Süße Sünde Jugend
Wenn junge Erzähler sich an die abgründigste Episode ihres Lebens erinnern - dann ist das fast ein Roman-Genre. Ivo Stourton hat den nächsten, großen Beitrag
Dass seine Geschichte am Ende tatsächlich zwischen zwei Buchdeckeln landete, hat niemanden mehr überrascht als ihn selbst. „Schließlich hatte ich bereits drei ziemlich missratene Bücher in der Schublade“, gesteht Ivo Stourton. „Doch ich hätte auch weiter geschrieben, wenn das Buch keinen Abnehmer gefunden hätte. Denn zu schreiben, das war immer das, was ich wollte.“
Der gerade mal 25 Jahre alte, als Spross eines BBC-Auslandskorrespondenten in Paris und Washington aufgewachsene Cambridge-Absolvent ist mit seinem in Großbritannien viel gepriesenen Romandebüt „Die Nachtgänger“ jener Sorte Literatur zuzurechnen, wie sie vor ihm und höchst erfolgreich Größen wie Alex Garland und Donna Tartt aus der Feder floss: Geschichten von lebenshungrigen Youngstern, die beim Erwachsenwerden einen Zwischenstopp in der Hölle einlegen, um anschließend – glücklich entkommen – Rückschau zu halten auf „die verrückteste Geschichte“ ihres noch jungen Lebens.
Donna Tartt gelang einst mit ihrer „Geheimen Geschichte“ ein globaler Megaseller, Garland avancierte mit seiner Story um den abenteuerhungrigen Traveller Richard am mysteriösen Strand in Thailand Anfang der Neunziger zum Wunderkind der britischen Literatur. Nun also Stourton: ein smarter, erzählerisch erstaunlich frühreifer Fabulierer, der sich mit seinem Stoff um eine Handvoll Cambridge-Studenten scheinbar ungerührt vor Tartts ähnlich gestricktem Erfolgsbuch verneigt.
Doch Stourtons Debüt „Die Nachtgänger“ ist, genau betrachtet, weit mehr als nur ein billiges Tribut an die auf ziegelsteindicke Epen abonnierte Amerikanerin. Sein Roman entrollt – minutiös zusammengesetzt aus den Erinnerungen seines Ich-Erzählers James – die ziemlich abenteuerliche Geschichte einer Handvoll aus gutem Hause stammender, draufgängerischer „Nachtgänger“, die auf ihre Weise versuchen, ihrer Langeweile und der geistigen Enge ihres universitären Alltags zu entfliehen. Sie zieht es nachts über Cambridges Dächer, und am Ende schrecken sie nicht einmal vor einem folgenreichen Diebstahl zurück, um sich den Kick zu verschaffen und ihre luxuriösen Lebenswandel am Laufen zu halten. „Ich habe Donna Tartts Roman erst viel später gelesen, da war mein Buch schon fertig“, sagt Ivo Stourton, „aber ich denke, dass sie genau wie ich zeigen wollte, wie man als junger Mensch, trotz scheinbar geschützter Umgebung, plötzlich seine moralischen Werte verlieren kann.“
Stourton, der als Anwalt in London lebt, tut es in Form einer Geschichte, die einen von der ersten Zeile an gefangen nimmt. Denn er versteht es glänzend, die Teile seines erzählerischen Puzzles so auszustreuen.
dass sich nur langsam dessen ganze Wahrheit enthüllt. Viele Jahre sind seit den im Buch geschilderten Ereignissen vergangen, doch James, der alles aus seiner Sicht rekapituliert, ist seither nicht wirklich nach oben gelangt: Zwar hat er als Anwalt einer Londoner Kanzlei ein gutes Auskommen, doch der Blick auf sein Privatleben gleicht längst dem Blick in einen persönlichen Abgrund mit Alkohol und Pornofilmen. Einst, als ihm das Leben noch nach allen Seiten offen stand, war er anders; ein juveniler, zu allem entschlossener Batman, der über Cambridges nächtliche Hausdächer jagte -und nicht genug bekommen konnte von dem Treibstoff, der sich Abenteuer nennt.
Und als er auf die „Nachtgänger“ stößt, eine Bande lebenshungriger Typen wie er, die zwar alles wollen, nur nicht erwachsen werden, sieht sich James am Ziel. Nacht für Nacht frönen sie ihrem haltlosen, sich in endlosen Gelagen ergehenden Dasein ohne doppelten Boden. Bis Francis, dem Anführer der Gruppe, das Geld ausgeht, und sie auf die unselige Idee verfallen, sich auf andere, nämlich kriminelle Weise zu bereichern.
Ihr Plan: ein teures Gemälde, das sich im Besitz der Universität befindet, gegen eine Kopie auszutauschen. Genau hier beginnt ihre Schussfahrt in die Katastrophe, genau hier hat Stortons langsam und wie in Zeitlupe anrollender Plot seinen Tipping-Point – und seine Helden, die eben noch unverwundbar schienen und wie Fledermäuse über die Abgründe segelten, erweisen sich plötzlich als das, was sie von Beginn an waren: Kippfiguren und von sich selbst berauschte Endspieler, die es mit aller Macht in die Tiefe zu reißen beginnt.
Das Resultat ist ein rasanter, intelligent gebauter Roman, der von den Fallstricken des Erwachsenwerdens erzählt, kurz: ein schnelles, bildmächtiges Stück Brit-Lit, Donna Tartt-haft gewiss – und doch so eigen, wie es möglich ist, wenn ein Autor alles von sich erzählt und nichts wirklich verrät. „Ich wollte gerne einen Ich-Erzähler“, bekennt Ivo Stourton abschließend, „der meine eigenen Erfahrungen teilen und widerspiegeln sollte. Einen, der die Literatur kennt und Hebt und genau wie ich Anwalt ist. Denn nur so konnte ich von mir erzählen und mich doch hinter der Figur verstecken.“
Es ist Stourton geglückt. Mit einer alten Geschichte, die er auf mitreißende Weise ganz neu erzählt.