St. Vincent – Die Rache der Eierköpfe
Intellektuell und Spaß dabei - David Byrne und Annie Clark alias St. Vincent wollten nur ein kleines Wohltätigkeitskonzert in einem New Yorker Café spielen. Doch dann entdeckten die beiden ihre Geistesverwandtschaft und schrieben ein nicht nur dem Titel nach großes Album: "Love This Giant"
Kennen Sie diesen Albtraum auch? Sie sind entgegen Ihren realen Lebensumständen zu einer glamourösen Party eingeladen und halten sich gerade an den Tofu-Frikadellen gütlich, da sehen Sie irgendwo in der Ferne zwei berühmte Künstler sich angeregt unterhalten – sagen wir: Lou Reed und Lars Ulrich oder Willie Nelson und Snoop Dogg oder Wayne Coyne von den Flaming Lips und irgendwen. Sie wissen instinktiv, dass Sie da sofort einschreiten müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Denn die Vorstellung einer weiteren Supergroup oder Kollaboration prominenter Musiker ist einfach nicht zu ertragen. Man hat ja schon manchmal das Gefühl, Popalben würden mittlerweile besetzt wie Blockbuster oder HipHop-Platten – je namhafter der Cast, desto größer die Gewinnerwartung. Funktioniert natürlich nie. Wer hat eigentlich damit angefangen? Die Traveling Wilburys etwa?
Sie sind jedenfalls für einen Moment abgelenkt, weil Ihnen – je nach Präferenz, es ist ja schließlich Ihr Traum – Greta Gerwig oder Giovanni Ribisi auf die Schulter tippt und fragt, ob Sie noch etwas trinken möchten. Als Ihr Puls sich wieder beruhigt hat, sind die potenziellen Projektpartner verschwunden. Sie werden panisch, kalter Schweiß steht Ihnen auf der Stirn. In Ihrer Hilflosigkeit wenden Sie sich an einen Kellner und fragen nach dem Verbleib der beiden Berühmtheiten. Der deutet nur auf die Tür: „Die sind nach gegenüber ins Studio gegangen.“ Sie fallen ins Bodenlose. Nur der Radiowecker kann Sie retten. Sie wachen auf zu „Miracle Worker“ von Superheavy.
Zugegeben, ein gemeinsames Album von David Byrne und der jungen Songwriterin Annie Clark, die sich St. Vincent nennt, klingt schon auf dem Papier nicht gar so scheußlich wie die oben erwähnten Paarungen. Dennoch hat Byrne die Panik in den Augen seiner Gesprächspartner sofort sehen können, als er von seinem neuesten Projekt berichtete. „Als ich erzählte, ich schriebe mit Annie ein paar Songs, nickten alle freundlich. Aber als ich erklärte, dass ein Bläserensemble involviert sei, entgleisten die Gesichtszüge -, Oh.'“ Byrne lacht. Ein bisschen zu lang. Clark stimmt ein. „Sie witterten ein Kunstprojekt“, sagt sie. „Eine dieser Platten, die man eigentlich hören sollte, aber niemals auflegt.“ Vielleicht so was wie „The Knee Plays“, Byrnes Arbeit mit der Dirty Dozen Brass Band für ein Theaterstück von Robert Wilson. Der Regisseur hat schon oft mit den Weihen der Hochkultur gewinkt und Pop-Prominenz in Kitsch und Kunsthandwerk gelockt.
Um gleich Entwarnung zu geben: „Love This Giant“ ist nicht eines dieser Alben. Im Gegenteil. Wenngleich das Cover schon auf einen ausgeprägten Kunstwillen schließen lässt. Gabe Bartalos, der sonst unter anderem Prothesen für die Werke des Konzeptkünstler und Björk-Ehemanns Matthew Barney herstellt, hat Byrne und Clark als absurd übersteigerte „Die Schöne und das Biest“-Variante inszeniert. Mit verteilten Rollen. die 29-jährige Clark gibt mit monströsem Kinn den Freak, der 60-jährige Byrne mit virilem Kinn den von Schönheitsoperationen verformten Beau.
„Nach dem Shooting war ich zu einem Fundraising-Essen eingeladen“, erzählt Byrne. „Ich hatte es eilig und habe daher die Prothese drangelassen und niemand hat es gemerkt.“ Clark lacht. „Iiih. Mit diesem Riesenkinn konntest du ja überhaupt nicht kauen!“ „Doch, das geht schon, sieht nur etwas komisch aus“, erklärt Byrne. „Aber ich hab’s vorher auf dem Klo abgenommen.“
Die beiden harmonieren gut miteinander. Auch optisch. Auch ohne Maske. Annie Clark erscheint zum Interview ganz in Schwarz, David Byrne in weiß-blauer Nadelstreifenhose, passenden Hosenträgern, weißem Hemd und weißer Uhr. Yin und Yang. Sie geben sich locker und entspannt, obwohl beide ein bisschen im Stress sind. Clark kämpft noch mit dem Jetlag, da sie vor wenigen Tagen von der St.-Vincent-Tour durch Europa zurückgekommen ist, Byrne hat gerade „Here Lies Love“, sein mit Fatboy Slim komponiertes Konzeptalbum über das Leben der philippinischen Diktatorengattin Imelda Marcos, als Tanzperformance auf die Bühne gebracht und wird in den USA im September ein neues Buch mit dem Titel „How Music Works“ veröffentlichen. „Ich hab schon ein paar Kapitel gelesen“, verrät Clark. „Unter anderem geht es darum, wie Ort und Zeit die Kreation eines Musikstücks beeinflussen.“ Können wir ja gleich mal an „Love This Giant“ durchspielen.
Gehen wir also zurück ins Jahr 2009. Nach Manhattan. Genauer gesagt nach NoLita – North Litte Italy -, in die Crosby Street. Dort befindet sich das Café der Aidshilfe-Organisation Housing Works, wo Byrne und Clark ein Wohltätigkeitsevent besuchten und ins Gespräch kamen. Er lobte das Video zum damals aktuellen St.-Vincent-Song „Actor Out Of Work“, sie kicherte aufgeregt und erinnerte sich daran, wie sie 1985 mit drei Jahren zu Hause in Dallas, Texas zum ersten Mal Byrnes Stimme hörte. Im Soundtrack eines Films, den ihre ältere Schwester, ein großer Talking-Heads-Fan, aus der Videothek ausgeliehen hatte: „Revenge Of The Nerds“.
Ein Housing-Works-Mitarbeiter unterbrach das Gespräch. Allerdings nicht, um eine Zusammenarbeit der beiden zu verhindern, sondern um eine vorzuschlagen: Byrne und Clark könnten doch mal ein gemeinsames Konzert spielen in diesen Räumlichkeiten. „Das ist ein sehr kleiner Raum, eher ein Buchladen als ein Konzertsaal“, erklärt Clark. „Und es gibt keine große Beschallungsanlage. Da dachte ich, es wäre am einfachsten, statt mit einer Band, die aufwendig abgemischt werden muss, einfach mit einigen Bläsern zu spielen, die keine künstliche Verstärkung brauchen.“ Byrne gefiel die Idee, und die beiden tauschten ihre E-Mail-Adressen aus.
Obwohl sie in Manhattan nur 20 Blocks voneinander entfernt wohnen, arbeiteten sie ausschließlich über das Internet an gemeinsamen Songs. „Wir sind beide viel unterwegs, da bot sich diese Arbeitsweise an“, erklärt Byrne. „Ich habe bisher gute Erfahrungen damit gemacht. Ob mit Will Oldham, Fatboy Slim oder Brian Eno. Diese Kollaborationen waren allerdings, was die Aufgabenverteilung angeht, wesentlich klarer strukturiert. Will schrieb die Texte, ich die Musik, Brian machte den Sound, ich die Songs. Die Arbeit mit Annie war offener. Alles war erlaubt. Annie kam mit Songideen, die ich weiterführte, und andersherum.“ „Es war wie musikalisches Tennis“, ergänzt Clark, „die Ideen flogen hin und her.“
Thematisch gab Byrne die Richtung vor. „Songtexte kann man eigentlich nur allein schreiben“, sagt er. „Das ist zumindest für mich eine sehr persönliche Angelegenheit. Das ist vielleicht der schwierigste Teil einer solchen Zusammenarbeit, weil man den Song durch Wörter mit Bedeutung auflädt und definiert, ohne dass der andere etwas dagegen tun kann. Deshalb war Annie wohl zu Anfang etwas zögerlich, und ich habe für unsere ersten Stücke die Texte geschrieben.“
Clark hat erst mal abgewartet. „Als ich erkannte, dass es David in seinen Texten um einen bewussten Umgang mit unserer Umwelt, die großen und die kleinen Zusammenhänge, die Verschränkung des Öffentlichen und Privaten ging, habe ich mich textlich auch in diese Richtung bewegt. Manchmal hatte ich sogar seine Stimme im Ohr, wenn ich schrieb.“
Song um Song wurden die Arrangements komplexer, der ursprüngliche Anlass eines kleinen intimen Konzertes rückte immer weiter in den Hintergrund. Clark und Byrne trafen sich zum Essen, gingen gemeinsam ins Konzert oder Theater, um sich besser kennenzulernen und über die Möglichkeiten, die ein Bläserensemble musikalisch und emotional bietet, zu diskutierten. „Wenn wir beide in der Stadt waren, war das bei einer Distanz von 20 Blocks mit der sozialen Interaktion natürlich leicht“, meint Byrne, der neben einer räumlichen auch gleich eine mentale Nähe zu Clark gefunden hat. „Wir gehen beide sehr analytisch an die Musik heran, und wir lieben es, Musik wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Das hört man Annies Alben ja auch an.“
Die Zusammenarbeit wurde zu einem festen Bestandteil ihrer beider Leben, drei Jahre lang – manche Ehe hält nicht so lange. „Bei mir sind Ideen normalerweise sehr an die Zeit gebunden, in der sie entstehen“, sagt Byrne. „Deshalb war ich auch ziemlich verwundert, dass mir die ersten Sachen, die wir komponiert hatten, immer noch gefielen, als wir beschlossen, ein Album zu machen und gemeinsam ins Studio zu gehen. Diese Stücke sind anscheinend jenseits von Trends entstanden.“
Bei den Aufnahmen wurde den beiden erstmals bewusst, welches Ausmaß ihre virtuellen Songwriting-Sessions angenommen hatten. Im Studio gingen gleich mehrere Bläserensembles mit teilweise bis zu 17 Musikern ein und aus. Eines wurde vom Songwriter und Arrangeur Kelly Pratt zusammengestellt, der schon für Beirut und Arcade Fire arbeitete, eines vom Ex-Tower-Of-Power-Saxofonisten Lenny Pickett, bei einem Song spielen die Retrokönige The Dap-Kings gemeinsam mit dem Afrobeat-Orchester Antibalas. Auf Clarks Vorschlag programmierte John Congleton, der das letzte St.-Vincent-Album „Strange Mercy“ produzierte, anschließend die Rhythmen dazu. „Ein richtiges Schlagzeug hätte den Sound der Bläser zu sehr beeinflusst“, erklärt Clark. „Die Rhythmusgruppe durfte sich nur in einem bestimmten klanglichen Spektrum bewegen.“
„Love This Giant“ macht ähnlich wilde musikalische Sprünge wie ein St.-Vincent-Album, wechselt zwischen Stilen und Rhythmen, wirkt dabei aber dynamischer und weniger kühl als Clarks bisheriges Werk. „Wenn die Arrangements zu komplex wurden, stand ich häufiger mal ratlos davor und konnte absolut keine Melodie finden, die man darüberlegen könnte“, sagt sie. „In solchen Momenten war David immer zur Stelle. Ich habe ihm den Track gemailt, und er hat sofort durchgeblickt und eine Lösung gefunden, das eingängiger und appetitlicher zu machen.“
Ausgerechnet der Autist David Byrne, der 2009 bekannte, am Asperger-Syndrom zu leiden, ist hier der Simplifizierer und Emotionalisierer – darauf wäre man nicht unbedingt gekommen. „Ich weiß ja, dass ich eigentlich kopfgesteuert bin“, sagt er, „aber ich habe über die Jahre eine Strategie entwickelt, mit Melodien und Texten gegenzusteuern.“
Offensichtlich gehören auch die Titel seiner letzten Alben zu dieser Strategie. Der Soundtrack zur HBO-Serie „Big Love“, das Marcos-Musical „Here Lies Love“ und nun „Love This Giant“ – immer ist die Liebe im Spiel. „Das hätte mir auffallen sollen“, ruft Byrne, der schon seit einigen Jahren mit der New Yorker Fotografin und Konzeptkünstlerin Cindy Sherman liiert ist, erstaunt. „Das ist sicher kein Zufall, aber es steckt auch kein Konzept dahinter. Jedenfalls nicht bewusst.“
„Love This Giant“ funktioniert auch ohne Konzept und ohne Überbau ganz hervorragend. Wie Byrnes Zusammenarbeit mit Brian Eno, „Everything That Happens Will Happen“ von 2008, klingt das Album erstaunlich ungekünstelt und unangestrengt. Der Sound der Bläser hält alles zusammen, die individuellen Stimmen und Stile sorgen für Spannung. „Ich glaube, man hört auch die Hektik und die Atmosphäre der Stadt in diesen Stücken“, meint Clark. Also doch ein Konzept. Klar. „Love This Giant“ ist ein New-York-Album. Man hört den Soul und die Latin-Einflüsse aus Harlem, die Kunstmusik, die im Lincoln-Center an der Upper West Side aufgeführt wird, die Talking Heads im CBGB’s an der Bowery und die Indie-Avantgarde aus Brooklyn. „Ich ich bin mir sicher, dass wir unabhängig voneinander niemals eine solche Platte gemacht hätten“, so Clark. Ohne das kleine Café der Housing Works, die 20 Blocks zwischen ihren Wohnungen, und das grenzenlose Internet wäre „Love This Giant“ nicht entstanden. That’s how music works.