Surreal real
Die Miniatur, die sich an der Rezeption des Münchner Hotels „Park Hilton“ abgespielt hat, bringt auf Seite 181 den ganzen Kladderadatsch einer deutschen Rock’n‘ Roll-Biografie auf den Punkt. Extrabreit, die Band, die damals immerhin für sich in Anspruch nehmen durfte, die zugleich erfolgreichste und verhassteste Erscheinung der durchs Land rasenden Neuen Deutschen Welle zu sein, checkte ein. Mit überschaubarem Akkord-Aufwand und Songs wie „Polizisten“, „Alptraumstadt“ oder „Hart wie Marmelade“ hatte Extrabreit aus Hagen seltsamerweise die Titelseiten der „Bravo“ erobert und sich zugleich als Ekelobjekt etabliert für das reife, semiotisch bereits versierte Oberschüler-Feuilleton rund um den damaligen Inhaber der Meinungsführerschaft, Diedrich Diederichsen.
Ein Auftritt in der Fernsehshow „Desiree’s Musicbox“ (so hießen seinerzeit die Jugendprogramme“) stand in München an. Extrabreit war gerade als kommerziell führender Deutscher „Act“ des Jahres 1982 registriert worden. Kai Havaii aber, der Frontmann und Texteschreiber von Extrabreit, musste der Hilton-Rezeptionistin dennoch seinen Namen buchstabieren: „Havaii – wie der gleichnamige Toast, nur mit ,v‘.“ Und wenn man den aufgeschriebenen Lebens-Erinnerungen von Kai Schiasse alias Kai Havaii glauben darf, betrat im selben Augenblick Udo Lindenberg nebst Entourage und wippendem Borsalino das Hilton-Foyer und die, nun ja, Punks von Extrabreit und mit ihnen alle anderen Anwesenden fielen umgehend in Ehrfurcht vor dem Meister der deutschen Rockmusik. „Er hatte gerade eine trockene Phase“, schreibt Havaii, „und bestellte einen Planter’s Punch ohne.“
„Hart wie Marmelade“ hat der eben 50 gewordene Extrabreit-Sänger seine Autobiographie genannt und den Untertitel hinzugefügt: „Ein Rock’n’Roll-Roman aus der Provinz“. Und wenn nicht alles täuscht, hat es selten etwas so Lakonisches und Authentisches aus deutschen Popmusiker-Kreisen zu lesen gegeben. Am Ende legt man das Buch amüsiert weg und es ist einem klar, dass wir alle in der „Provinz“ leben – und dass es hätte schlimmer kommen können.
Havaii hat seine realen Erinnerungen geschrieben — das Attribut des „Romans“ aber ist nicht verkehrt. Die Territorien zwischen dem Realen und dem Surrealen sind schließlich immer der Gegenstand der Kunst. Und so hat Havaii, der – als Mann des Wortes -jede Zeile des Buches selbst
geschrieben hat, seine bisherige Lebensgeschichte ein wenig wahrgenommen, als wäre sie Fiktion. Vielleicht empfindet man eine solche Lebensgeschichte zwangsläufig als Roman. Erst recht, wenn so viele Drogen im Spiel sind. Damit, nämlich mit seiner zeitweilig heftigen Heroin-Abhängigkeit, angefixt von seiner damaligen chinesisch-amerikanischen Ehefrau aus Los Angeles, beginnt das Buch. Um dann aber schnell zurück zu tauchen in die Zeiten der RAF und der Klassenarbeiten in Hagen.
Havaii gehört zu der Generation, die in den 70er Jahren als haltlos politisierte Oberschüler vom Willy Brandt-Unterstützer zu ultra linken kommunistischen Splittergruppen wechselten. Das Romanhafte an „Hart wie Marmelade“ ist die stets ironische und selbstironische Wahrnehmung der eigenen Rolle. Havaii (damals noch bürgerlich Schiasse) hatte sich für den besonders extravaganten Verein der Trotzkisten entschieden und sich zum Berufsrevolutionär erklärt. „Wenn der Abend anbrach, besorgten wir uns am Kiosk um die Ecke ein paar Bier und hörten zusammen Wolf Biermann, John Lennon und die Doors.“ Aber das Agitieren der Werktätigen klappte nicht wie erhofft. Kai (immer noch) Schiasse wechselte ins subtilere Fach, zog in „Hagens Gegenstück zur Kommune 1“ ein, die „B 56“, dilettierte mit einem Germanistik- und Geschichtsstudium, mit Zivildienst und in freier Liebe, demonstrierte gegen Fahrpreiserhöhungen und Vietnam, zeichnete Cartoons und Comics und marschierte bei der legendären Brokdorf-Schlacht gegen Atomkraftwerke und die Polizei. Dann schwappten die Sex Pistols und die Ramones ins beschaulich-hässliche Hagen, und das Idyll brach auf in die kalten 80er. Und die kalten 90er Jahre. Und man hat beim Weiterlesen von „Hart wie Marmelade“ den Eindruck, dass Havaiis Leben erst vor kurzem wieder die Wohlfühl-Temperatur jener WG-Tage erreicht hat.
Den Einstieg in die Musik beschreibt Kai Havaii mit der selben Selbstironie, die ihn vermutlich die Kältezonen hat überleben lassen: „In unserer Familie galt der Grundkonsens, dass wir alle mitleiderregend unmusikalisch waren. Der alljährliche Katzengesang vor dem Weihnachtsbaum, der dabei immer sofort zu nadeln begann, schien das zu bezeugen.“ Stefan Kleinkrieg, mit dem Havaii seit jenen fernen Tagen eine Liaison hat wie Jagger mit Richards, nur auf Hagener Level, hatte allerdings gerade „Holidays In The Sun“ von den Pistols gehört und war überzeugt, so etwas sei machbar.
Dann erzählt Havaii vom kometenhaften Aufstieg und kurzen Reichtum. den Agitpropartigen Songtexten, vom Ausflug in die Kokain- und Glitzerwelt, der Selbsterkenntnis über den „Ruhm, die Party auf dem Seil, wenn die, die jubelnd unten steh’n, die Kanonen auf dich drehen“. Die Eskapaden in London, Paris und L.A., das Comeback in den Neunzigern, der Absturz in die Heroinsucht. U-Haft und Entzug, die Duette mit Hildegard Knef und Harald Juhnke -und der Selbstmord seiner Lebensgefährtin, bei dem selbst Havaii der Wortwitz ausgeht. Am Ende der knapp 300 Seiten sagen sich Gitarrist Kleinkrieg und Chef-Ideologe Havaii gegenseitig: „Schade, dass es schon wieder vorbei ist.“ Stimmt.