Sylt als Tattoo
Kein Kinski, kein Zappa, nicht mal ein Wowereit: Christian Wulff verharrt in der Opferrolle und gibt den Medien die Schuld an seinem Fall
Die Hamburger Zeitschrift „Tempo“, 1996 gestorben am Stumpfsinn einiger Funktionäre, hat ihre Leser nicht nur unterhalten und schockiert – manchmal wollte „Tempo“ sogar auf klären und Politiker rüberbringen. Die Redaktion beschäftigte deshalb den Reporter Christoph Scheuring, er bekam zweimal den Kisch-Preis (ist sozusagen der Oscar für Journalisten in Deutschland) und reiste 1993 nach Hannover, um rauszukriegen, was Christian Wulff darstellt und vorhat. Der „Tempo“-Chef konnte später das Wortspiel nicht unterdrücken und wählte die Überschrift „Wulff im Schafspelz“ – es sollte sich erweisen, dass in Wulff viel mehr Schaf als Wolf steckt.
Die CDU hoffte auf diesen Wulff, damals Mitte 30, er stammt aus Osnabrück, wo die glücklichsten Deutschen wohnen; manche Beobachter meinten, er könne irgendwann sogar Bundeskanzler werden. Scheuring traf Wulff an drei Tagen, sie plauderten, scherzten, gingen spazieren, tranken Kaffee und aßen Kekse. Dann saß Scheuring wieder in der Redaktion, aus seinem Ghettoblaster dröhnte Springsteens „She’s The One“, und Scheuring flüsterte: „Ich habe die Zukunft der CDU gesehen, ihr Name ist Christian Wulff. Aber aus Frauen macht er sich gar nix.“
Scheuring irrte, doch wie wäre es wohl gekommen, wenn Wulff wirklich wie Wowereit lieben würde? Hätte er nie von seinem Amt des Bundespräsidenten zurücktreten müssen, weil vielleicht das Elend erst mit seiner Ehefrau Bettina begann? Das Gefährliche an ihr schien sich sofort durch die Tätowierung an der Schulter zu zeigen: Rocker und Künstler, Matrosen und Kriminelle und immer öfter auch Durchschnittsspießer schmückten bis dahin derart ihren Körper, mit Bettina Wulff erreichte das Tattoo endlich die Staatsspitze; nur Bettina und Christian Wulff wissen, ob auch er ein Tattoo trägt (die Insel Sylt auf dem Oberschenkel?). Inzwischen haben sich Wulff und Bettina getrennt und mögen einander nicht mehr leiden, sie musste natürlich ein Buch über die Jahre mit ihm schreiben, er schafft’s auch nicht zu schweigen, er wiederholt und wiederholt seine Kritik wie der Dichter Thomas Bernhard beim Schimpfen: Die Zeitungen und das Fernsehen hätten gesündigt, seinen Untergang ersehnt und verschuldet. Wulffs Buch, „Ganz oben, ganz unten“, hat seinen Titel zur Hälfte bei Günter Wallraff abgeguckt – „Ganz unten“ (1985 veröffentlicht), Wallraff hatte sich als Türke verkleidet und über die Nachteile berichtet. Viele Türken mochten den Bundespräsidenten Wulff und nannten ihn zärtlich Cevdet Wülffdiz, weil er 2010 in einer Rede verkündete, der Islam würde zu Deutschland gehören.
Doch Wulff bräuchte jetzt einen Freund, der ihn schüttelt und sagt: „Chrischan, nun lass mal gut sein!“ Das Interview im „Spiegel“ offenbarte erneut, dass Wulff weder Selbsterkenntnis noch Urteilsvermögen hat; sein Lieblingswort ist „Durchstechereien“ (ohne sexuellen Nebensinn), er sei „eine Provokation“ gewesen (Eigenlob). Hm, verglichen mit Klaus Kinski oder Frank Zappa hat Wulff sich jedoch nur als Kleinstprovokateur verewigt. Nach dem Vorwurf der Vorteilsnahme, der Kredit- und Medienaffäre hätte Wulff mit einem anderen Berater oder Anwalt (sagen wir: Gregor Gysi) nicht ständig wie ein Dussel dagestanden.
Seit Roger Willemsen sich 1995 im ZDF den „Focus“-Chef Helmut Markwort gegriffen und ihn kraft der Wahrheit und Redekunst lächerlich gemacht hatte, ist keine Gesellschaftsstütze so eingegangen wie Christian Wulff gegen Kai Diekmann, den Chef der „Bild“-Zeitung. Wenn Wulff, der Katholik, sich die Hölle vorstellen sollte, dann würde dort ununterbrochen Diekmanns Anruf beantworter laufen und abspielen, was Wulff leider, leider draufgesprochen hat.
Aber immerhin, nach seinem Rücktritt vor zweieinhalb Jahren gewann Wulff an Dynamik, verlor Gewicht und verbesserte so sein Aussehen; die Wandlung erinnerte an Kachelmann, als er aus dem Knast kam. Wulff wechselte auch die Brille und ähnelte plötzlich Elvis Costello. Doch das einzig Positive, was sich im Spätsommer 2014 über Christian Wulff sagen lässt: Sein Nachfolger, dieser Pastor aus Rostock, nervt noch ein bisschen mehr.
Unser Autor war seinerzeit selbst Redakteur bei der legendären Zeitschrift „Tempo“. In der nächsten Ausgabe schreibt wieder Jenni Zylka diese Kolumne.