündete, sollte es noch gute zwanzig Jahre dauern. Jetzt aber, Mitte der dreißiger Jahre, hatte der Blues gerade erst den Schritt von der archaischen Volkskunst zur modernen, urbanen Unterhaltungsmusik vollzogen – freilich beschränkt auf den schwarzen Markt. Sein Gesicht war das von Bessie Smith, der „Empress“, die 43-jährig im Jahr 1937 bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie hatte die junge Musik zur universellen, weit über den eingeschränkten Wirkungsgrad des Deltablues hinausreichenden Kunst gemacht.
Zuvor gehörte er allenfalls zu den Attraktionen von Jahrmärkten und Medicine Shows. Das aber auch erst, nachdem der schwarze Komponist W.C. Handy dem ländlichen Folklorestil 1914 mit seinem „St. Louis Blues“ eine Form gegeben und ihn so für den Unterhaltungsbetrieb der Vaudeville-Theater und Minstrelshows tauglich gemacht hatte. Sängerinnen wie Ma Rainey popularisierten ihn dann, und 1920 landete die New Yorkerin Mamie Smith mit dem „Crazy Blues“, der ersten Aufnahme eines gesungenen Bluessongs, einen Überraschungshit in der noch jungen Plattenbranche. Prompt stürzten sich die Schallplattenfirmen auf den neuen Trend, nannten das Ganze „Race Music“ und sandten eilig Aufnahmeteams mit mobilem Equipment in den Süden, wo sie jeden Rumtreiber mit Gitarre aufnahmen, der nicht schnell genug auf seine Plantage geflüchtet war. Die Talentiertesten, Charlie Patton, Blind Lemon Jefferson und Blind Willie McTell, brachten es zu bescheidenem Wohlstand und womöglich gar einem protzigen Automobil, mit dem sie auch zu entfernten Gigs in die schwarzen Ghettos der Großstädte reisen konnten. Die Weltwirtschaftskrise aber machte all dem den Garaus. Kein Mensch konnte sich mehr Platten leisten, und die Labelbosse verließen sich fortan lieberauf ihr Kerngeschäft – Klassik, Musical und Filmschlager. Der Blues hingegen geriet in Vergessenheit, selbst veritable Stars wie Bessie Smith waren in den Depressionsjahren kaum noch gefragt.
Populär war längst ein anderer Stil – ein Kind des Blues: der Jazz. Auch seine Geschichte hatte um die Jahrhundertwende begonnen, Brennpunkt war New Orleans. Als dort Leute wie der sagenhafte Buddy Bolden, Joe „King“ Oliver und Edward „Kid“ Ory ihre ersten Bands gründeten, entstand aus europäischen, kreolischen und schwarzafrikanischen Einflüssen eine Musik, die auf Vitalität, Spontaneität und solistische Improvisationen setzte. Die Wiege des Jazz mag in New Orleans gestanden haben. Wo genau er gezeugt wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich in verschiedenen Teilen des Landes frühe Formen des Jazz entwickelt. Die erfolgreichste davon war der Ragtime, der erstmals mit synkopierten Rhythmen arbeitete und in Scott Joplin, einem ambitionierten Salonpianisten aus Sedalia, Missouri, seinen Meister fand. Joplins „Maple Leaf Rag“ gilt als einer der ersten Hits der schwarzen Musik, und er rief etliche Trittbrettfahrer auf den Plan. Vor allem die weißen Komponisten der auf der 28. Straße in New York beheimateten Musikverlage, der sogenannten Tin Pan Alley. Sie waren immer scharf auf neue musikalische Tricks und nahmen die Mode schnell auf. Mit Erfolg, eine Zeit lang lief jeder Titel bestens, der das Wort „Rag“ enthielt, auch wenn er sonst mit dem Ragtime nichts zu tun hatte. Das Beispiel machte Schule, und die Ausbeutung schwarzer Musikstile sollte bis weit in die Ära von Rock und Pop zum festen Repertoire der weißen Unterhaltungsindustrie gehören.
Die Geschichte des Jazz bestätigt das nachhaltig, auch wenn der Stil, im Unterschied zum Blues, fast von Anfang an auch von weißen Musikern gespielt wurde. Die Verwässerung des Originals zur Schlagerkonfektion gehörte beim Jazz von Beginn an zur Tagesordnung. Da passt ins Bild, dass die erste verbürgte Schallplattenaufnahme des Jazz im Jahr 1917 auf das Konto der nur aus Weißen bestehenden Original Dixieland Jass (sic!) Band ging, die zwei Jahre später auch als erste Vertreter dieser Musik in der Alten Welt, nämlich in England, auftrat.
Längst hatte der Jazz seinen Weg auch in die großen US-Metropolen gefunden. Zum Beispiel nach Chicago, wo seine Evolution in den Zwanzigern die nächste Stufe erreichte und die ersten bedeutenden weißen Solisten auf den Plan traten, allen voran der begnadete Kornettist Bix Beiderbecke. Auch das weiße Publikum fand Geschmack an der Sache. Selbst im fernen Europa war die „Hottentottenmusik“ plötzlich das Ding der Stunde, Gastspiele amerikanischer Jazzgrößen in London, Berlin und Paris waren an der Tagesordnung. Gegen Ende der „Roaring Twenties“ war in den Zentren Chicago und New York eine Generation von jungen Musikern herangewachsen, die den Jazz auf den Gipfel seiner Popularität führen und auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte. Primus inter pares: Louis Armstrong, der das Solospiel mit seinen Hot Five und Aufnahmen wie dem „West End Blues“ revolutionierte. Nicht weniger wichtig: die jungen Duke Ellington und Benny Goodman. Und der einflussreiche Bandleader Fletcher Henderson, der als wichtigster Architekt des Big-Band-Sounds gilt.
An Armstrongs Karriere lässt sich zum ersten Mal verfolgen, dass ein weißes Publikum trotz in Stein gemeißelter Rassentrennung inzwischen bereit war, auch schwarze Stars im Mainstream-Entertainment zu akzeptieren. Armstrong war der erste schwarze Musiker, der in den Kreis der gut verdienenden Showstars aufstieg. Dass er sein vergnügtes Grinsen und sein musikalisches Talent nur allzu bereitwillig in den Dienst der jungen Traumfabrik von Hollywood stellte, nahmen ihm allerdings viele übel. „Satchmo“ indes, ein bisweilen etwas naiver Instinktmensch, der seine Jugend in ärmlichsten Verhältnissen zugebracht und zeitweise in einem Waisenhaus gelebt hatte, konnte nichts Schlechtes daran finden, den Menschen, auch den weißen, Freude zu bringen und dabei gutes Geld zu verdienen. Zumal ihm spätestens, nachdem der Swing zur (weißen) Popmusik aufgestiegen war, erfolgreiche Rassenbrüder wie Duke Ellington, Lionel Hampton und Count Basie nachfolgten.
Die ganz große Showbiz-Nummer jedoch blieben weiße Bandleader wie Benny Goodman, Artie Shaw oder die Dorsey-Brüder Tommy und Jimmy. Sie schöpften den Ruhm ab, auch wenn ihre Musik maßgeblich von schwarzen Arrangeuren geprägt wurde. Ihre Orchester aber blieben so weiß wie die Clubs, in denen sie spielten: Das berühmte Alhambra, der Rainbow Room und der Cotton Club in Harlem – dort begründete die Ellington-Band ihren Ruhm – ließen bis 1937 ausschließlich weiße Gäste ein. Zu schweigen von dem ungeschriebenen Gesetz, dass schwarze Musiker nicht in weißen Bands spielen durften (s. S. 51,
„Apartheid auf der Bühne“). Auch wenn die Musiker untereinander kaum Berührungsängste hatten, authentische schwarze Musik hatte in der weißen Unterhaltungswelt nun mal nichts verloren. Dass sich das ändern würde, dafür sorgte ein junger Weißer aus einer schwerreichen New Yorker Familie. John Hammond war ein an der Yale Universität ausgebildeter Violinist und Gelegenheitsjournalist, der schon in jungen Jahren ein Faible für die Musik der Schwarzen entwickelt hatte. Bereits als 23-Jähriger hatte er mit Bessie Smith Plattenaufnahmen gemacht und 1933 die damals 17-jährige Billie Holiday entdeckt. 1938 setzte er sich in den Kopf, in der ehrwürdigen, für Klassik reservierten Carnegie Hall ein Konzert zu veranstalten, mit dem er dem staunenden New Yorker Publikum Originale des Jazz und Blues vorstellen wollte. Unerhört, wenn man bedenkt, dass diese Musik bis dahin ausschließlich in düsteren Kaschemmen und zur Partymeile umfunktionierten Lagerhallen stattgefunden hatte. Für die Show „From Spiritual To Swing“ am 23.12.1938 lud er neben Zugpferden wie Benny Goodman und Count Basie schwarze Entertainer und Gospelgruppen ein. Dazu wollte er auch Repräsentanten des nach wie vor lebendigen Countryblues präsentieren. Einer von ihnen, der mysteriöse Robert Johnson, war kurz zuvor, im August 1938 bei einem Streit in Greenwood, Mississippi, unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen ums Leben gekommen. Statt seiner verpflichtete Hammond den ehemaligen Baumwollpflücker und nun in Chicago erfolgreichen Bluesbarden Big Bill Broonzy.
Das Konzert verfehlte seine Wirkung nicht. Plötzlich war Swing salonfähig, und ein weißes Bildungsbürgerpublikum war zum ersten Mal der puren Emotionalität von Gospel, Spiritual und unverfälschtem Blues begegnet. Zwar hatten dessen Protagonisten zunächst kaum etwas davon. Reich und berühmt wurden sie nicht, und das Business fand für sie weiterhin am Katzentisch der „Race Music“ statt, wohl aber begann ihre Musik nun allmählich einen Weg in das Bewusstsein eines weißen Publikums zu finden.
Dass dies auch über Goodman, den wohl größten Musikstar seiner Zeit, lief, auch dafür zeichnete John Hammond verantwortlich. 1939 schwatzte der umtriebige Impresario seinem Schwager Benny einen schwarzen Gitarristen auf, den er in Oklahoma City aufgetan hatte: Charlie Christian. Zunächst wehrte sich Goodman, der von der neu aufgekommenen elektrischen Gitarre nicht sonderlich viel hielt, sehr schnell aber wusste er die Qualitäten des 23-Jährigen zu schätzen. Christian entwickelte sich in Windeseile zur Stütze in Goodmans Band und erschloss der Gitarre mit überbordender Musikalität und brillanter Spieltechnik praktisch im Alleingang ein Ausdrucksspektrum, das erst Jahrzehnte später durch Wes Montgomery und Jimi Hendrix erweitert wurde. Tragischerweise starb Christian schon am 2. März 1942 an den Folgen einer Tuberkulose. Die elektrische Gitarre aber gehörte da bereits zum festen Arsenal in Jazzerkreisen. Und nicht nur da…
Zurück zu McKinley Morganfield in den Sommer 1943: Mit offenem Mund bestaunt der bei seinen ersten Exkursionen in Chicagos Nachtleben den texanischen Gitarristen Aaron „T-Bone“ Walker. Der Bursche ist ein geborener Showman. Seine bauchige Gibson-Gitarre traktiert er gern hinter dem Kopf, lässt Clownerien wie den „Duckwalk“ sehen und ergießt dabei auch noch eine verblüffend virtuose Flut von Melodien über das Publikum, die er auf den einzelnen Saiten spielt. Dabei dreht er seinen Verstärker so weit auf, dass er sich problemlos gegen das rumpelnde Schlagzeug und die kräftigen Bläser durchsetzen kann. Ein Sologitarrist – das ist neu in Bluesbands. Kein Wunder, dass McKinley seine Akustikgitarre nun gegen ein elektrisches Modell eintauscht. Es dauert nicht lange, und der Mann, der seinen charakteristischen Sound mit einem kleinen Slide-Röhrchen am Finger erzeugt, hat sich den Respekt der Platzhirsche auf der South Side erspielt. Bald nennt er sich Muddy Waters und hat seine eigene Band.
Er träumt davon, die Musik zum Beruf zu machen. Immerhin, so ganz unmöglich ist das für einen schwarzen Musiker Mitte der vierziger Jahre nicht mehr, denn die Situation hat sich grundlegend geändert. Blues und Hillbilly haben plötzlich eine Lobby. Erstmals entwickeln sich Strukturen einer unabhängigen Musikindustrie, die auch denen Verdienstmöglichkeiten bietet, die nicht dem etablierten, von Weißen kontrollierten Entertainment-Betrieb angehören. Verantwortlich für den frischen Wind im Business ist der gerade beigelegte Streit zwischen der American Society of Composers, Authors and Publishers (ASCAP) und der Vereinigung der Rundfunksender. Bis 1940 war das Radio in seiner Programmgestaltung vollkommen abhängig von der ASCAP. Denn die war die landesweit einzige Verwertungsgesellschaft für musikalische Rechte und nutzte das kaltblütig aus, indem sie dem Radio die Preise für die Aufführungsrechte diktierte. Dazu aber schloss sie durch rigorose Aufnahmebestimmungen alle Komponisten aus, die nicht den mächtigen Musikverlagen von New Yorks Tin Pan Alley angehörten. So bestand das Rundfunkprogramm ausschließlich aus ASCAP-Titeln, und das lukrative Musikgeschäft blieb in der Hand weniger Verlagsbosse – Blues und Hillbilly mussten draußen bleiben. Musiker dieser Genres fanden ohnehin kaum noch Öffentlichkeit, seitdem die Plattenbranche darniederlag. Die Macht des weißen Systems schien bis zum jüngsten Gericht gesichert.
Dabei stand dieses jüngste Gericht unmittelbar bevor, erstes Indiz: 1939 wurde die „Grand Ole Opry Show“ aus Nashville in landesweite Sendernetz der NBC eingespeist. Plötzlich war Hillbillymusik in ganz Nordamerika zu hören. Im selben Jahr kam es zum bereits erwähnten Krach. Die unter mangelnden Zuwachsraten leidende ASCAP wollte die Lizenzgebühren für ihre Musik drastisch erhöhen, überraschenderweise aber wehrten sich die Sender. Sie gründeten kurzerhand eine eigene Verwertungsgesellschaft, die Broadcast Music Incorporated (BMI), in der sich die unabhängigen Komponisten zusammenschlössen, und boykottierten die ASCAP. Folge: Statt der populären Film- und Broadwayschlager aus Tin Pan Alley dudelte plötzlich die Musik des Hinterlandes aus den Empfängern. Und vielen gefiel sie. Mit zusammengebissenen Zähnen hielten die Sender ihren Boykott durch, bis es 1944 zur Einigung kam. Das ASCAP-Monopol war gebrochen. In seiner historischen Bedeutung ist dieser Streit kaum zu überschätzen, denn er machte den Weg frei für eine Demokratisierung des amerikanischen Musikbetriebes.
Als Muddy Waters seine erste Band gründet, finden endlich auch regionale Entwicklungen eine wirtschaftlich aussichtsreiche Basis, erhalten auch unabhängige Komponisten Zugang zu den bislang auf der Tin Pan Alley eifersüchtig bewachten Futternäpfen und bekommt auch Musik, die nicht in New York oder Hollywood entstanden ist, ihre Chance im Rundfunk. Tin Pan Alley verliert rapide an Einfluss, die Radioprogramme werden vielfältiger, und der Geschmack des Publikums wird nicht mehr nur in den Büros der einst allmächtigen Verleger geformt. Statt dessen kümmern sich lokale Sender nun auch um die Musik vor der Haustür, dazu beginnt sich die Plattenbranche von den Krisenjahren der Dreißiger zu erholen, zumal nun auch die kriegsbedingte Schellackrationierung und ein gewerkschaftlicher Boykott von Plattenaufnahmen Geschichte sind.
Kleine Labels wie Aristocrat (später Chess), Mercury und Vee-Jay in Chicago oder Imperial und Specialty in Los Angeles operieren erfolgreich auf regionaler Ebene und bauen neue Stars auf, darunter jede Menge schwarze. Zwar ist der Markt der „Race Music“ nach wie vor hermetisch vom weißen Mainstream und dessen Publikum abgeschlossen und wie im Fall von Chess oder der nicht minder ruhmreichen New Yorker Marke Atlantic in der Zeit, lief, auch dafür zeichnete John Hammond verantwortlich.
Bis Ende der vierziger Jahre entwickelt sich in den Metropolen ein quicklebendiges Business. sich den Respekt der Platzhirsche auf der South Side erspielt. Bald nennt er sich Muddy Waters und hat seine eigene Band. Und auch musikalisch tut sich einiges. Die Big-Band-Ära des Swing ist vorbei, Mitte der vierziger Jahre wandelt sich der Jazz unter Führung junger Leute wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Thelonious Monk zum Bebop und damit zur intellektuellen Kopfmusik, deren Einfluss auf den Mainstream deutlich nachlässt. In den Musikzentren New York und Los Angeles fallen die kaum noch zu finanzierenden Big Bands auseinander, übrig bleiben kleine Gruppen mit reduziertem Personal, die einen neuen, beweglicheren Stil entwickeln und offen sind für neue Einflüsse wie den urbanen Blues, den sie mit musikalischer Eleganz zum Mainstream-Pop aufwerten. Die wohl wichtigste Band dieser Phase: Louis Jordan £t His Tympany Five. Katalysatoren in diesem Prozess sind Männer wie die Gebrüder Chess in Chicago, Johnny Otis in Los Angeles und die Ertegun-Brüder in New York. Dazu inspirieren Gesangsstars wie Billie Holiday und Ella Fitzgerald mit ihrem Scatgesang die junge Rhythm’n’Blues-Szene. Gospel und Spirituals werden zum Faktor auf dem wieder erstarkten Plattenmarkt, vor allem gepusht durch die charismatische Mahalia Jackson, die agile Sister RosettaTharpe und Gesangsgruppen wie das Golden Gate Quartet. Überhaupt Gospel: Pioniere wie die Ink-Spots beginnen, dessen Spiritualität und emotionsbetonten Vortrag aus dem religiösen Umfeld zu lösen und für einen kommerziellen Markt aufzubereiten. Es ist der Anfang dessen, was eine Dekade später durch Ray Charles, Ruth Brown, Sam Cooke, James Brown und Gesangsgruppen wie The Coasters, The Drifters und The Platters als Soul bekannt werden Genres fanden ohnehin kaum noch Öffentlichkeit, seitdem die Plattenbranche darniederlag. Die Macht des weißen Systems Der Blues indes hat sich auf ein neues Instrumentarium verlegt und operiert nun mit E-Gitarre, Klavier, Harp und einer aus Kontrabass und Schlagzeug bestehenden Rhythmusgruppe. Eine der erfolgreichsten dieser Bands gehört jenem McKinley Morganfield. Sein alter Name ist, wie auch der Job als Traktorfahrer auf der Stovall-Plantage in Clarksdale, Vergangenheit. Die Zukunft gehört Muddy Waters. Neben Koryphäen wie Howlin‘ Wolf, Willie Dixon, Elmore James, John Lee Hooker und Sonny Boy Williamson II gehört der selbsternannte „Hoochie Coochie Man“ zu den Giganten des städtischen Electric Blues, der einen der wichtigsten Brückenköpfe in die musikalische Moderne von Pop und Rock bilden wird. Verwertungsgesellschaft, die Broadcast Music Incorporated (BMI), in der sich die unabhängigen Komponisten zusammenschlössen, Und Tin Pan Alley? Das Geschäft mit dem weißen Schlager floriert zwar noch immer, die dort beschworenen Küsse im Mondenschein haben in den Jukeboxes noch immer Konjunktur. Aber die wirklich spannende Musik spielt längst woanders. Rhythm’n’Blues und Hillbilly sind rauer, zupackender, ihre Texte lebensnaher und gewitzter. Auch den weißen Kids dämmert das Anfang der fünfziger Jahre. Zwar ist die Rassentrennung noch immer tägliche Realität und die Bürgerrechtsbewegung liegt in weiter Ferne – die Integration der afroamerikanischen Musikkultur aber ist im Amerika des Jahres 1950 längst vollzogen. Zu überhören ist der Sound des schwarzen Mannes schon lange nicht mehr, Jive £t Blues sind fest verankert in der DNA der weißen Nachkriegsjugend. Basis, erhalten auch unabhängige Komponisten Zugang zu den bislang auf der Tin Pan Alley eifersüchtig bewachten Futternäpfen Inzwischen spielen die Radiostationen neben den Hillbilly-Hits von Hank Williams und Eddy Arnold oder Bob Willis‘ Western Swing auch den vergnügten Jive von Louis Jordan, Mahalias Gospels und den Rhythm’n’Blues von Big Joe Williams und Wynonie Harris. Natürlich in erster Linie für schwarze Hörer. Zum Beispiel die in der Etagen wohnung Calumet 3652 auf Chicagos South Side – aber auch weiße Jungs wie Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Carl Perkins und Buddy Holly hängen wie gebannt an den Lautsprechern. Die Lunte glimmt…