Steven Wilson im ROLLING-STONE-Porträt: Hüter des Uncoolen
Wenn der Produzent, Multiinstrumentalist und Prog-Rock-Renovierer STEVEN WILSON ein Album aufnimmt, dann steht immer ein ausgeklügeltes Konzept dahinter. Doch statt mit den genreüblichen Fantasiewelten beschäftigt er sich mit sozialen Abgründen
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Vor knapp drei Jahren sah Steven Wilson im Fernsehen eine Dokumentation mit dem Titel „Dreams Of A Life“. Sie erzählt die Geschichte einer Frau namens Joyce Vincent, die im Alter von 38 Jahren in ihrer Londoner Wohnung stirbt – und erst drei Jahre später gefunden wird. Der Gestank, dachten die Nachbarn, käme von den Mülltonnen vor der Tür. Vincent, offenbar keine Einzelgängerin, sondern eine attraktive und beliebte Frau, verschwindet in ihrer eigenen Wohnung – und wird so zu einem Symbol für die Anonymität des Lebens in der Großstadt. „Ich habe erst ein Jahr nachdem ich die Doku gesehen hatte, angefangen, Songs für mein neues Album zu schreiben, doch diese Geschichte war immer noch in meinem Kopf. Sie verfolgte mich.“ Und wurde zum Ausgangspunkt für Wilsons viertes Solowerk, „Hand. Cannot. Erase“.
Der dünne Mann mit den dünnen Haarsträhnen und der Harry-Potter-Brille ist der profundeste Vertreter des zeitgenössischen Progressive Rock, eines Genres, das einst von Bands wie King Crimson und Genesis erbaut und von Fantasy-Gemälden und 17-Minuten-Stücken geprägt wurde. Das immer in einer gar nicht so kleinen Nische weiter existierte und heute eine Renaissance erlebt. Auch dank Steven Wilson. Dessen neues Album nun erzählt also ebenfalls von einer jungen Frau, die aus der englischen Provinz ins große London zieht und dort verschwindet. Allerdings freiwillig und nicht in den Tod, sondern in ein selbstbestimmtes Leben. Da steckt der Autor selber drin – Wilson lebte lange in London, zog aber vor einigen Jahren zurück nach Hemel Hempstead, einer Kleinstadt nordwestlich von London, in der der Künstler aufwuchs. „Ich habe in London 20 Jahre lang nicht meine Nachbarn kennengelernt – das ist doch kaum zu glauben! Diese Art des anonymen Lebens ist ja bekanntermaßen eines meiner Lieblingsthemen, zum Beispiel in Bezug auf die sozialen Medien, die ja in Wirklichkeit antisoziale Medien sind. Wir ziehen uns in unsere Häuser zurück, ohne wirklich noch Kontakt zu unserer Umwelt zu haben. Doch hier in Hemel dauert es ein paar Tage, dann begrüßt dich jeder mit deinem Namen.“
Der Kampf um das große Ganze ist das Thema des Steven Wilson: Der mehrfach Grammy-nominierte Sänger, Songschreiber, Multiinstrumentalist und Produzent konzipiert und realisiert komplexe Prog-Rock-Alben und hat als Remixer einige der Prog-Klassiker – unter anderem von King Crimson, Jethro Tull, Steve Hackett – zu neuem Glanz verholfen. Zudem ist Wilson ein fast aggressiver Gegner von Album-Downloads, Streams und überhaupt der digitalen Musikdistribution. Schon jetzt legendär sind öffentliche iPod-Zerstörungen sowie verbale Breitseiten gegen Spotify und andere Streaming-Dienste – Wilson sagt, was er denkt. „Du fängst doch auch kein Buch in der Mitte an oder liest zuerst den Schluss und dann den Rest“, vergleicht er. „Als ich anfing, Musik zu hören, faszinierten mich die Platten meiner Eltern, ‚The Dark Side Of The Moon‘ von Pink Floyd oder ‚Love To Love You Baby‘ von Donna Summer – da war auf der ersten Seite eine 17 Minuten lange Disco-Sinfonie! Ich liebe Alben, die einen erzählerischen Bogen spannen, und ich liebe es, wenn ich diesen Bogen auch in der visuellen Präsentation eines Albums wiederfinde.“
18 Monate spannte Wilson diesen Bogen für „Hand. Cannot. Erase.“. „Wenn ich eine Platte mache, heißt das, dass ich nicht nur die Musik entwickle, sondern auch das Konzept. Ich produziere das Album. Ich mixe es in Stereo und in 5.1. Ich konzipiere das Cover. Ich kümmere mich um die Umsetzung des Albums auf der Bühne. Ich mache die Filme für die Konzerte. Ich kreiere die Website. Ich wünschte wirklich, ich könnte etwas abgeben, aber ich bin so ein Kontroll-Freak, der alles selbst machen will.“ Herausgekommen ist ein Werk, das Wilsons musikalische Vorlieben zusammenfasst, denen er nicht nur als Mastermind der Neo-Prog-Pioniere Porcupine Tree, sondern auch im Rahmen diverser Projekte und Kollaborationen nachgeht. Die Lieder sind mal kompakt und melodieverliebt, mal ellenlang mit dräuenden Akkorden, fremdartigen Klanglandschaften und betont langen Soli. Ist es Prog-Rock? „Nein, es ist bloß manchmal ein Sound, der an Yes oder King Crimson erinnert. Es ist aber manchmal auch Popmusik. Es ist Krautrock. Es ist elektronischer Minimalismus. Es ist Metal. Es ist mehr, als in der Vorstellung von Prog vorkommt. Sonst würden ja auch nicht so viele Leute zu meinen Konzerten kommen.“ Und doch: Wilsons Musik passt haargenau in dieses Genre; Wilson selbst gilt als der Vordenker der gesamten Szene.
„Es wäre dämlich zu leugnen, dass sich meine Musik auf einige jener Bands bezieht, die man im Allgemeinen dem klassischen Prog-Rock zuschreibt“, erwidert er. „Aber mir bedeutet der Begriff nichts – viele Musiker von damals sehen das übrigens genauso. Es war offenbar ein sehr kleiner Kreis, der überhaupt den Begriff ‚Prog‘ benutzte. Die anderen sahen sich einfach als Underground. Ich kenne mich auch nicht mit den Künstlern der sogenannten Neo-Prog-Szene aus. Ich kenne den Namen Neal Morse, aber seine Musik kenne ich nicht. Sie interessiert mich auch nicht. Mir solche Musik anzuhören wäre, als würde ich ins Büro gehen. Da höre ich mir lieber japanischen Noisecore oder irgendeinen obskuren Minimalisten an. Ich lehne auch Anfragen von Prog-Festivals ab. Nur einmal habe ich auf der Loreley am Rhein gespielt – aber meine Bedingung war, dass alle Bands, die an meinem Tag spielten, von mir ausgesucht werden. Ich lud mir dann viele Freunde ein – ich musste sicherstellen, nicht neben einer Band zu spielen, die den ‚Herrn der Ringe‘ abendfüllend vertont. Das ist die Art von Prog, mit der ich nichts anfangen kann.“
Man spürt diese Haltung in seiner Musik. Es gibt auf „Hand. …“ Momente, in denen Wilson die Klänge oder, besser: die Klanggefühle von Rush, King Crimson und Pink Floyd nachempfindet, doch nicht auf der Ebene von Akkorden oder Melodien; eher leuchtet in vielen Momenten etwas auf, das unter der Musik zu liegen scheint, ein Bild hinter dem Bild. Doch sein Werk erschöpft sich nicht in Nostalgie, sondern ist neugierig, musikverliebt – und wird schwindelerregend virtuos gespielt. Die Lust am gekonnt gespielten Instrument gehört zu Steve Wilson und macht ihn und seine mit megakompetenten Cracks besetzte Band zu Helden von Musikern und Nerds. „Ich habe einige Instrumentalisten in der Band, die zu den besten ihres Fachs gehören – jeder von denen bringt seine eigene Fangemeinde zu den Shows. Das sind ja oft Menschen, die sich stundenlang YouTube-Videos von Musikern ansehen, die mit olympischer Geschwindigkeit spielen – das hat natürlich nichts mit Musik zu tun, das ist Sport. Wenn diese Fans dann zu den Konzerten kommen, sind sie vielleicht etwas enttäuscht – ich bringe meine Band ja eher dazu, weniger zu spielen als mehr. Wer weiß, vielleicht haben unsere Konzerte dadurch sogar einen Lerneffekt.“
Sich selbst sieht Wilson nicht als Virtuosen. „Ich wollte nie Musiker werden – ich wollte Alben machen. Das ist ein riesiger Unterschied! Ich hatte und habe einfach diesen Traum, Alben wie jene aufzunehmen, die mich als Jugendlicher so fasziniert haben. Etwas Großes, Zusammenhängendes. Ich bin viel eher Autor und Architekt als Musiker. Deshalb arbeite ich ja mit so außergewöhnlichen Musikern. Ich selbst bin als Instrumentalist okay, ganz gut, aber mehr nicht. Auf der Bühne laufe ich rum und spiele ein bisschen Keyboard hier und ein bisschen Gitarre da, aber den Hauptjob machen die anderen. Die üben jeden Tag – auch auf Tournee! Ich dagegen könnte gut mal 18 Monate lang keine Gitarre anfassen.“ Nichtsdestotrotz spielt Wilson auf seinen Platten gleich mehrere Instrumente selbst. „Ich habe Sounds im Kopf und kann sie nach draußen transportieren, wo man sie hören kann – das ist meine Kernkompetenz. Deshalb muss ich manchmal etwas selbst spielen, damit es genau so klingt, wie ich es höre. Auch bei diesem Album habe ich Spuren von meinen Musikern wieder gelöscht und eigene aufgenommen. Das ist der Vorteil, wenn man Solokünstler ist – wenn ich so etwas bei Porcupine Tree gemacht hätte, hätte es Ärger gegeben.“
Die Spannung zwischen den reflektierten Planern auf der einen und den intuitiven Klangmalern auf der anderen Seite ist ein entscheidendes Moment im klassischen Prog – etwa bei Pink Floyd, wo die Reibung zwischen den Architekten und den Kunststudenten zu den besten kreativen Ergebnissen, aber auch zu den schwierigsten zwischenmenschlichen Beziehungen führte. „Das gilt nicht nur für Prog-Rock“, erwidert Wilson. „Auch im Post-Punk gibt es diese Spannung – denk doch nur an die Talking Heads! Die beiden Typen von Künstlern brauchen sich gegenseitig; wenn sie aufeinandertreffen, entsteht etwas Spannendes.“
Der Produktionsprozess für Wilsons Soloalben folgt immer demselben Schema. „Er besteht aus drei Phasen“, erklärt er. „Zuerst mache ich in meinem Studio Demos und konzipiere das Album. Dann gehe ich mit meiner Band ins Studio und tue das, was ich collecting data nenne – ich spiele die Songs mit der Band, nehme einzelne Parts in verschiedenen Versionen auf und arbeite an den Fragmenten. In der dritten Phase sitze ich wieder in meinem Studio und schneide die Aufnahmen, bis sie ein Album ergeben.“ Beim letzten Album war das anders. Wilson wollte einen klassischen Sound und nahm die Musik ohne große Umschweife auf: Was man auf „The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)“ hört, sind mehr oder minder fünf Musiker, die gemeinsam spielen. „Die Geschichte des neuen Albums spielt in der Großstadt, deshalb wollte ich eine urbane Atmosphäre“, sagt Wilson. „Ich habe im Vorfeld Klangtexturen entwickelt und Beats programmiert – ein recht festes Korsett, in das sich meine Musiker einpassen mussten.“
Nebenbei hat sich Wilson auch einen Namen im Bereich 5.1-Surroundsound gemacht. Für die entsprechende Arbeit an seinem eigenen Werk – insbesondere den Alben von Porcupine Tree – wurde er für mehrere Grammys nominiert, und seither setzen die großen Alten auf sein Gespür. Robert Fripp vertraute Wilson nach anfänglicher Skepsis gleich den ganzen King-Crimson-Katalog an, Ian Anderson bestellte die Renovierung seiner klassischen Alben „Thick As A Brick“ und „Aqualung“, auch Musiker anderer Genres wie XTC und (demnächst) Tears For Fears sind in der Kundenkartei. Wilson ist der Sanierer des Prog und bringt Alben zum Leuchten, deren Qualität manchmal erst nach seiner Bearbeitung vollumfänglich erkennbar wird.
Sie haben von vielen Alben nicht nur 5.1-, sondern auch neue Stereomixe gemacht. Wie kommt es dazu?
Diese Mixe sind eher ein Abfallprodukt: Um einen 5.1-Mix zu machen, muss ich zuerst den alten Stereomix so gut wie möglich nachbauen. Manchmal möchten die Künstler sie dann hinterher veröffentlichen. Ehrlich gesagt, es sind Sachen erschienen, die man für mein Gefühl nicht hätte veröffentlichen sollen. Ich liebe diese Alben; ich möchte keinen Mix hören, der schlechter ist als das Original.
Sollte man die Mixe dieser ja oft legendären Platten denn überhaupt anfassen?
Es ist ja nicht alles gut, was damals gemacht worden ist. Vielleicht war das Studio nur mittelmäßig, vielleicht war der Toningenieur bekifft oder vielleicht hat jemand die Rauschunterdrückung an einer Stelle angemacht, an der man das besser nicht tut. Ich bin dann eher Detektiv als Toningenieur: Ich weiß ja nicht, wie Robert oder Ian diesen oder jenen Sound damals gemacht haben, und sie können sich natürlich an nichts erinnern. Also höre ich mir die Aufnahmen an und versuche sie in einer vielleicht etwas optimierten Weise nachzubauen. Manchmal klingt das Resultat dann tatsächlich etwas besser als die Vorlage.
Welche Ihrer Mixe sind Ihnen besonders gut gelungen?
„Lizard“ von King Crimson war nicht optimal und ist jetzt wesentlich besser – irgendwie waren die Aufnahmen vorher ein bisschen gedeckelt. Auch „Aqualung“ von Jethro Tull gefällt mir gut.
Wollen die Künstler nicht manchmal im Studio Parts ausbessern – etwas, das sie vielleicht schon immer gestört hat?
Viele wollen diesen Fehler machen, aber in der Regel gewinne ich den Streit. Ich bin der Fan, ich kann das besser beurteilen. Ich weiß, wie blöd ich es finden würde, wenn auf einem Album, das ich liebe, plötzlich etwas anderes gespielt wird.
Weil Steven Wilson sowohl mit seiner Solokarriere als auch mit dem Job als Klangrestaurator voll beschäftigt ist, bleiben die vielen anderen Projekte, in die er involviert war, liegen – allen voran die Band Porcupine Tree, die Wilson zum Pionier und Star des Neo-Prog machte. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben – Wilson nimmt das Wort „Auflösung“ nicht in den Mund. „Es ist sehr gut möglich, dass wir wieder zusammen spielen werden – warten wir es ab! Ich kann nicht begreifen, warum so viele Bands so ein Drama daraus machen müssen. Früher oder später spielen sie ja sowieso wieder zusammen.“