Musikfilm „The Beast In The Jungle“: Am Ende bleibt niemand jung
„La Bête dans la jungle“ mit Anaïs Demoustier und Tom Mercier ist ein subtiler „Mindfuck“, untermalt von sexy 70er-Sounds, Techno und Trance. Ein französisches Paradestück für Relativität.
Die knapp 20-jährige May betritt einen sexuell hedonistischen, schillernden Club in den 70ern, mit Feiernden, die sich in Trance versunken aneinander reiben. May hat das Leben noch vor sich: Sie führt eine anfangs glückliche Beziehung, ihre Mutter und engsten Freunde tanzen mit ihr an diesem Ort, den sie regelmäßig besucht. Mays Tür ins Leben steht offen.
Sie trifft dort unten vor den Toiletten jedoch zufällig auf John – ihre alte Jugendbekanntschaft, die ihr einst rätselhaft erzählte, ein Geheimnis zu haben und auf etwas zu warten, das sie vergeblich suche. May ist von dem jungen Mann ohne Emotion angetan, fast schon verliebt in sein Geheimnis, das gemeinsame Warten und Suchen, von dem er spricht. Er will aber nie tanzen, trägt auf ewig das gleiche alte Cord-Jackett, will mit May einfach nur nach dem „Ding in der Zukunft“ Ausschau halten.
Wo Mays Tür ins Leben anfangs noch offen stünde, sie mit allen einst lachte, feierte und sich ihren Tagträumen hingab, entscheidet sie sich für John, jeden Samstag, gleiche Zeit. Und irgendwann dafür sogar gegen die Ehe mit ihrem Mann und gegen ihre Mutter, ihre Freunde. Für die kommenden knapp 30 Jahre sitzt May stattdessen mit John im Club und beobachtet das Geschehen. Gelegentlich scheint sie Drogen konsumiert zu haben, die sie nicht verträgt. Worauf warten die beiden? Das darf sich der Zuschauer selbst beantworten. Generell spielt das Stilmittel „Tür“ eine große Rolle. Immer wieder ist der Einlass maßgeblich, die Türsteherin, das „Übertreten“ in eine andere Zeit durch den Aufenthalt am Ein- und Ausgang. Auch der Satz „Die Tür steht offen“ fällt mehrmals.
AIDS, Zeit, Ko-Abhängigkeit: Wer oder was ist denn nun das „Biest“?!
Und wer ist nun das Biest? Ist es die fast schon unangenehme, subtil-intensive Ko-Abhängigkeit zwischen John und May? Ist es all die Zeit, die vergeht, scheinbar ohne ihnen etwas anhaben zu können? Ist es der Ort, der matrix-ähnlich für Jahrzehnte bestehen bleibt, ganz gleich, ob draußen die Mauer fällt, die Twintowers einstürzen, AIDS ausbricht? (Wie man im Fernsehen sieht, den die Türsteherin im Keller des Clubs installiert hat, um während der Arbeit auch mal Nachrichten zu schauen.)
Die einzigen Veränderungen, die der namenlose Partyort erfährt: Kein Publikum, in den Jahren, in denen AIDS ausbricht. In diesen Jahren ist die Location quasi leer, bis auf – natürlich – John und May. Das soll wohl widerspiegeln, wie verpönt und dahingerafft die techno-lastige, queere Feierszene zu dieser Zeit war. Ansonsten verändert sich nur die Besucherschaft, ihre Kleidung, die Musik, und ganz am Ende des Films der Einlass.
Das Biest könnte auch das sein, was zwischen den Zeilen liegt: Die Cher ähnelnde Türsteherin und Clubbesitzerin, die über Jahrzehnte hinweg nach Augenmaß und Bauchgefühl entscheidet, wer Einlass bekommt. Sie kommentiert im Film auch das Geschehen als allwissende „Märchen“-Erzählerin von außen.
Genauso könnte es der ergraute Mann unten im Club sein, der dort vor den Toiletten sitzt, an einem Tisch mit Teller, auf dem für jeden Toilettengang bitte bezahlt werden soll. Man sieht ihn nie putzen, nur beobachten und kommentieren. May etwa sagt er, dass er schon gesehen hat, wie ein Freund einem anderen Freund das Messer in den Rücken gedrückt hat. Seine Aussagen sind so nichtig wie bedeutungsschwanger – er könnte für das Portal stehen, für das man bezahlt, wenn man „weiterkommen“ will im Leben. Siehe da: John hat nach einem Gang aufs WC keine Münzen dabei und kann nicht zahlen – May trifft ihn dort, hat Münzen, bezahlt für beide.
Das Biest könnte auch die „ewige Jugend“ sein, ein Trugbild unserer Zeit, eine Flunkerei des Gehirns: John und May verändern sich optisch in etwa 30 Jahren nicht, wahrscheinlich, um diesen Aspekt klarer darzustellen. Die Feierszene schon, die Leute werden immer jünger, die Outfits weniger. Und die Musik! Wo einst Seventies-Sounds liefen, wummern jetzt Techno und Trance. Wo einst goldene Glitzerkleider schimmerten, tragen die Leute plötzlich Oberkörper-frei und „schnelle Brillen“.
Oder ist das Biest vielleicht der Einsatz von Drogen, der immer wieder als weiterer Gladiator in den Ring des Films steigt?
Unendlichkeit ist eine Illusion – am Ende holt der Tod sich alle
So oder so: Am Ende stirbt May schwerkrank. Da erwischt Regisseur Patric Chiha einen eiskalt. Man hat als Zuschauer nämlich vergessen (wollen) oder hingenommen, dass sie irgendwann in Wirklichkeit schon über 50 sein muss und John alleine lässt, weil sie etwas begriffen hat. Und John fällt letztendlich verzweifelt auf ihr Grab und weint. Ihre Verbindung war nun mal loyal, „bis das der Tod sie schied“.
Allerspätestens jetzt tritt beim Zuschauer Wut und Unmut ein – auf alles. Auf den ganzen Film, und was er auslöst und einem spiegelt. All die dummen Entscheidungen, die man im Leben selbst schon getroffen hat, all die Zeit, die man ins Falsche investierte. Die toxische Beziehung, die man schon viel früher hätte beenden sollen. Das Leben, das man hätte leben können, anstatt es an sich vorbeiziehen zu lassen. Die Jugend, die eben DOCH vergeht. Jeder Zuschauer kann am Ende des Films für sich selbst entscheiden, was das „Biest im Dschungel“ ist. Und auch, was Johns Geheimnis sein mag; das wird nämlich nicht verraten und bleibt ebenfalls am Zuschauer hängen.
Klassisch „französischer Film“, klassisch Berlinale-Kategorie „Panorama“: Das „Panorama“ zeigt nun mal Filme, „die aufwühlen und aufrütteln sollen, das Publikum im Denken herausfordern wollen“. Das schafft Patric Chiha ohne Eile. Ganz ganz langsam wird der Zuschauer gemeinsam mit den Protagonist*innen verrückt.