Sometimes you get what you need

Was die "A Bigger Bang"-Tournee verspricht - ein Preview von Wolfgang Doebeling

Es war wie bei den vorangegangenen Tourneen. Bevor man sich zu Proben nach Toronto zurückzog, fragte man die Fans. Und wieder lief die Abstimmung via Internet auf die Erkenntnis hinaus, dass es keine klaren Fan-Favoriten gibt. Weil das Stones-Publikum heterogener ist als jedes andere. Soziale Schichten, Bildungsgrade, Generationen, Weltanschauungen: alle vertreten. Angereichert jeweils um regionale Musikerfahrungen. Nirgendwo wird „Street Fighting Man“ so frenetisch bejubelt wie in Südamerika, die Japaner lieben besonders „Get Off Of My Cloud“, die Briten „The Last Time“, die Franzosen „Miss You“ und die Deutschen „Angie“ und „Start Me Up“.

Und so probten die Rolling Stones im Sommer letzten Jahres wieder mehr als hundert Songs. Wobei „Rehearsals“ nur meint, dass man sich das betreffende Liedgut kollektiv ins Gedächtnis zurückruft, indem man ihm ein paar Probedurchläufe gönnt. Dreimal „Dead Flowers“, zweimal „Hand Of Fate“, einmal „Memory Motel“. Das muss genügen. Mick knipst dann den Prompter aus, Keith grinst breit und sagt „yeah, I remember that one“. Im Kasten. „Das wird sich alles während der Tour einpendeln“, weiß Jagger, „was anfangs noch ein wenig stottert und rumpelt, hat dann irgendwann die richtige Balance zwischen Lebendigkeit und Genauigkeit. Das bringt Routine so mit sich.“ Eine Berufseinstellung, die nicht unumstritten ist, obwohl sie doch zur Ontologie der Stones gehört wie Lärm und Swing. Perfektion? Nicht von diesen Jungs. Haben einfach keinen Sinn für das Metrische, Programmierte, Berechenbare. Weshalb vor allem Musiker mit Technik-Fetisch daran verzweifeln, dass da ein Faszinosum waltet, dem Millionen nicht nur falsche Töne, unsaubere Harmonien und verpasste Breaks nachsehen, sondern dem sie nicht zuletzt auch dafür huldigen. Ein Triumph von Stil und Gefühl über das Angelernte, immer wieder, immer anders.

Was dürfen wir also erwarten in Sachen Song-Selektion bei den anstehenden Gigs hierzulande? Nun, da wäre zunächst, gen Ende und ganz unvermeidlich, die Zielgerade mit Prunkparade aus dem Reservoir der Welthits. „Brown Sugar“ und „Honky Tonk Women“ wahrscheinlich, ganz sicher „Jumpin‘ Jack Flash“ und „Satisfaction“.

Irgendwo früher im Set dürften „Dice“ gerollt, etwas „Black“ gestrichen sowie „Shelter“ und „Sympathy“ eingefordert werden, unheilig wie eh und je. Auch wird man sich darauf verlassen können, dass ein paar Tracks von „A Bigger Bang“ zu Ehren kommen werden. „Rough Justice“ wohl und „Oh No Not You Again“, „Rain Fall Down“, „Back Of My Hand“ und Keiths „Infamy“.

Der Rest ist Manövriermasse. Gut möglich, dass auf der kleinen Bühne „Midnight Rambler“ und „Neighbors“ abgefackelt werden und dass ein paar Covers eingestreut werden wie „Get Up, Stand Up“. „Night Time“ oder „Mr. Pitiful“. Zu befürchten ist, dass das obsolete „You Got Me Rocking“ über die Bühne getrieben wird, weil das „live immer funktioniert“, so Richards. Zu hoffen wäre, dass man in den Genuss so selten zelebrierter Klassiker wie „Sister Morphine“, „Loving Cup“ oder „Moonlight Mile“ kommt.

Ob die Änderungen liebgewonnener Arrangements, die in Amerika zur Uraufführung kamen, auf einhellige Begeisterung treffen werden, darf indes bezweifelt werden. So wurde die Melodielinie von „Sway“ modifiziert, „Rocks Off“ mit Warp-Antrieb ausgestattet, während „I9th Nervous Breakdown“ nun als gäriger Blues über einen shuffle-Beat für Aufhorchen sorgt, nicht gerade per Akklamation begrüßt. „Bob hat es da leichter“, urteilt Keith Richards, „von ihm wird erwartet, dass er seine Songs ständig verändert.“ Stimmt. Doch spielt Dylan im Durchschnitt vor 5000, die Stones vor 50 000 Fans. Und je mächtiger die Masse, desto größer das Beharrungsvermögen. Wir werden es erleben.

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