Southside Festival 2014, der Samstag: Helga ist tot!
Große Gefühle und ein Todesfall: Am Southside-Samstag hat Reignwolf scharrenweise männliche Groupies angezogen, es gibt Boyfriend-Issues bei Angus & Julia Stone und ein AC/DC-Original bezirzt seine Liebste bei The Kooks.
Es ist der Tag der Motto-Klamotte. Viele der 60.000 Angereisten hat das obligatorische Band-Shirt gegen Khedira-Trikot oder ähnlich Nationalelf-Freundliches getauscht. Vor der Sonne schützt das nicht. Sie brennt aufgemalte Deutschlandflaggen in uneingecremte Gesichter. Der kühle Wind wog die Hautkrebskandidaten in Sicherheit. Jetzt jagt er den beißenden Gestank der Dixiklos über die Fressmeile vor dem Festivalgelände. Kombiniert mit warmem Dosenbier steigt vielen die Hitze zu Kopf. Das führt zu Wahnvorstellungen und Theatralik. „Helga ist tot“, antwortet ein Jüngling bedeutungsschwanger-kreischend auf die Suchrufe eines anderen.
Weiterer Effekt der Hitze: Orientierungslosigkeit. Vor die Bühne bei Reignwolf hat sich die geballte Casper-Fan-Bagage verirrt. Dick eingecremt (mit Leuchtfarbe) grölen sie dem Kanadier entgegen. Hinter ihnen stehen Druffis mit Hawaiihemden und gucken bedröppelt als Jordan Cook mit Schiebermütze über wüst-schwarzem Haar bei „Electric Love“ seine One-Man-Led-Zeppelin-Show aufführt. Halsbrecherisch ist sie, wenn er bei einem seiner Gitarrensoli den Mikrofonständer umwischt. Entwaffnend, wenn er mit einer Hand über seine Semiakustik schreddert, mit der anderen den Drums den Takt einbläut. Das (vorwiegend männlich) Publikum mimt die Vorzeigegroupies. Einer von ihnen sitzt versonnen lächelnd auf den Schultern eines Freundes. Die Casper-Fans sind verschwunden.
Auch Julia von Angus & Julia Stone hat es mit glühenden Verehrern zu tun. Ein Mann will sich mit vorsorglich entblößten Bauchmuskeln seinen Weg direkt vor die Bühne ergaunern. Seine „Freundin Julia“ habe er im überfüllten Zelt angeblich verloren, sie stünde auf der Bühne. Sein bulliges Gegenüber versteht keinen Spaß, wenn „Big Jet Plane“ angestimmt wird und Julia mit kurzem Schulmädchenröckchen den Hanni-und-Nanni-Stereotype darstellt. Beim Verlassen der Bühne ergreift sie die Hand ihres Bruders. Über der Decke der White Stage fangen gigantische, weiße Traumfänger die Tagträume und den kondensierten Schweiß der Menge ein. Auf der Red Stage fehlt Poliça das Publikum. So schwebt Channy Leaneagh schwerelos zwischen ihren zwei Drummern umher. Ihre verhallte Stimme begleitet ihren Geistertanz. Was paranormal anmutet, ist der Effekt des Auto-Tune, den die Band über die Gesangsspur legt. Wenn Leaneagh einzelnen Anwesenden einen intensiven Blick schenkt, fröstelt es diese dennoch.
Da das Fußballspiel nicht auf dem Festivalgelände übertragen wird (berechtigte Begründung der Veranstalter: Man möchte das Line-Up nicht zerreißen), strandet die Fußballmeute vor der Bühne von The Kooks. Sie wendet ihre Singalong-Qualitäten an dem altbekannten Opener „Ooh La“ oder dem Neuling „It Was London“ an. Nahezu jedes Blumenkranzmädchen dieses Festivals ist anwesend. Die Sonne senkt sich herab und tauscht die weißen Bühnenzelte gegenüber in sanftes rosa.
Es ist nur folgerichtig, dass die romantischte Geste des Festivals bei The Kooks passiert. Eines der Blumenmädchen hält mit ihrem Freund Händchen und lächelt besonnen. Er trägt ein AC/DC-Shirt und rührt sich nicht. Eine Zeile aus „Seaside“, den Luke Pritchard gerade aus seinem „Inside-In/-Inside-Out“-Kuschelindiebeutel gräbt, dürfte dem Herren bezüglich seiner Liebsten aus der Seele sprechen: „But I’m just trying to love you in any kind of way“. Eben auch als The-Kooks-Fan-Girl. Die Röte, die ihr vor lauter Verliebtheit ins Gesicht steigen sollte, hat ihr heute schon die Sonne über die Wangenknochen gebrannt.
Die Temperaturen fallen nach Absenken der Sonnenkugel rapide, Arcade Fire kommen um die Menschen zu wärmen. Sie brauchen gar keinen Sonnenstich, um ihre herrlich verspulte Lewis-Carrol-Dramatik zu pointieren. „Everytime you close your eyes“, schnalzt Win Butler bei „Rebellion (Lies)“ sanft. Wie aus dem Nichts (oder einem Erdloch unter einem Baum) springt William Butler über die Absperrung im ersten Wellenbrecher. Er trägt ein Sakko, das auch dem verrückten Hutmacher oder dem weißen Kaninchen gut zu Gesicht stünde. Trommelschwingend springt er fix wieder zurück in sein Wunderland aus gelb-roten Ballons und dem Ensemble. Die Herzkönigin (Régine Chassagne) wartet.
Hinter den Zeltwänden der Red Stage warten bereits die zweiten großen Dramaturgen des Tages: Tocotronic. Vorsorglich eröffnen sie mit „This Boy Is Tocotronic“. Als hätten sie es nötig sich vorzustellen. Der Großteil der Zuhörer ist ohnehin mit den Jungs zur (Hamburger) Schule gegangen. Um der alten Zeiten willen wagt die Band den Schritt zurück. Es laufen mehr Songs wie „Samstag ist Selbstmord“ denn orchestrale Einlagen aus „Wie wir leben wollen“. Der Graf geleitet gewohnt galant durch den Sturm aus Worten und Hau-drauf-Gitarrenriffs. Auch wenn Dirk von Lowtzow seinen alten Trainingsanzug gegen ein Sakko getauscht hat, ist allen hier klar: Dies ist ein Rockkonzert.
Nach der Flut an Sinneseindrücken bleibt der Festivalgänger noch eine Weile in seinem eigenen Universum verfangen. In der realen Welt hält ihn ohnehin nichts. Die Temperaturen sinken nachts auf drei Grad Celsius herab und Deutschland spielt ein 2:2-Unentschieden gegen Ghana.