Spuren der Vergangenheit
Nach ihrer Reunion gehen Harmonia wieder getrennte Wege. Zuvor erscheint jedoch noch ein neues altes Album.
Als 1997 plötzlich Harmonias „Tracks And Traces“ erschien, war die Überraschung groß. Mit einer Archiv-Veröffentlichung der eher kurzlebigen Krautrock bzw. Prä-Elektro-Supergroup war nicht zu rechnen gewesen, schon gar nicht 20 Jahre später. Wohl hatten Eingeweihte von den verschollenen Bändern gehört und sich Geschichten erzählt von der legendären Session in Forst an der Weser. Da hatten drei Große des Krautrock – Dieter Moebius, Hans-Joachim Roedelius und Michael Rother – in ihrer heimatlichen Umgebung einen anderen, noch Größeren – Brian Eno – begrüßt und zusammen Musik gemacht.
Ganz ungezwungen, wie Michael Rother im Rückblick betont. „Wir haben völlig entspannt gearbeitet und in keiner Weise versucht, etwas Präzises auf Band zu hinterlassen. Wir haben einfach gespielt. Das ist ein Moment, den genießt man, und später hat man dann sogar noch ein Dokument davon.“
Die 97er-Veröffentliehung ging indes nicht ganz so entspannt vonstatten. Roedelius hatte im Alleingang in Enos Archiven eines der vier Vierspurbänder gefunden und für das bekannte Album überarbeitet. Eines Tages fanden seine beiden Ex-Kollegen das Ergebnis in der Post. „Da waren Moebius und ich natürlich überhaupt nicht erfreut, weil das gemeinsam hätte gemacht werden müssen“, sagt Rother. „Seine Umsetzung war allerdings einwandfrei.“ In den kommenden Jahren entdeckte die Welt den Krautrock wieder bzw. zum ersten Mal. Auch Harmonia profitierten, als Rother 2007 einen Live-Mitschnitt von 1974 für eine Veröffentlichung herausputzte. Es folgten weltweit Konzerte und Auftritte auf großen Festivals. „Es war schön zu sehen, wie viele junge Leute mit unserer Ästhetik etwas anfangen konnten. In den Siebzigern haben wir oft vor drei Leuten gespielt und auch dann nur Unverständnis geerntet. Heute sind, wie ich höre, viele neue Leute mit unseren Ideen vertraut, weil sie Bands kennen, die bei uns hingehört haben, um es mal so auszudrücken. Ich kann das nicht immer so sehen; wenn sich zum Beispiel jemand einfach die Motorik von Neu! schnappt, dann ist das ein bisschen kurz gesprungen. Damit hat man das Wesen von Neu! nicht transplantiert.“
Dass Harmnonia im Frühling dieses Jahres beschlossen, nicht mehr zusammen auf eine Bühne zu gehen, ist eher nicht in Rothers Sinn, der frei heraus zugibt, dass er die späten Ehren gern noch etwas genossen hätte. „Leider hat sich die Geschichte bei Harmonia wiederholt“, erklärt er, „die Chemie war die gleiche wie früher, auch die Spannungen und Eigenarten innerhalb der Gruppe waren noch genauso. Ich bevorzuge zum Beispiel im Moment das Kräftige, Rhythmische, den schnellen Fußball. Ich meine auch, live darauf die enthusiastischsten Reaktionen bekommen zu haben.“
Mindestens ein neues Kapitel bekommt die Harmonia-Geschichte aber doch noch. Rother war nicht ganz glücklich mit Roedelius‘ „Tracks And Traces“ und machte sich an seine eigene Version. Nur so zum Anhören hatte er sich am letzten Abend der Eno-Session die Bänder auf einfache Kassetten überspielt. Knapp 30 zusätzliche Cuts befinden sich auf diesen Zweispur-Kopien, drei davon ergänzen nun – in klanglich aufgebesserter Form – das ursprüngliche Repertoire. Heraus kommt das in diesem Tagen veröffentlichte „Tracks And Traces Re-Released“. „Für mein Empfinden hat Roedelius‘ Version nicht ganz die Balance der Arbeiten von damals wiedergegeben“, sagt Rother. Die neuen Tracks biegen das offenbar gerade, indem sie das Repertoire freundlich warm umschließen und das Gesamtgefühl tatsächlich leicht ändern.
An anderer Stelle befasst sich Rother derzeit genauso ausgiebig mit der Vergangenheit. Unter anderem steht eine Neu!-Vinylbox an. Vor dem Hintergrund des Todes von Klaus Dinger im März 2008 sei das eine sehr emotionale Arbeit, sagt Rother. „Mein Verhältnis zu Klaus, das lange sehr gespannt war, verändert sich natürlich mit dem Tod. Die Wahrnehmung seiner künstlerischen Persönlichkeit und die Anerkennung sind deutlich größer. Seine Kreativität, aber auch alles, was an ihm ein bisschen schwierig war, sehe ich viel entspannter.“
Dass Künstler, deren Werk von der ständigen Vorwärtsbewegung und der Lust an der Überraschung geprägt ist, so tief in die Vergangenheit eintauchen, scheint kurios. „Ich muss das immer balancieren mit der Genugtuung und Freude darüber, dass die Arbeiten weltweit jetzt so ein tolles Echo bekommen“, bestätigt Rother. „Das ist eine Art Liebesdienst – ich fühle mich wie ein Museumswärter. Ich schwelge nicht in Nostalgie, aber ich bin ein überzeugter Dokumentarist.“