Wie aus dem verwunschenen „Get Back“ das letzte Album der Beatles wurde
„Get Back“ wurde zur Belastungsprobe für die Beatles. Doch aus dem Schwanengesang der Fab Four entstand „Let It Be“. Eine Rekonstruktion.
Es sollte die Rückbesinnung auf ihre Anfänge werden: Rock’n’Roll wie zu Hamburger Star-Club-Zeiten statt Konzept-Pop, wie sie ihn in „Sgt. Peppers’s Lonely Hearts Club Band“ aufführten.
Vielmehr aber wurde „Get Back“ zur Belastungsprobe für die Beatles. Eine, an deren Ende immerhin der Schwanengesang der Band stand: Das allerletzte Album der Fab Four, „Let It Be“.
1968 galt als das Schicksalsjahr der Fab Four. Manager Brian Epstein war plötzlich verstorben. Nach dessen Tod hatten die Beatles ihre eigene Plattenfirma gegründet, „Apple Records“, jedoch von Geschäften keine Ahnung. Und Epstein war weit mehr als nur Geschäftsmann: Er hielt John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr zusammen, denn zwischen den einstigen vier Liverpooler Freunden waren über die Jahre tiefe Gräben entstanden. Lennon und McCartney stritten über die musikalische Richtung ihrer Band, Leidtragende waren ihr zweiter Gitarrist George Harrison und Schlagzeuger Ringo Starr. Besonders der sensible Harrison, der sein Talent als Komponist bei den Beatles selten ausleben durfte, wurde zum Opfer von McCartneys Wutattacken.
Eigentlich feierten John, Paul, George und Ringo immer mit ihren Familien und Freunden ein großes gemeinschaftliches Weihnachtsfest, doch 1968 war nach dem Tod Epsteins alles anders. Und da drei Viertel der Band Yoko Ono nicht leiden konnten, hielten sie und ihr Lebensgefährte John sich von der Feier fern.
Keine Lust auf live
Bereits am 2. Januar 1969 trafen die Fab Four jedoch wieder zusammen, um an einem neuen Album zu arbeiten. Programmatischer Arbeitstitel: „Get Back“. Es war vor allem McCartneys Idee, wieder zu den Wurzeln zurückzukehren. Idee zwei: Die Arbeiten zur Platte sollten gefilmt werden. Als Regisseur wurde Michael Lindsay-Hogg verpflichtet, der zuvor die Promo-Clips für „Paperback Writer“ und „Hey Jude“ leitete; die Produktion übernahm Band-Assistant Neil Aspinall.
Dieser „Get Back“-Film sollte dann, so Pauls Vorstellung, mit einem Live-Gig enden. Doch alle anderen Beatles hatten keine Lust live zu spielen. Seit drei Jahren waren sie nicht mehr aufgetreten, zum einen, weil die komplexen Studioversionen auf der Bühne mit vier Musikern nicht mehr reproduzierbar waren. Aber auch, weil die berühmteste Band der Welt einst auf dem Höhepunkt der Beatlemania schlicht von ihren Fans niedergekreischt wurde, ihre eigenen Instrumente nicht mehr hören konnte. Alle Bandmitglieder empfanden das als traumatisch.
McCartney schien den Ernst der Lage 1969 nicht zu erkennen. Die Beatles waren am Ende, doch er behielt stoisch die Zügel in der Hand, kam mit neuen Ideen und peitschte seine Kollegen durch die Songs. Selbst Harrison platzte dabei einmal der Kragen, so dass er das Film-Set einfach verließ und erst Tage später wiederkam. Legendär ist Harrisons im Video dokumentierter Versuch, beim Spielen den Kollegen zu beruhigen: „I’ll play whatever you want. Just tell me what“ – mitten in Maccas irritiertes Gesicht hinein. Yoko Ono ließ sich derweil ein Bett in das „Apple“-Haus stellen. Onos stille, beobachtende Teilnahme an den Sessions trieb Paul, George und Ringo auf die Palme. Ausflippen wollte aber dann doch keiner.
Der legendäre Rooftop Gig
Letztendlich bekam McCartney dann doch sein Konzert. Am 30. Januar spielten die Beatles ihren ersten Gig seit 1966, auf dem Dach vom Apple-Haus in der Londoner Saville Row. Es sollte als „Rooftop Concert“ in die Geschichte eingehen: Keine Zuschauer, nur die Band, ein paar ausgewählte Gäste und das Filmteam. Und mehr und mehr Passanten auf der Straße, die sich fragten, was da oben, wo Musik zu hören war, überhaupt vor sich geht. McCartney sagte: „Es war schon ein seltsamer Auftrittsort. Ausserdem hatten wir dort oben kaum Publikum, nur ein paar Leute. So spielten wir buchstäblich das Nichts an. Vor uns war nur der Himmel. Es war schön.“
Der Gig ist legendär, nicht nur wegen der Rooftop-Idee, sondern weil die Zerstrittenheit den Bandmitgliedern, die zusammen mit Organist Billy Preston elf Stücke spielten, nicht anzumerken war. Dabei waren die Aufnahmen zu „Get Back“ tendenziell unbrauchbar. Für die Vorgängerplatte „The Beatles“, bekannt als das „Weiße Album“, konnten die Musiker noch in der Abgeschiedenheit ihrer indischen Pilgerstätte in Rishikesh, während ihres dreimonatigen Besuchs beim Maharishi Mahesh Yogi, an ihren Liedern feilen. Für „Get Back“ warfen sich die vier ohne kompositorische Vorarbeit in ihre Jams.
Die Fab Four gingen nach wenigen Tagen wieder getrennte Wege. Im März 1969 beauftragten Lennon und McCartney den Beat-Produzenten Glyn Johns das Album fertigzustellen. Er durchforstete die endlosen Sessions und Demos nach brauchbarem Material, und Ende Mai stellte er die erste Version vor.
Das Album enthielt in dieser Fassung weniger Stücke als „Let It Be“, aber zusätzlich „Teddy Boy“, der 1970 auf Maccas erstem Solo-Album landen sollte; außerdem „Rocker“, „Save The Last Dance For Me“, sowie Alternativ-Versionen von „Don’t Let Me Down“ (später B-Seite des Songs „Get Back“), „Dig It“ (vier Minuten lang statt 58 Sekunden) sowie „The Long and Winding Road“ ohne Orchester.
Ein Hit musste her!
Es ging weiter im Stop-and-Go-Verfahren: Die Arbeiten zu Film und Album wurden wieder eingestellt, noch immer waren die Beatles nicht zufrieden. Erst als sich abzeichnete, dass das Geld knapper wurde und Apple mit seinen Projekten (Spielfilme sollten das Portfolio erweitern) Verluste einspielte, sah sich John Lennon bemüht den Beatles neue Impulse zu geben. Ein Hit musste her! Mit Paul McCartney begab er sich ins Studio, um „The Ballad Of John And Yoko“ aufzunehmen. Überzeugt vom Ergebnis wurden auch George und Ringo wieder involviert. Im Juli 1969 fanden sich die Beatles also wieder zusammen, und endlich schien die Zusammenarbeit erneut zu funktionieren.
Harrison präsentierte McCartney „Here Comes The Sun“ und „Something“, seine zwei bis dato schönsten Stücke, und dieser arbeitete mit einer gesunden Besessenheit an neuen Songs. Legendär sollte „Abbey Road“ vor allem wegen seiner, in enger Zusammenarbeit mit Produzent George Martin entstandener Konfiguration der zweiten LP-Seite werden: Die Beatles präsentierten elf Songs als Medley ohne Pause, eine für damalige Produktionsverhältnisse außerordentliche Montage-Leistung. Alle waren zufrieden. So erschien noch 1969 also „Abbey Road“, für viele Fans gar die liebste Beatles-Platte – ohne, dass das Material der „Get Back“-Sessions zuvor veröffentlicht wurde.
Erst als der dazugehörige Film fertig war, fanden sich die Beatles am 3. Januar 1970 zusammen, um Overdubs für die alten Aufnahmen einzuspielen – und die neue Harrison-Komposition „I Me Mine“ einzurichten, da die Arbeiten zum Song im Film zwar dokumentiert wurden, aber keine fertige Aufnahme vorhanden war. Wieder kompilierte Glyn Johns ein Album – doch auch diese Fassung konnte die Musiker nicht zufrieden stellen.
Letztendlich wurde Phil Spector engagiert, seinerzeit der wohl berühmteste Produzent. Der sollte nun „Let It Be“, wie das Album mittlerweile in Anlehnung an McCartneys gleichnamige Pianoballade hieß, fertig stellen. Legendär ist der daraus entbrannte Streit: McCartney war vom Engagement Spectors nicht informiert worden. Der Produzent, bekannt geworden durch seine vielschichtigen, „Wall Of Sound“ genannten Arrangements, fügte orchestrale und chorale Parts hinzu und mischte viele Nummern neu ab. Obwohl dies die letztendlich veröffentlichte, von Fans durchaus akzeptierte Version des Albums wurde, hatte McCartney nicht vergessen, dass er übergangen wurde. Seine Rechnung mit Spector hielt er über Jahre offen.
Let It Be … Naked
Der Beatle machte sich 2003 schließlich erneut ans Werk und veröffentlichte „Let It Be … Naked“. Songs ohne Streicher, aber letztendlich keine Rekonstruktion der vorherigen Fassungen. Noch immer wusste also keiner, wie „Get Back“ ursprünglich hätte klingen sollen. „Let It Be“ wurde dann mit Spectors Hilfe im April 1970 abgeschlossen, das Werk erschien am 8. Mai 1970.
Warum eigentlich hält sich bis heute so hartnäckig das Gerücht, dass die Beatles „Get Back“ überhaupt hatten herausbringen wollen? Sowohl McCartney, als auch George Martin bestreiten vehement, dass die Platte jemals das Licht des Tages erblicken sollte. Vielleicht reichte McCartney die Idee eines Films, in dem Lieder angespielt werden, vollkommen aus. Als die Dokumentation 1970 schließlich erschien, trug auch sie den Namen der Platte: „Let It Be“.
Noch berühmter als die Idee hinter den Songs von „Get Back“ ist ja das Cover der Platte – das ist durchaus bekannt und steht in Millionen Plattenschränken. Dabei handelt es sich um das berühmte Foto der Beatles, dass die sichtbar gereiften, durch den hippieesken Summer Of Love gezogenen Musiker in gleicher Pose wie auf ihrem ersten Album „Please Please Me“ von 1962 zeigt. Letztendlich wurde das Motiv dann 1975 verwendet, für das Best-Of-Album „The Beatles 1967 – 1970“, besser bekannt als das „Blaue Album“. Die späte Veröffentlichung, fünf Jahre nach Auflösung der Band, lässt darauf schließen, dass die mittlerweile getrennten Beatles sich noch nicht ganz von ihrem verlorenen Werk trennen wollten. Oder zumindest nicht jemand, der sich an die Fotosession erinnern konnte.
So markiert „Get Back“den Weg zum fertig gestellten Album „Let It Be“. Als eigenständiges Werk hatte es keinen Bestand.
Aber was wäre, wenn die Beatles die „Get Back“-Stücke aus einem ganz anderen Grund nicht auf einer LP veröffentlichen wollten? Die Fab Four waren nicht nur die ersten Künstler, die das Format Album populär machten – sie veröffentlichten auch weiterhin exklusive Singles, die nie für Alben gedacht waren. „Hey Jude“ etwa, erschienen als Single nach dem „Weißen Album“ 1968 und vor dem Start der „Get Back“-Sessions, war ein Treffer. Wer weiß, hätte die Band sich diesen Song für ihre unglücklich verlaufene Jam-Session aufgehoben – „Get Back“ befände sich heute in unseren Händen. Das gleichnamige, von McCartney gesungene Stück jedenfalls wurde ein Nummer-eins-Hit.