Southside 2013 – der Samstag: Zuckerwatte und blutverschmierte Schlachtermesser
Ein Spaziergang durch einen gottverlassenen Friedhof. Tag zwei des Southside-Festivals mit Portishead, The National, Rammstein, Tame Impala und mehr.
Auf einer der großen, freien Grünflächen außerhalb des Festival-Geländes haben es sich etliche Besucher mit Decken, selbst mitgebrachtem Bier und üppigen Picknick-Körben bequem gemacht, um den Auftritten auf der Blue Stage zu lauschen. Sie gehören zu denen, die nicht – wie ungefähr 60.000 Andere – ein Ticket für das diesjährige Southside-Festival ergattern konnten. Nach kurzem Regenschauer in der Nacht von Freitag auf Samstag hat die Sonne den Rasen schon wieder getrocknet, und so sieht es bei den Festival-Nomaden doch ganz gemütlich aus. Immerhin bekommen sie an diesem Samstag auch Bands wie The Hives und Rammstein mit. Die besten Auftritte des Tages werden sie aber verpassen.
Im Gegensatz zu gestern bietet der Samstag für die Besucher so einige Entspannungsmomente. Und trotz 36 Künstlern anstatt 30 wie gestern, sind die Gangarten so unterschiedlich, dass sich dramatische Überschneidungen als Problem fast ausschließen. Während noch viele Leute vor ihren Zelten Flunkyball-Battles austragen oder sich mal eben zum Bungee-Jump überreden lassen, bezirzen die Shout Of The Louds die anwesenden Fans. Richtig gelesen! So heißen die Schweden jetzt. Zumindest, wenn es nach der Anzeigetafel vor der Bühne geht. Aber hart gesottene Shout-Out-Loud-Fans lassen sich natürlich nicht hinter Licht führen und sind dann bei Disco-Stücken wie „Fall Hard“ und „Please Please Please“ am Start, um die Schweden-Flagge zu schwenken – und Sänger Adam Olenius zu zeigen, wie textsicher man ist. Für den richtigen Flow ist es aber irgendwie zu heiß, zu hell und vielleicht auch zu Longdrink-los, um die minimalistischen Anwandlungen der Band wirklich zu genießen.
Die Nachfolger erweisen sich an diesem Festival als regelrecht vom Pech verfolgt. Gestern musste ihr Auftritt auf dem Geschwister-Festival Hurricane wegen „Transportschwierigkeiten“ gecancelt werden, heute fällt nachmittags auf der Green Stage kurzzeitig die Soundanlage aus. Wenigstens sind sie überhaupt da, was anscheinend an der Hilfe einer befreundeten Band lag, die Tame Impala hier abgeladen haben. Irgendwann kann Kevin Parker, er ist barfuß, aber doch noch seinen psychedelischen Gesang in die Menge röhren. Wäre es jetzt stockdunkel, und nur die Bühne wäre in Neonfarben gehalten, hätte der Auftritt noch einmal mehr hergegeben. Aber es ist nachmittags. Wenigstens zu „Elephant“ schiebt sich eine schwere Wolke vor die grelle Sonne. Mit ein bisschen Fantasie könnte man sich den neonpinken Dickhäuter aus dem Video jetzt vorstellen.
So manchem Besucher ist der Zuckerwatten-Pop, den Tegan & Sara heutzutage praktizieren, eindeutig zu pappig. Irgendwie zieht es uns aber doch vor die Bühne. So reißen auch Landsleute der Band nach und schwelgen bei strahlendem Wetter in fröhlichen Blumen-Mädchen-Tänzen. Bei „Walking With A Ghost“ schnalzt die androgynere Stimme Saras von der Bühne, und sogar ein Billy-Talent-Shirt tragender Muskelprotz hüpft glücklich mit. Seine Kumpels stehen bedröppelt daneben. Es ist einer dieser Festival-und-geiles-Wetter-Momente. So wie das Flunkyball von eben.
Friska Viljor, die im weißen Kapitäns-Kostüm die Besucher der White Stage rannehmen, stehen stellvertretend für zwei Trends am Open-Air-Samstag: die Vorliebe des Southside-Festivals für schwedische Bands (wie vorher Shout Out Louds und später The Hives und die Fähigkeit, das Publikum schier ausrasten zu lassen – beispielsweise mit Rammstein. Anders als vielleicht bei den Hives, könnte man sich aber bestimmt vorstellen, auf ein, zwei, acht – entspannte – Bier mit Joakim Sveningsson und Daniel Johansson hinzusetzen.
The Hives! Die Blue Stage verkommt mittlerweile schon zum zweiten Wohnzimmer der Band, was die meisten nicht davon abhält, sich Pelle Almqvist prollige Jim-Carey-Rampensau-Attitüde zu geben. Die ist ebenso nervtötend wie zugegebermaßen ansteckend. Booker großer Festivals wissen ihre Besucher eben einfach in sicheren Händen, wenn The Hives ein Best-Of aus ihrem Spaß-Indie-Repertoire hervorholen. Außerdem versucht sich der Frontmann heute im Handlesen. Kann sicherlich nicht schaden.
Nach der Halli-Galli-Drecksau-Party kommen zur Entspannung The National ganz recht. Passend zum tiefgründigen Songrepertoire und Matt Berningers beruhigenden Bariton mit sich langsam herabsenkenden Abendsonne erhalten sie ein perfekt zugeschnittenes Festival-Szenario: Schräg von rechts werden Band und Publikum in rötlich-orangene Farben getunkt, was optimal zu den Visuals passt, die unaufdringlich im Bühnenhintergrund funkeln. Die häufigen Ausflüge der Gruppe ins neue Album „Trouble Will Find Me“ nehmen viele Zuschauer zum Anlass sich in The-National-Melo-Romantik zu versinken. Am Ende springt Berninger sogar über den Wellenbrecher, schleift sein meterlanges Mikrokabel ins Publikum und löst fast schon hysterische Bewunderer auf den Plan, die ihm brav hinterherlaufen. Die ganze Szenerie erinnert ironischerweise ein wenig an die Auftritte eines Florian Silbereisens im Musikantenstadl, aber wir sind hier bei The National und Fans wissen um die musikalische Außergewöhnlichkeit der Band.
Zu einem in Deutschland recht raren Erlebnis in diesem Jahr kommt der Besucher vor der Green Stage dann um 22:10 Uhr: Portishead. Zum Intro von „Silence“, zuckelt das altbekannt schlichte, türkisfarbene „P“ vom LED-Panel. Es folgen epileptische Schnitt-Abfolgen. Welch prickelnd verstörende Wirkung das entfalten kann, wird bei „Machine Gun“ offenkundig. Unaufhaltsam wandert der Betrachter passend zu brachialer Breakbeat- und Krautrockmotorik des Kugelhagels einen verlassenen Keller-Gang entlang. Die Bilder zucken im Stakkato-Takt. Was am Ende des Flures wartet, erfährt heute niemand, der Song ist aus. Inmitten des Ganzen steht Beth Gibbons. Sie würde fast unbeteiligt wirken, wenn von ihr nicht diese anziehende Aura ausgehen würde. Wie immer umschließt sie mit zwei Händen das Mikro, als könne sie sich nicht aus eigener Kraft halten, die Augen sind geschlossen. Ihre unfrisierten Haare bewegen sich nur leicht mit, wen sie leicht mit dem Kopf von der einen auf die andere Seite taumelt. Mit dem Publikum spricht sie kaum. „Eine ganz Extrovertierte ist das“, kommentiert das ein Mädchen nahe der Bühne und lacht. Nebenan geht unhöflicherweise ein Feuerwerk hoch. Rammstein sind da, wir haben es ja verstanden.
Die erfüllen ihr selbst geschaffenes Klischee en detail. Lindemann selbst starrt nur so vor Kunstblut und Dreck und hat sich bereits vorab sein teutonisches „R“ geschmeidig gerollt. Die Einlagen mit Flammenwerfer, Feuerschlucker inklusive Feuerschutzanzügen und der Geruch nach Verbranntem haben sich längst ins kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt. Überraschungseffekte gibt es bei den Pyrotechnik-Süchtingen kaum noch, auch wenn Lindemann als blutiger Metzger verkleidet sein Schlachtermesser wetzt und in einem überdimensionalen Kochtopf versucht Keyboarder Flake Lorenz abzufackeln. Der sieht mal wieder aus wie ein tuntiges Alien im Glitzer-Suite. Dennoch scheint das ganze Festival vor der Bühne versammelt zu sein. Immerhin ist es bei dem schneidenden Wind, der jetzt aufkommt, dank der Flammen kosig warm, auch in den hinteren Rängen. An der Merch-Meile starten ein paar Versprengte eine Gegen-Party, sie haben ihre House-Musik ganz laut aufgedreht. Ein bisschen hilft’s.
Fernab von dem Festival-Gelände, bei den Nicht-Karten-Besitzern, die es sich mit Decken auf dem Rasen bequem gemacht haben, ist die Lautstärke des Auftrittes angemessen. Immer noch verdammt laut.