Sommer-Exil an der Ostseeküste
Ventis ham jar nüscht mehr zu stehen hier, hatte uns die Elektrofachmarktverkäuferin vorschriftsmäßig berlinerisch mehr vertrieben als beraten, als die Hitze in der Stadt am allergrößten gewesen war und unsere Schreibtischarbeit, ja jeden auch nur annähernd klaren Gedanken vollkommen unmöglich gemacht hatte. Es war schon der dritte Laden an diesem Tag, und mein Kumpel Moritz und ich, wir hatten uns schon gefügt in die Idee, einen Witzfilm nachzuspielen, unsere Frage an das Verkaufspersonal lautete jeweils: „In welchem Stockwerk haben denn Sie keine Ventilatoren mehr?“ Aber Charme oder was man dafür hält perlt natürlich an einer Berliner Verkäuferin ab wie nix, ein Vertreter für elektrische Zahnbürsten immerhin, der unsere Abfuhr belauscht hatte, flüsterte uns verschwörerisch zu, im benachbarten Kaufhaus gebe es eventuell noch Ventilatoren, aber auch da war alles schon von den Paletten gezerrt und fortgetragen, und obwohl es im Kaufhaus selbst angenehm kühl war, hatte ich keine Geduld, noch Platten zu kaufen. Wieder draußen, beschlossen wir, sofort an die Ostsee zu fahren, unsere Schreibtische also nach dorthin zu verlagern, wo ein leichter Wind und auch sonst alles geht.
Im Auto hörten wir eine an einer Tankraststätte gekaufte Rod-Stewart-CD und waren bester Dinge. Jeden Morgen schauten wir begeistert auf die Wetterkarte im Frühstücksfernsehen, Berlin glühte – und wir waren am Meer. Der Sohn des Hotelbesitzers hatte uns einen sehr günstigen Tarif ausgehandelt, zu dem wir die jeweils schönsten ungebuchten Zimmer bewohnen durften, bis ein Vollzahler kam, und so zogen wir täglich um und hatten es gut. Im Handschuhfach des Jeeps, mit dem der Hotelbesitzersohn (ein Prachtkerl mit Hansaplast-geflicktem Strohhut) uns die Umgebung zeigte, befanden sich vier CDs, die erste von Fettes Brot, die letzte von Element of Crime, die neue Eminem und die wunderbare, völlig vergessene Body Count; diese vier CDs, so der Hotelbesitzersohn, seien die einzig guten gewesen im örtlichen Musikgeschäft, ich solle also meinen Popshopping-Fischzug lieber nach meiner Rückkehr in Berlin tätigen, in jener Ostseebude sei nichts mehr zu holen. Mitsamt der Tankrast-CD von Rod Stewart und diesen kurios, zugleich zielsicher zusammengewürfelten vier Platten aber hatten wir ja das für eine gescheite Sommerfrische Allernötigste. Dann kam der Blaualgenteppich, Berlin war mittlerweile abgekühlt, vielleicht gab es sogar wieder Ventilatoren, denn man brauchte jetzt keine mehr, also führte mich mein Einkaufszettel zuallererst ins Kulturkaufhaus. Eine halbe Stunde irrte ich herum, hörte mir kurz die neuen Platten von I Am Kloot und den Magic Numbers an, ging so, konnte, musste aber nicht sein. Moritz griff nach Amy Macdonald, hier, kauf doch richtig schön zu spät die Platte von Lena – ach, das ist sie gar nicht? Ich zeigte ihm die wahre Lena-Platte, und Moritz schüttelte den Kopf, schüttelte sich insgesamt: „Kassettenrekorder, bah, brutalster Schnepfenalarm.“ Also nicht Lena. Über den Neuheiten-Tisch gebeugt stand direkt neben uns der immer über die allerneueste Musik sich informierende Medienpsychologe Prof. Dr. Jo Groebel, der an diesem Tag viel zu tun hatte, auf allen möglichen Kanälen die Haftentlassung Jörg Kachelmanns zu kommentieren, jetzt aber kurz Pause machte und uns Marina & The Diamonds empfahl. Er nannte Referenzen, aber ich war zu geschockt, um richtig zuzuhören, hatte ich doch gerade auf einem „Die größten Live-Alben aller Zeiten“ betitelten Tisch Max Raabe neben Tom Waits liegen sehen, und Reinhard Mey neben Neil Diamond.
Ich brauchte jetzt zwei, drei sichselbsterklärende Weltkulturerbeprodukte: einen Schuber „Derrick“-DVDs (mittlere Phase, Tappert ab und zu noch in Leder-, Wepper dann aber wenigstens in Jeansjacke; noch Spuren von Action), dazu die in mehrerlei Hinsicht gespenstische Anthologie „A Love Story 89-10“ von Westbam, dem Aristoteles des deutschen Techno, der auf einem Booklet-Foto geistgleich verfremdet in einem, wirklich wahr, Tunnel steht. Kein Wort hier über größenwahnsinnige Provinzfürsten, Paul van Dyk hat ja bei May-brit Illner im Gespräch mit Wolfgang Bosbach alles zu Sagende gesagt. Die Musik wird bleiben. Puh. So, und für Moritz – dem kürzlich zum Geburtstag niemand die neuaufgelegte „Exile On Main St.“ geschenkt hatte, weil alle dachten, die kriegt er eh mindestens drei mal – nun doch ebendiese Platte und die Bitte, dazu etwas zu sagen, und Moritz also sagte: „Es ist praktisch unmöglich, über das Rolling-Stones-Album, Exile On Main St.‘ einen Satz zu sagen, der nicht vollkommen abgeschmackt klingt. Dieser unmögliche Satz lautet: Nie hat sich die Flucht vor der Einkommens-steuer besser angehört. Nachsatz: Ein Album mit zehn bisher unbekannten und erwartungsgemäß schlechten Rolling-Stones-Songs von 1972, das wäre schon schwer zu ertragen. Ein Album mit zehn unbekannten Rolling-Stones-Songs von 1972, die auch noch gut sein sollen – das ist eine Perversität.“
Jo Groebel war verschwunden, draußen stürmte es beinahe herbstlich, und wer jetzt keenen Venti hat, der braucht ooch keenen, wa?