So war das Melt 2012: We survived the Sleepless Floor!
Es bleibt dabei: Ferropolis in Gräfenhainichen bei Dessau ist eine der eindrucksvollsten Festival-Locations des Landes. Und kein Festival bespielt das Areal so einzigartig wie das Melt! Festival. Das bewies auch die 2012-Ausgabe, obwohl viele im Vorfeld meckerten, dass das Line-up wenig Überraschungen hätte...
Man fühlt sich immer wieder wie ein Kind, das zum ersten Mal in den Heidepark Soltau oder ins Phantasialand fährt. Wenn der Shuttle-Bus vom Campingplatz die langezogene Kurve auf dem Weg zum Festivalareal fährt, wenn man am Ufer des Gremminer Sees die Lichter der „Stadt aus Eisen“ erblickt, die riesigen Braunkohlebagger, die im Lichte der Richtscheinwerfer majestätisch erstrahlen – das ähnelt dem Gefühl, einen Abenteuerspielplatz entgegenzufahren. Wobei die Abenteueraktivitäten, die man auf dem Melt! erleben kann, wenig mit Freuden des ersten Besuches in einem Vergnügungspark zu tun haben dürften…
Auch das diesjährige Melt! bewies mal wieder, dass man inzwischen weiß, wie man das eh schon eindrucksvolle Festivalgelände zu beleuchten und bespielen hat, um die Besucher – die inzwischen aus ganz Europa anreisen – zum Strahlen zu bringen. Musikalisch setzt man auf die bewährte Mischung zwischen geschmäcklerischen Indie-Auswahl, aufstrebenden Noch-No-Names, den innovativen Vertretern aus der Elektro-Schublade, inzwischen namhaft gewordenen Freunden des Hauses Melt! und einer Handvoll großer Namen. Die in diesem Jahr angeblich nicht groß genug war, da viele monierten, die ganz großen Namen seien nicht dabei. Konnte man im Vorfeld fast nachvollziehen – andererseits war das Melt! noch nie eines dieser Festivals, die über die großen Namen funktionieren. Wer mal da war, der weiß eben, dass man hier eher in das das Treiben reingesogen wird, anstatt dem einen Headliner entgegenzufiebern. Und mit der Rückkehr von Bloc Party auf die Bühne, einem Live-Set von Modeselektor und Squarepusher, einem der raren Auftritte von Lana Del Rey und den musikalischen Abrissbirnen von Justice am letzten Abend war man jetzt auch nicht so übel dran.
Aber gleich noch mal zum Line-up. Zuvor sollte man feststellen, dass sich das Melt! schwer in eine Die-Band-war-so, Der-DJ-war-so-Review zähmen lässt. So kann man sich das ganze natürlich auch geben, und journalistisch eifrig die angekreuzten und vom Chef zuvor gewünschten Acts abarbeiten – aber das wird der Sache nicht wirklich gerecht. Ebenso wenig wie das permante Rumhängen im VIP-Bereich, wo man bisweilen das Gefühl hat, hier wird bei Drei-Promille mehr Musik-Business gemacht, als auf den versammelten Popkomms der letzten drei Jahre. Die Abenteuerspielplatz-Variante ist da dann sicher die beste Wahl – wobei es da noch nicht jeder verstanden hat, wieviel Abenteuer er eigentlich verträgt. Der Autor dieser Zeilen hatte sich jedenfalls schon mal sein „The Walking Dead“-Shirt eingepackt – für die Runde über den Sleepless Floor am Sonntagmorgen, wenn Ellen Alien traditionell die letzten lebenden Toten ins Morgengrauen zuppeln lässt. Das exzessive Feiern wird nämlich hier immer noch gerne überrissen.
Wir haben uns, Profis die wir sind, für die Mischform entschieden – und rauschten ideal benebelt durch das Festival. Die spannenden Gitarren-Konzerte (nein, es ist kein reines Electro-Festival) wurden mitgenommen und trotzdem fand man sich das ein oder andere Mal wild zuppelnd bei Modeselektor wieder oder mit wild in die Luft hauenden Fäusten beim aggressiven Sound von J-WOW, der den krank geworden Rustie ersetzte. Oder man ließ sich vom samstäglichen Gig von Squarepusher umblasen. Der hatte nicht nur ein Bühnenbild, das jeden Atari-Nostalgiker in Verzücken versetzte, sondern auch einen Sound, der durch Mark und Bein ging, die Hosen zum Flattern brachte und die Ohren zum Piepen. Großes Soundkino, wie er zunächst ein langes Intro durch die Menge schickte und Samstagnacht um drei mal eben zeigte, was für ein Geräuschspektrum das Ohr so aushält. Piepen, Kreischen, Fiepen, Wummern – wer nach den ersten Minuten noch stand war vorbereitet auf seinen Auftritt. Wie man dabei tanzte? Gar nicht so leicht, da man sich eigentlich nur an die nervösen Beats hängen kann und dabei ständig von Soundsalven verschiedenster Art aus dem Rhythmus geballert wird.
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Am Freitag wartete man zunächst recht gespannt auf die Herren von Bloc Party, die ihr einstündiges Set nutzten, um die Meute noch mal an ihre Hits zu erinnern und dezent auf das neue Album zu verweisen, das nicht wirklich innovativ ist, aber gekonnt auf ihre Soundtrademarks setzt. Der starke Regen dämpfte die Stimmung ein wenig, aber wer blieb, war drin und kam auf seine Kosten. Man merkte Frontmann Kele an, dass er dem Festival sehr verbunden ist und sich in einer Art Heimspiel wähnte. Zuvor hatten The Rapture mit ihrem überdrehten Sound versucht ihr „Get Myself Into It“ auf die Meute anzuwenden, was am frühen Nachmittag noch nicht so ganz gelingen wollte. Auf der Gemini Stage, der zweitgrößten des Festivals, war man da besser bedient. Erst empfahl sich Jessie Ware mit sanftem Understatement als eine der spannenderen neuen Stimmen in der Popwelt, dann ließ Little Boots bisweilen die Frage aufkommen, warum ihr eingängigen Pop-Zuckerbomben sie nicht an die Chartspitzen geführt habe, dann gehörte M83 die Bühne, die ihren bombastischen Pop des letzten Albums „Hurry Up We’re Dreaming“ noch größer, bunter und umwerfender auf die Bühne brachte. Mit perfekter Lightshow, wuchtigem Sound, Charisma und Hits wie „Midnight City“, die auch um elf Uhr abends schon funktionieren, sorgten sie dafür, dass das Zelt vor der Bühne aus allen Nähten platzte.
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Wenig dick aufgetracken, aber sehr geschmackssicher ging es im Intro Zelt zu. Dort spielten die von uns ja bereits früh entdeckten Vondelpark und schafften es aufgrund eines recht verwaschenen Sounds leider nicht, die Atmosphäre ihrer Songs wie „Camels“ und „Jetlag Blue Version“ auch live abzubilden. Peter Licht konnte das wiederum sehr gut, was bei seinem immer klassischer werdendem Songwriting ja allerdings auch nicht ganz so schwer ist. „Wettentspannen“ und das „Trennungslied“ treffen ja auch den Nerv der meisten, recht jungen, hippen und sicherlich beziehungsgestörten Gäste, die dank Prekariatsbeschäftigung in teilzeitbezahlter Vollzeit das „Wettentspannen“ bitter nötig haben. Schöner Ausklang dann der Auftritt von Rufus Wainwright, der beschissen frisiert aber musikalisch einwandfrei zwischen Pop und Hochkulturbeschallung schwankte und auf einmal gar nicht mehr so fehl am Platze wirkte wie noch beim ersten Blick auf das Festivalplakat.
Nach kurzer Nacht und einem frühen Wolkenbruch, der zahlreiche Pavillons ins Camping-Nirvana schickte, hatte man dennoch genug Zeit, um sich für den Samstag fit zu machen. Das Melt! funktioniert zeitlich nämlich ein wenig anders, als die großen Festivals. Hier spielt der erste richtige Act oft erst um 18 Uhr und der letzte um 3 Uhr nachts – bevor einen dann die DJs in Empfang nehmen. Wobei man den Sleepless Floor da ausnehmen muss: Hier gibt’s 24 Stunden auf die Ohren. Trotzdem kamen auch die Gitarrenfreunde auf ihre Kosten – z. B. bei Willy Moon. Der in London lebende Neuseeländer spielt laut „Q Magazine“ „a brilliantly odd fusion of 50s rock’n’roll and modern production“, auf der Bühne sieht es eher so aus, als hätte man Nick Waterhouse mit Frank Sinatra und Marilyn Manson gekreuzt. Dabei sieht Moon so aus, wie man sich einen satanischsten Sparkassen-Azubi vorstellt, der nach seinem Arbeitstag noch in Dienstkleidung in einer Rock’n’Roll-Band spielt, aber leider ein Organ hat, dass eher für eine Metalband taugt. Eine großartige Mischung also – und von einer Band vorgetragen, die am Schlagzeug eine Damen sitzen hatte, die vermutlich auch Jack Whites aktuelle Drummerin in Grund und Boden dreschen kann – ohne dass dabei ihr Outfit aus der Form gerät. Die nachfolgenden Citizens! waren dann leider enttäuschend bzw. genau die drögen Indie-Schnösel, die man beim ersten Blick aufs Bandfoto in ihnen vermutet hatte. Wenn sie doch noch ein wenig Motivation hätten durchscheinen lassen! Davon zuviel gab es dann beim in diesem Sommer omnipräsenten Casper, der seinen HipHop-Emo-Bastard sogar dem Melt!-Publikum näher bringen konnte. Und endlich sagte mal einer, dass Neon-Sticks bescheuert sind. Hätte er jetzt noch die Glitzerwangen-Visagen gedisst, hätte man ihm einen Preis verleihen sollen. Stattdessen pöbelte er noch nicht unsympathisch gegen „die Bonzen da oben auf der Bench-Lounge“. Da Thees Uhlmann auch auf dem Melt! spielte, war es fast klar, dass er seinen Vocal-Part in „XOXO“ auch live singen wird. Ein schöner Anblick die beiden – scheinen sich wirklich zu verstehen und zu schätzen. Wie Uhlmann bis in die Haarspitzen geladen am Mikroständer auf und ab sprang, das war alles andere als ein müder Gastauftritt. Ein paar Stunden später sah man dann noch mal dieselbe Konstellation – nur noch ein wenig engagierter bei Uhlmanns eigenem Auftritt, wo sie noch einmal „XOXO“ anstimmten und natürlich „Jay-Z singt uns ein Lied“. Der Tomte-Frontmann auf Solourlaub scheint sich in dieser Rolle und mit seiner tollen Live-Band im Rücken sehr wohl zu fühlen und betonte die schon auf dem Album hörbare Springsteen-Note auf der Bühne noch deutlicher. Lederjacke, Breitbeinpose und mit voller Wucht in jeden Song – das hat er sich vielleicht tatsächlich beim Boss abgeschaut, und dann noch mit ein wenig Liam’esken Posing nachgewürzt.
Zuvor an selber Stelle: Der Abschied von Superpunk. Ihr vorletztes Konzert ihrer 16 Jahre währenden Karriere spielten sie im Intro-Zelt – und wurden leider gestraft von einem geradezu beschissenen Sound. Machte aber nichts: Den kleinen aber wilden Moshpit gab es dennoch – und es war geradezu rührend zu sehen, wie die „Top Old Boys“ schon beim Soundcheck alten Freunden und Weggefährten in den ersten Reihen zunickten. Für die Schlagzeilen des Tages wird dennoch die Show von Gossip sorgen, die allerdings musikalisch wenig Überraschendes hatte – außer vielleicht die Whitney Houston Coverversion „I Will Always Love You“ am Ende. Warum dennoch die Schlagzeilen? Nun ja: Beth Ditto war eben so, wie sie immer ist. Herzlich, prollig, weltumarmend, offensiv und ebenso lauf- und tanzfreudig. Die Showeinlage des Tages war dann der körpernahe Tanz mit einem jungen Herren aus dem Publikum. Der Gutste hatte allerdings nicht das normale Festivaloutfit am Leibe sondern eine Verkleidung als Damenbinde – einer gebrauchten. Wer sich also wunderte sollte, warum sich Ditto an ihm rieb, wie man es auf den Bildern sieht – ist jetzt schlauer. Wir sind gespannt, was die Kollegen von der BILD aus dieser Nummer machen. Ob da auch das feministische Potential dieser Aktion diskutiert wird, wie im Publikum? Wir bezweifeln es dezent…
Während auf der Hauptbühne – wie schon anfangs erwähnt – die Samstagnacht von Modeselektor– und Squarepusher-Bässen aufgemischt wurde, konnte man sich noch den Anblick von Muskelmann Rummelsnuff geben. Zum D.A.F. meets Klaus & Klaus meets Rammstein-Sound ließ er seinen geölten Muskelkörper glänzen und verstörte damit den Teil des Publikums, der ihn noch nicht kannte. Manch einer musste nach diesen Bildern erst einmal die Hirnfestplatte formatieren – was bekanntlich am besten auf dem Sleepless Floor funktioniert. Dessen Kultfaktor fand sich in diesem Jahr übrigens auch zum ersten Mal im Fan-Merchandise: Für 25 Euro gab es das Shirt mit dem Schriftzug „I survived the Sleepless Floor“. Was man dann so überleben nennt…
Kommen wir zum letzten Tag, dem letzte Aufbäumen. Nun ja, eher ein entspannter Ausklang, denn der Sonntag, den es erst seit wenigen Jahren als Festivaltag gibt, hat immer eine eher ruhigere Note. Dennoch wurde es bereits am frühen Abend an der zweitgrößten Bühne recht voll. Der Grund hieß Lana Del Rey – und reiste bekanntlich nicht gerade mit Vorschusslorbeeren an. Ihr Album wurde erst heiß gehypt, dann von vielen kalt fallengelassen. Ihr Echo-Auftritt war mau, ihr erster TV-Auftritt in den Staaten ein Desaster. Schön, dass man sich dennoch nicht zum skeptischen Beäugen versammelt hatte und die Meute Miss Del Rey durchaus eine Chance gab. Und man konnte sich auch nicht dagegen wehren: Als sie in einem traumhaften, himmelblauen Kleid schüchtern lächelnd die Bühne betrat, während ein Pianist, ein Gitarrist und vier Damen im Streicher-Ensemble für das dramatische Klangbild sorgten – da hielt Männlein wie Wieblein kurz die Luft an. Überhaupt tat es ihrem Sound gut, dass sie die so fix zusammengeschusterten Beats, die viele Songs auf ihrem Album versauen, gegen diese klassischere Instrumentierung tauschte. Zwar geht ihrem Repertoire nach einer halben Stunde die Luft aus, aber Del Rey überspielte das recht geschickt, in dem sie die Nähe zum Publikum suchte, vor der Bühne sang an der ersten Publikumsreihe entlang schäkerte und die Leute zum Schmachten brachte. Dabei sieht sie noch immer aus wie ein scheues Reh im Morgenlicht, aber gerade dieser Kontrast zwischen Optik und dunkler Stimme macht ja in ihren besten Momenten ihren Charme raus. Der Jubel war am Ende groß, fast erleichtert – und eigentlich ein wenig zu laut für einen dann doch nur soliden Auftritt. Aber hier war es wohl das Wir-waren-dabei-Gefühl, dass die Meute zum Johlen brachte. Wer die Show sehen möchte, der brauch wohl nur (neben unserer Bildergalerie) Youtube bequemen – man sah nämlich wieder mal mehr filmende Smartphones als klatschende Hände. Eine Pest…
Solide wäre dann wohl auch das passende Wort für den Ausklang des Melt! Destroyer spielte cheesy und entspannt in den Sonnenuntergang hinein, im Zelt sorgten War On Drugs für verhaltenen Applaus und Twin Shadow für verliebte Blicke von Frauen und Männern zugleich. Der große Abschluss auf der Hauptbühne wurde dann von Justice bespielt, die leider recht überraschungsfrei ihren Stiefel runterspielten. Funktionierte natürlich super für die Arme-in-Luft-Fraktion, aber wer Justice schon ein zwei Mal gesehen hat im Leben kam zu dem Schluss, dass das nun fast auch reicht. Besser waren da Yeasayer, die im prall gefüllten Intro-Zelt den Ausklang besorgten und davon profitierten, dass das Line-up keine direkte Konkurrenz mehr aufzubieten hatte.
Tja – und dann einige letzte Biere später, in den frühen Morgenstunden war es dann Zeit für die Fahrt zurück zum Campingplatz. Ein letzter Blick auf die Zombies im Morgennebel des Sleepless Floor, ein letzter Blick auf die illuminierten Baggermonster, ein letztes Seufzen beim Starren in die von Richtscheinwerfern durchschnittene Nacht über dem Gremminer See, ein letzter Regenschauer, um einen nochmal zu zeigen, dass es kein Wochenende für Festivalpussies war – und nun ist es schon wieder vorbei, dieses Melt!. Mal schauen, wie lange es nun dauert, das Tempo und den Drive der letzten Tage zu vergessen und wieder in den Normalmodus zu schalten.