Tallinn Music Week: Praxisbeispiel für die Festivalszene in ganz Europa
In Talinn startet eines der ganz wenigen Festivals in Europa, das Auftritte im Corona-Zeitalter vor „echtem Publikum“ ermöglicht. Wir haben Fragen an TMW-Chefin Helen Sildna.
Die Tallinn Music Week (TMW) geht 2020 ins elfte Jahr. Als ambitioniertes Convention-Festival besonders für den nordosteuropäischen Raum hat sich die TMW einen glänzenden Ruf für Indie-Pop, Avantgarde und Digitalkultur erworben. In 2020 ist alles anders. Der gesetzte Termin Ende März fiel der Pandemie zum Opfer. Dennoch entschlossen sie die TMW-Macher*innen – im Gegensatz zu den Veranstaltern fast aller weltweiten Festivals – zu einer zeitnahen Neuauflage. Fünf Monate nach dem vorläufigen KO spielen Bands ganz analog vor Publikum. Aufgrund der Pandemie-Wellen und damit einhergehenden Ausreiseverboten mussten die Bands aus UK und Dänemark absagen. Das Line-Up bleibt weitgehend auf das Baltikum plus Skandinavien beschränkt. Etwa das estische Electro-Folk-Duo Puuluup oder die lettische Indierocker Carnival Youth. Ein Event unter schwierigen Bedingungen also. Wir fragen bei Helen Sildna nach, Leiterin der Tallinn Music Week.
Welche Covid-19-Regeln gelten in Estland für das nachgeholte TMW-Festival? Wie groß werden die Änderungen für Fans und Künstler*innen sein?
Helen Sildna: Seit Mittsommer wurden die Beschränkungen für öffentliche Veranstaltungen in Estland schrittweise gelockert. Zulässige Besucherzahlen liegen jetzt bei 1500 drinnen und 2000 draußen. Wir haben jedoch entschieden, nicht die maximalen Kapazitäten auszuschöpfen, Unsere Grenzen liegen bei 700 im Innenbereich und 1500 draußen.
Wie gewährleisten Sie die Einhaltung dieser Regeln?
Wir bespielen in Tallinn ganz verschiedene Orte. So können wir megaflexibel sein, was die Publikumsverteilung betrifft. Die Kombi von Außenbereichen, verstreuten Locations, die oft sehr klein sind, und die 50%-Beschränkung erzeugt keine Dichte in der Stadt. Gesichtsmasken sind in Estland derzeit nicht obligatorisch, werden jedoch Besuchern zur Verfügung gestellt. Wir schaffen eine Umgebung, in der sich die Menschen selbst schützen können. Wir hoffen, damit eine Beispiel für ganz Europa zu liefern, wie es praktisch gehen kann.
Wie sieht es bei der Konferenz aus?
Die Creative Impact Conference findet an der Estonian Academy statt. Also normale persönliche Treffen plus digitale Teilnahme des Programms für ein virtuelles Publikum durch ein brandneues DigiPRO-Konzept, mit dem Teilnehmer auf der ganzen Welt und auch im Publikum aktiv an Workshops, Mentoring sowie Speed-Meetings teilnehmen können. (Das Konferenzprogramm wird angekündigt und ist hier verfügbar.)
Gab es in ihrem Team Bedenken die TMW noch 2020 fortzuführen?
In Estland haben sich die Dinge bis Juni erheblich beruhigt und die Beschränkungen haben sich nach Mittsommer gelockert. Am tiefsten Punkt hatten wir viele Tage mit null neuen Fällen und die Anzahl der Krankenhaus-Patienten ging auf drei zurück. In Bezug auf internationale Gäste und Künstler erlauben wir nur Besucher aus Ländern mit einer niedrigeren Infektionsrate, nicht mehr als 17,6 pro 100 000 Einwohner. Das Weitermachen fühlte sich auch bei den Diskussionen in unserem Team nie unangemessen an. Wir wollen eher zeigen, dass so etwas kontrolliert machbar ist. Wir setzten nicht zuletzt auf die Selbstverantwortung unserer Gäste.