Sozialismus, Reisevisa und die Tränen im Teatro Nacional
UCHT MAN IN HAVANNA nach Kuba-Klischees, wird man an der Plaza de la Revolución fündig: ein großflächig zubetonierter Ort, umringt von noch fieseren Klötzen, an deren Außenwänden die kolossalen Konterfeis der Revolutions-Ikonen Che und Camilo samt deren bekanntesten Slogans prangen:“Vas bien, Fidel!“ Und: „Hasta la victoria siempre!“ Nur einmal im Jahr bekommt der trostlose Platz etwas Farbe, wenn Hunderttausende das sozialistische Kuba feiern, auch im 54. Jahr der Revolution.
An diesem Abend bleibt der Platz jedoch leer wie sonst meist auch – während sich nur einen Steinwurf entfernt das Teatro Nacional in Minutenschnelle mit Tausenden Kubanern füllt. Sie kommen um eine andere Ikone zu feiern: Carlos Varela, Superstar der kubanischen Nueva trova, einer Art Singer/Songwriter-Schule, die sich der künstlerischen Aufarbeitung der 1959er-Revolution verschrieben hatte. In den Achtzigern und Neunzigern wurde Varela dabei zum Wolfgang Springsteen, wahlweise Bruce Niedecken seiner Zunft. Nach Jahren der Bühnenabstinenz in der Heimat tritt er nun erstmals wieder in Havanna auf, der Stadt, in der er auch lebt. Varela ist in Kuba längst zur lebenden Legende geworden. Und natürlich gab es im Vorfeld des Konzerts Ärger mit allerlei Schwarzmarkt-Tickets. Die Nachfrage war riesig. Und der Saal mit rund 2.300 Plätzen natürlich viel zu klein. Am Abend stehen gut doppelt so viele Menschen an, alle mit Tickets in den Händen -wie das gehen kann? Socialismo cubano! Fast alle drängen am Ende in das zum Bersten gefüllte Teatro.
Die Stimmung ist trotz qualvoller Enge großartig. Dass Carlos Varela den Termin für sein Konzert nicht zufällig gewählt hat, wissen die meisten – er feiert sein 30. Bühnenjubiläum. „Das ist ein ganz besonderer Abend heute, ein spezielles Datum“, sagt Varela zu Beginn der dreistündigen Show. „Wer weiß, wo wir uns ab Montag alle treffen können? Vielleicht in New York, vielleicht in Europa.“ Tosender Beifall im Saal; Menschen, die selbst das Land bisher noch nie verlassen konnten, applaudieren.
Seit dem 14. Januar gilt in Kuba ein neues Gesetz, das es der Bevölkerung leichter machen soll, Ausreise-Visa zu beantragen. Doch nicht wenige Kubaner sind misstrauisch und sprechen von einer „trampa“ (Falle). Ihr Verdacht: Regimekritische Kubaner dürften nach der Ausreise womöglich nicht mehr ins Land zurück.
„Wir sind ein extrem hoffnungsvolles Volk, und das ist gut. Wir glauben seit je fest daran, dass sich die Situation bald ändert“, sagt Varela im Gespräch mit ROLLING STONE. „Leider weiß man nie genau, ob zum Guten oder zum Schlechten. Das ist unsere Erfahrung. Die Welt hat sich verändert, ökonomisch und auch politisch. Ich bin froh, dass dieser Wandel nun auch Kuba erreicht.“ Doch Skepsis bleibt: „Wie die Winde jetzt wehen und wohin, das werden uns die kommenden Monate zeigen.“
Der Sänger und Musiker, der im April seinen 50sten Geburtstag feiern konnte, ist selbst häufig im Ausland gewesen und auch in den USA und Kanada aufgetreten -das Privileg eines populären, erfolgreichen Künstlers, der zwar kritisch ist, sich aber auch nie zu weit aus dem Fenster lehnt. Das Recht auf Reisefreiheit vertritt Varela so vehement wie diplomatisch. „Ich erzähle meinen Freunden immer, was in der Welt da draußen passiert. Doch was dort tatsächlich los ist, können sie nur begreifen, indem sie es selbst erleben. Reisefreiheit wird uns Kubaner reifer machen. Wir werden ein besseres Bild von dieser Welt und ihren Zusammenhängen bekommen. Aber ich wünsche mir, dass viele Kubaner auch wieder auf die Insel zurückkommen.“
Varela spielt den ersten Akkord auf seiner Gitarre, und wirklich jeder im Saal erkennt den Song sofort. Frenetischer Jubel braust auf. Er trägt den Heimkehrer Varela durch sein Konzert, alle Lieder werden aus hunderten Kehlen mitgesungen, Mütter und Töchter liegen einander in den Armen, der Großteil zumindest des weiblichen Publikums hat schon beim ersten Song Tränen in den Augen. „Meine Konzerte sind ebenso sehr ein soziales Phänomen wie ein kulturelles“, sagt Varela später und lächelt.
Der kompakte, bärtige Mann misst um die 1,60 Meter. „Gnomo“ heißt selbstironisch eins seiner bekanntesten Lieder. Vielleicht auch ein Grund, warum Varela extravagante Auftritte liebt und im sonst so farbenfrohen Kuba stets von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet ist. Todo negro. Auch seine Sonnenbrille nimmt er nie ab. Der singende Volkstribun hat sich ein Image geschaffen. Doch Varelas Songs handeln vom Alltag in Kuba im Allgemeinen und vom Alltag in Havanna im Besonderen, seine Musik orientiert sich ebenso an amerikanischer Popkultur wie an karibischer und lateinamerikanischer Tradition. Dabei klingt er mal nach kubanischem Tango, mal wie ein Folkie, wie ein Jazzer, wie ein kubanischer Springsteen. Die erstaunliche Bandbreite ist auch eines seiner Markenzeichen.
Mit seinen Liedern trifft Carlos Varela das Lebensgefühl seiner Generation. Die Generation derer, die wie er nach 1959 geboren wurden und vom Revolutionspathos und dem Stillstand bestenfalls angeödet sind. Wenn er von der „resignación“ singt, von der „silencio“, dann weiß jeder im Publikum, was gemeint ist. „Der Unterschied zwischen der DDR und Kuba ist, dass es hinter der Mauer eben ein anderes Deutschland gab. Hier in Kuba gibt es einfach nur das Meer“, erklärt er. „Und das ist auch eine Art Mauer. Als die Mauer in Berlin fiel, schrieb ich das Lied „Ahora que los mapas están cambiando de color“ („Jetzt, da die Landkarten ihre Farben ändern“). Mein Gefühl damals war, dass alle bunten Teile der Berliner Mauer auf Kuba fallen und Kuba das einzige Land ist, das sich noch an diese überkommene Ideologie klammert.“ Varela macht eine lange Pause. „Und jetzt ist schon 2013“, sagt er dann.
In Berlin war Varela noch nie, aber im Gegensatz zu seinen Zuschauern kann er schon seit längerem relativ problemlos das Land verlassen und Tourneen in anderen Ländern spielen, Metropolen besuchen, sich inspirieren lassen – mit Ausreisegenehmigungen hatte er nie Probleme. Jetzt, im April, ist er für ein Konzert in Miami gebucht; in New York, Chicago und Toronto ist er auch schon aufgetreten. Sein Publikum dort sind Exilkubaner, in ihrer Mehrheit natürlich Regimegegner und Wirtschaftsflüchtlinge. Sie lieben die Nueva trova, eine Musik, die Amerika und Kuba zu verbinden scheint. Für Amerikaner ohne kubanische Wurzeln ist sie irritierender -gerade hatte man sich an den Sound des Buena Vista Social Club gewöhnt, und nun so was.
Varela hat viele und vor allem gut vernetzte Freunde im Ausland, die ihn sponsern und protegieren. Einer von ihnen ist Jackson Browne. Der US-Songwriter ist mit der amerikanisch-kubanischen Gemengelage erstaunlich gut vertraut. Vor zwei Jahren organisierte er ein Konzert mit Varela in New York, an diesem Abend nun singt Browne im Teatro Nacional „Take It Easy“ im Duett mit Varela. Damit führen sie auch das völlig unsinnige US-Embargo ad absurdum -denn Musik kennt bekanntlich keine Grenzen.
Schließlich gesellt sich noch der kubanische Rapper X-Alfonso zu ihnen auf die Bühne, und auch der Puertoricaner Eduardo Cabra von Calle 13 darf einen seiner Reggaeton-Hits spielen. Jene Musik, die zurzeit bei jungen Kubanern besonders gefragt ist und einem in Havannas Taxis die Trommelfelle vibrieren lässt. Je länger der Abend, desto mehr verwandelt sich das Konzert in einen großen Proberaum für internationale Musiker und Musikstile, unterstützt von einem bemerkenswerten Mini-Kammerorchester.
Auch Kuba selbst scheint ein großer Proberaum zu sein. Der kubanische Sozialismus bewegt sich in Widersprüchen. So beruht
Varelas Erfolg auf sozial-und regimekritischen Songs. Gleichzeitig jedoch genießt er sämtliche Privilegien in vollen Zügen. Er verdient Geld im Ausland und lebt in Kuba. Von Varelas Leben kann der durchschnittliche Staatsangestellte nur träumen: 80 Prozent der kubanischen Arbeitnehmer erhalten einen Monatslohn von umgerechnet 15 Euro. Dass bislang nur sehr wenige der nicht so prominenten Kubaner Ausreisevisa beantragt haben, das liegt eben nicht nur an politischer Repression -sondern schlicht am fehlenden Geld. Ein Visum ist teuer.
Natürlich ist die prekäre wirtschaftliche Situation der Hauptgrund für die Unzufriedenheit. Und natürlich hofft die Castro-Regierung, mit der neuen Visumfreiheit Druck aus dem sozialistischen Kessel zu nehmen. Bis zu 24 Monate dürfen Kubaner nun im Ausland bleiben. Danach kehren sie entweder mit Devisen zurück -oder eben nicht. Auch so kann man lästige, unzufriedene Bürger loswerden.
Knapp vier Monate nach Inkrafttreten dieses Eilgesetzes funktioniert das legalisierte Reisen tatsächlich. Tausende Kubaner haben ein Visum beantragt, viele Hunderte die Insel bereits verlassen. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Das Ziel der Mehrheit der Ausreisenden ist klar: Geld im Ausland verdienen. Und: Der große Exodus hat bislang nicht stattgefunden.
Auf der Bühne des Teatro ist man mittlerweile zum Rum übergegangen, die Flasche kreist, die Stimmung kocht. Das Publikum liebt den kleinen Mann in Schwarz, auch wenn manche durchaus die Widersprüchlichkeit seines Lebens sehen -aber in Carlos Varela spiegeln sich eben auch die Widersprüche des Lebens im Inselstaat. Und so schwitzen, tanzen, trinken und weinen sie im Teatro National noch bis tief in die Nacht. Vas bien, Carlos!