Sleepless in Seattle
Nie zuvor war so viel über kaputte Familienverhältnisse gesungen worden wie beim Grunge, und wahrscheinlich stellte sich deshalb diese Musikszene für einen kurzen Augenblick als heile Familie dar. „Sub Pop Rock City“ jubilierten Soundgarden in den ausklingenden Achtzigern, und das war auch der Titel eines Samplers, der zur gleichen Zeit die Hauptdarsteller, Komparsen und Requisiten versammelte, die wenige Jahre später im großen Stil das Bild der Rockmusik prägen sollten. Vorne zeigte das Klappcover Konzertbesucher, die sich kopfüber von der Bühne in die Arme ihrer Freunde schmissen, und sonst sah man nur Haare, Haare, Haare. Alle relevanten Bands waren darauf in gegenseitigem Respekt vertreten: Tad, Soundgarden, Mudhoney, Nirvana. Pearl Jam probten noch im Übungsraum.
„Sub Pop Rock City“ – das war natürlich Seattle, in dem das kleine Label Sub Pop Ende der Achtziger einen harten Sound etablierte, der Anfang der Neunziger in seinen unterschiedlichen Ausformungen zu einem extrem kommerziellen Marktsegment avancierte. „Touch Me I#m Sick“ aus dem Jahr 1988 hieß die erste erfolgreiche Single der Firma. Eingespielt hatten sie Mudhoney, und jeder konnte jetzt wissen, was Grunge vor allem war: Punk mit Gitarrensoli, Hardrock ohne Glamour.
Aber natürlich ist Rockmusik immer mehr als die Summe seiner stilistischen Merkmale. Und was sich ein paar highschool dropouts in den Kellern von Amerikas äußerstem Nordwesten ausdachten, war bald das Image einer Nation von Teenagern. Grunge, so eine Übersetzung dieses Slangbegriffe, ist der Dreck unter den Fingernägeln, und wie schon im Punk wurde die negative Zuschreibung positiv umgedeutet. Grunge handelte vom Ausgestoßensein und Krieg ihrer Eltern. Teenage angst war das Schlagwort der Stunde. Erstmals seit Punk funktionierte Jugendkultur, die sich in den 80er Jahren zu einem immer schwieriger greifbaren System aus Subkulturen aufgesplittert hatte, wieder umfassend und identitätsstiftend. Was Designer, Filmemacher und Soziologen gleichermaßen freute – und der Musikindustrie die langersehnte Konjunktur brachte. Alle Companies schickten ihre Talentscouts nach Seattle, und bald hatte jeder in der Stadt, der eine Gitarre halten konnte, einen Plattenvertrag in der Tasche.
Nahm der Ausverkauf auch unwirkliche Ausmaße an – am Anfang stand die Echtheit. Die Melvins kombinierten schon in den frühen Achtzigern Elemente von Punk und Metal zum teuflischen Noise-Rock. Zu Recht werden sie, deren Gitarrenkoffer der noch kleine Kurt Cobain trug, als Urväter des Genres gehandelt. Doch die Keimzelle des Grunge, wie wir ihn kennen, waren Green River. Aus dieser Formation gingen später Mudhoney und Pearl Jam hervor. Erstaunlich, denn später bildeten sich zwei verfeindete Fraktionen, der jeweils eine dieser Bands vorstand.
Anfangs war noch alles in Ordnung. Da spielten sie zusammen in Seattles zahlreichen Clubs oder trafen sich den vielen Kaffeehäusern der Collegestadt. Ihre Platten produzierte meistens Jack Endino, und bei Sub Pop erschienen sie sowieso. Mit dem Erfolg kam es zu Abgrenzungsmanövern. Soundgarden und Pearl Jam arrangierten sich mit dem Mainstream, Mudhoney und Nirvana kämpften gegen die Vereinnahmung an.
Erfolglos. Viel übriggeblieben ist bekanntlich vom Grunge nicht. Die Melvins haben gerade ein exzellentes Album aufgenommen, in dessen Texten sie an den Mächtigen der Tonträgerindustrie alle möglichen Todesarten durchexerzieren, die geheiligten Pearl Jam agieren weiterhin als Stimme aller seelisch Verwaisten. Der Rest ist Schweigen.