St. Vincent: subtile Emanzipation für das 21. Jahrhundert und darüber hinaus
Rebellion, Individualität und Emanzipation auf non-verbaler Ebene - St. Vincent avanciert beim ROLLING STONE Weekender zu einem Highlight am Weißenhäuser Strand.
Sie ist nicht die erste Frau in einer Band. Sie ist auch nicht die erste Frontfrau, die Gitarre spielt. Und doch ist sie dank natürlicher Selbstzufriedenheit und Grazie eine Frau, von denen es im Musikbusiness viel zu wenige gibt. Annie Clark alias St. Vincent muss sich nichts beweisen. Was ihre Performance viel eher sagen will: Ich habe hier einige meiner Meinung nach außergewöhnliche Songs geschrieben, die ich heute vortragen möchte. Schön, dass sie euch auch gefallen.
„Guten Abend, Ladies und Gentlemen, insbesondere begrüße ich auch jene im Publikum, die zwischen die Begriffe Lady und Gentleman einzuordnen sind“, haucht die Musikerin, die heute ihr graues Haar mondän nach hinten geklemmt hat, ins Mikrofon. Dem Anlass entsprechend trägt sie ein paillettenbesetztes Oberteil mit blutroten Mündern (und Augen). Dass hinter dieser perfekt anmutenden Fassade ein „edgy girl“ steckt, verrät nur das große Loch in der Strumpfhose, das ein Stück nackten Oberschenkel preisgibt.
Es folgen Songs vom neuen Album „St. Vincent“, unter anderem „Digital Witness“, „Prince Johnny“ und „Birth in Reverse“, sowie weiter zurückliegende Stücke ihrer Karriere. St. Vincent ist heute Abend ein Zusammenspiel aus Annie, ihrer Multiinstrumentalistin zur Publikumsrechten, Schlagzeuger und DJ. Bedeutungsschwanger tänzelt die Frontfrau mal einzeln, mal synchron mit Bandkollegin über die Bühne. Die immer wieder tippelnden Ballerina-Schritte lassen Annie Clark wirken, als würde sie sich auf einem Laufband auf der Bühne hin und her fahren lassen.
Jubelschreie aus der Menge vor ihr kitzeln gerührtes Lachen heraus, immer wieder fixiert Annie Clark lange einzelne Personen im Publikum, vielleicht aber auch nur das grelle Scheinwerferlicht vor ihr – es verfehlt seinen Zweck nicht, denn spätestens nach den ersten Liedern ist sich jeder der Intimität dieses Moments bewusst. Clevere Riffs und ausgedehnte Soli beweisen: diese Frau versteht ihr Handwerk blind und nutzt es, um die Grenzen des Machbaren in der Pop- und Rockmusik neu zu umreißen, um sie im darauffolgenden Song erneut zu erweitern.
Das Finale: ein rockstarallürengetränkter Showdown in seiner ganzen Zartheit. Ein Verstärker wird sanft mit dem Fuß berührt, die Gitarre mehrere Male liebevoll an die Saaldecke geklopft. Annie lässt sich von einem Herren auf Schultern durch den Fotograben tragen, hält ihre schwarzlackierte Gitarre in die Menge, lässt jeden spielen und klimpern und freut sich mit ihrem Publikum über einen kleinen, besonderen Moment in unser aller Leben.
Hätte Annie Clark doch schon vor 15 Jahren vor mir gestanden, sie hätte mich wohl nicht unerheblich in meiner Entwicklung beeinflusst, weil sie Rebellion, Individualität und Emanzipation auf non-verbaler Ebene zu übermitteln weiß. Was St. Vincent heute Abend präsentiert, schreit danach – vorausgesetzt man möchte hinhören und –sehen. Dann erkennt man nicht nur eine wunderschöne Frau mit wunderschöner Stimme, sondern auch eine herausragende Künstlerin, die männliche Kollegen mit Leichtigkeit und Anmut ganz locker an die Wand spielt, ohne sich dabei aufdrängen zu wollen. Eine Selbstverständlichkeit, die man nicht hinterfragen muss. Gut, dass es nie zu spät ist, sich neue Vorbilder zu suchen.
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