Spiderman vs. Eminem
Die DVD boomt, die CD darbt. Die Krise der Musikindustrie verschärft sich auch 2002, trifft aber vor allem die großen Konzerne. Und bei denen dreht sich wieder einmal das Übernahmekarussell.
Lasst nackte Zahlen sprechen: Die „Spiderman“-DVD war gerade einen Tag auf dem Markt, da waren die Umsätze bereits höher als die Jahresumsätze der erfolgreichsten Audio-CD. Ende 2002 dürfte „Spiderman“ rund 15 Millionen Exemplare verkauft haben, während „The Eminem Show“ bei einer Stückzahl von 6,5 Millionen stagniert.
Das Beispiel stammt aus den USA, ist aber weltweit symptomatisch. Im dritten Jahr in Folge muss die Musikbranche Einbußen verkraften, die oft genug zweistellig ausfallen. International wurden in den ersten sechs Monaten 9,2% weniger CDs verkauft, in Deutschland waren es 14,4%. (Die Zahlen für das Gesamtjahr liegen erst in einigen Wochen vor.) Und das ist nur die offizielle Statistik. Hinter vorgehaltener Hand hört man immer häufiger von haarsträubenden Transaktionen und Umbuchungen, mit denen Bilanzen und Umsatzvorgaben zumindest halbwegs auf Vordermann gebracht werden sollen. Große Handelsketten (wie Tower Records in den USA) pfeifen auf dem letzten Insolvenz-Loch, reine Online-Versender wie etwa CD-Now, denen man vor Jahren noch eine goldene Zukunft prophezeite, trifft es noch ärger.
Man mag fast Mitleid haben mit dieser gebeutelten Industrie, die von der digitalen Revolution geradezu dezimiert wird. Die Downloads fressen sich immer tiefer in die Eingeweide, der Kopierschutz greift (noch) nicht – und die eigenen, kostenpflichtigen Download-Plattformen gemahnen bestenfalls an die Mär vom tapferen Schneiderlein.
Dass Napster lahmgelegt wurde, hat erwartungsgemäß keinerlei Linderung gebracht. Die illegalen Download-Aktivitäten sind – vorläufigen Schätzungen zufolge – im ablaufenden Jahr um 50% gegenüber 2001 gestiegen, und selbst die Trojanischen Pferde, die man – ganz inoffiziell, versteht sich – in die Tauschbörsen einschleusen ließ, erwiesen sich im wahrsten Sinne des Wortes als hohl: Hatte ein User erst mal kapiert, dass er sich eine leere oder defekte Datei heruntergeladen hatte, wurde selbige natürlich umgehend von der Festplatte gelöscht – und verschwand damit wieder aus dem sich selbst nährenden Peerto-Peer-Kreislauf. Dass gerade KaZaa-Nutzer in jüngster Zeit verstärkt über importierte Viren klagen, wird in diesem Zusammenhang sicher ein Zufall sein. Honi soit qui mal y pense.
Ungewöhnliche Situationen verlangen nach ungewöhnlichen Maßnahmen, und vieles von dem, was die gequälte Industrie in ihrer Agonie unternimmt, mag verständlich, ja unumgänglich sein. Ungeschmälertes Mitleid will sich trotzdem nicht so recht einstellen, wenn man gleichzeitig mit Exzessen konfrontiert wird, die an jene fernen Zeiten erinnern, in denen im Musicland noch Milch und Honig flössen. 2,74 Milliarden (!) Dollar musste Bertelsmann letztlich löhnen, um die bröckelnde Teenpop-Fabrik von Zomba-Gründer Clive Calder zu übernehmen. Kaum war die Übernahme offiziell, verklagten die Backstreet Boys, Zombas ehemalige Goldesel, die neuen Herren auf 75 Millionen Dollar: Man habe im Zuge der Firmenübernahme versäumt, rechtzeitig die Veröffentlichung des neuen Albums vorzubereiten.
Rechnet man dann noch die Aber-Millionen dazu, mit denen Bertelsmann immer wieder seinen US-Trabanten Clive Davis alimentiert (erst Arista, dann J-Records, jetzt RCA), kommt man auf eine Summe, die höher ist als der jährliche Umsatz der deutschen Musikindustrie zusammengenommen. Und weil das Geld ja irgendwie wieder reinkommen muss, wird nun gespart. Beim Personal. Im Januar, so munkelt die Branche, ständen bei BMG in München radikale Einschnitte an.
„I’m pretty optimistic“, sagt dagegen Frank Callari, Vizepräsident des amerikanischen Lost Highway-Labels, das mit Künstlern wie Ryan Adams und Lucinda Williams zwar keine Milliarden umsetzt, aber erfolgreich eine musikalische Nische besetzt hat, die nicht nur ein überwintern ermöglicht, sondern auch in kargen Zeiten steigende Umsätze. „Mögen die Großen auch noch so viel jammern – bei uns stürzt der Himmel nicht ein.“ Ähnliche Töne hört man auch von Berthold Seliger, der sich mit seiner gleichnamigen Berliner Konzertagentur auf amerikanisches Alt-Country-Repertoire (Lambchop, Calexico) und Weltmusik spezialisiert hat. „Mittelständische Strukturen wären für die Musikindustrie besser. Das hat mit etwas Altmodischem wie der Persönlichkeit des Unternehmers zu tun; das fördert Leute, die an etwas glauben und sich Strukturen schaffen, in denen sie das vertreten können. Und man hat nicht den Druck von außen, also von Shareholdern, die sagen, es müssen zehn Prozent Gewinn reinkommen. Die Kollegen, mit denen ich spreche – kleinere Plattenfirmen und mittlere Agenturen -, erzählen ebenfalls alle, dass es ihnen gut geht. Die Krise in der Musikindustrie scheint in erster Linie eine Krise der Giganten.“ Gigant Nr. 1, die französische Universal/Vivendi-Gruppe, hat noch einen weiteren Grund, sorgenvoll in das neue Jahre zu blicken. Der hoch verschuldete Konzern, der sich in einem mehrjährigen Shopping-Rausch völlig übernahm, hat von dem texanischen Öl-Milliardär Marvin Davis ein Angebot für die gesamte Unterhaltungssparte bekommen. Die erste Offerte in Höhe von 15 Milliarden Dollar wurde noch rigoros abgelehnt, doch nachdem Davis nun fünf Milliarden drauflegte, werden die Dementis aus Paris merklich schwächer. Im Davis-Camp rechnet man damit, dass in den ersten Januartagen die Verhandlungen aufgenommen werden. Nicht auszuschließen, dass der Wenders-Film „Paris, Texas“ dann eine ganz neue Bedeutung gewinnt.
Ob es eines Tages vielleicht gar Berlin, Texas heißen wird, steht allerdings in den Sternen. Noch im November präsentierte sich das deutsche Universal-Team in amerikanischen Business-Magazinen, um dort für den auch nicht mehr so prickelnden – „Standort Berlin“ zu werben (Schließlich hatte der Berliner Senat für die Umsiedlung aus Hamburg tief in die Tasche gegriffen…). Auch bei einer erneuten Übernahme würde das Team um Tim Renner wohl kaum das frisch renovierte Domizil wieder räumen müssen – doch die Wolken sind auch an der Spree dunkel genug. Denn eines ist sicher: Bei dem Trauermarsch, den die Weltwirtschaft, vor allem aber das Panikorchester Deutschland, auch 2003 spielen wird, wird die Musikindustrie einmal mehr in der ersten Reihe mitlaufen.