Sketches of Pain
Mit seinem Fall aus dem vierten Stock eines Londoner Wohnhauses begann für ROBERT WYATT 1973 ein neues Leben. Seitdem kämpft der ehemalige Schlagzeuger mit seinen musikalischen Unzulänglichkeiten und trotzt ihnen immer wieder einzigartige Lieder ab
Es ist ein malerischer Spätsommermorgen im sechsten Pariser Arrondissemcnt. Die Sonne scheint auf die von den Schläuchen der Balayeurs aus den Vorstädten noch nassen Straßen, an denen Galerien, Modehäuser und Verlage residieren. Nach dem Krieg war hier die Boheme zu Hause. Saint-Germain-des-Pres war in den späten Vierzigern der Schauplatz der Romanze zwischen Miles Davis und Juliette Greco – und der Liebe des Existenzialismus Zum Bebop. In Clubs wie Boris Vians „St. Germain“ in der Rue Saint-Benoit kehrten Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus ein, wenn sie ihre Schreibstube, das Cafe „Les Deux Magots“, verlassen hatten, um Charlie Parker, Dizzy Gillespie oder das Modern Jazz Quartet spielen zu sehen.
Ganz in der Nähe, in der Rue Jacob, sitzt ein rauchender rauschebärtiger Mann im Innenhof eines unscheinbaren Hotels vor einer Tasse Erkältungstee mit Honig und gerät ins Schwärmen: „Dieses Viertel ist wie der Himmel auf Erden, voll mit fantastischen Erinnerungen und der ganzen Geschichte des Jazz. Ja, das ist der Ort, an dem all die Magie meiner Jugend zu Hause ist. Hierzu leben – ich würde es lieben. Aber praktisch ist es nicht möglich, ich komme hier ja nicht mal ohne fremde Hilfe auf die Straße.“
Wir sind nicht vorbereitet Seit seinem volltrunkenen Sturz aus dem vierten Stock eines Wohnhauses in Maida Vale, London, sitzt Robert Wyatt im Rollstuhl. Am i. Juni 1973 ist das passiert. Einen Tag später wollte er mit seiner neuen Band ins Studio gehen und Lieder aufnehmen, die er im vorherigen Winter in einem alten Haus auf der italienischen Insel Guidecca geschrieben hatte. Dort hatte er mit seiner Freundin Alfreda Benge – die man aus Wyatts Songs und Interviews heute als „A[de“ kennt -, und der Schauspielerin Julie Christie gewohnt.
Der Blick auf die Bucht von Venedig, das geheimnisvoll schimmernde Wasser, die Ei‘ dechsen an den alten Mauern, die Gondolieri, Gigolos und Gigoletta, die in der Nachsaison in den Bars saßen und „O Sole Mio“ sangen – all das spiegelte sich in der Musik und den Texten wieder, die er schrieb, während seine Mitbewohnerinnen in der Stadt einen Film mit dem Regisseur Nicolas Roeg drehten: „Don’t Look Now“ – „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. Benge als zweite Schnittassistenz Julie Christie natürlich als Hauptdarstellerin.
We are not prepared – wir sind nicht vorbereitet – war laut Roegdie Botschaft seiner schaurigen Daphne-Du-Maurier-Verfilmung. Wie recht er haben sollte – Robert Wyatt war laut Benge nicht der Einzige aus dem Umkreis der Filmcrew, dem später Schreckliches zustieß.
Nach dem Unfall konnte Robert Wyatt nicht mehr ohne fremde Hilfe zurück zur Magie seiner Jugend, der Weg zum Jazz war ihm versperrt. Die wilden Improvisationen, die er als furioser und virtuoser Schlagzeuger mit Soft Machine und Matching Mole gespielt hatte, waren genauso Geschichte wie der Bebop von Saint-Germain-des-Pres. „Wenn ich heute Videos von mir sehe, wie ich damals Schlagzeug gespielt habe, denke ich – fuck man – das ist ja eine sadistische olympische Anstrengung“, kichert er. Es scheint, als sei er froh, dass er diese Phase seines Lebens hinter sich hat. „Die Kunst heißt Verdrängung“, meint seine Frau Alfie später.
„Manchmal fühlt man sich wie im Gefängnis“, gibt Wyatt zu und hebt hilflos die Arme. „Aber eine Art Lebenskraft fordert, dass man einen Weg da raus findet. Und wenn man ihn nur im eigenen Hirn findet.“ Er wiegt seinen Kopf nach links. „Aber ich weiß nicht, ich meine, wenn jemand im Gefängnis sitzt und ihm erlaubt ist, zu schreien: Lasst mich raus!, mag das eine gute Katharsis sein, aber sie bringt ihn nicht wirklich nach draußen.“ Da wackelt der Bart, Wyatt legt seinen Hals nach hinten über die Lehne seines Rollstuhls und sieht ein bisschen aus wie Winnie The Pooh.
Falls Wyatt, als er 1974 nach seinem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt zurück ins Studio ging, geschrieen haben sollte, dann trifft auf ihn die Definition eines Dichters zu, die der dänische Philosoph Sören Kierkegaard am Beginn seines Hauptwerks „Entweder-Oder“ aufstellte: „Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, dass, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik.“
Beschränkt auf seine hohe, zwischen den Geschlechtern schwebende Stimme und die kleine italienische Orgel, auf der er die Stücke geschrieben hatte, spielte er sich mit Hilfe von Musikern wie Soft Machines Hugh Hopper, Caravans Richard Sinclair, Fred Frith und dem jungen Mike Oldfield in einen Zustand, in dem die Schwerkraft außer Kraft gesetzt schien und seine Behinderung nicht mehr ins Gewicht fiel. Die naiven Liebeslieder an den weiblichen Körper im Allgemeinen und seine Freundin Alfie im Speziellen klangen, als kämen sie direkt vom Meeresgrund vor Venedig.
„Rock Bottom“ bediente sich der Techniken des Jazz – der freien Improvisation, dem Spiel mit Phrasierungen – war aber formell weit davon entfernt. Man hat das Gefühl, der Unfall war für Robert Wyatt am Ende eine Befreiung von den Fesseln der Virtuosität und der elitären Haltung der Prog-Rocker und Fusion-Jazzer. Eine Tragödie mit Happy End. Und am Tag der Albumveröffentlichung heiratete Robert Wyatt seine Alfie.
„Es gibt dieses Sprichwort“, meint Wyatt, „eine Tür geht zu, eine andere öffnet sich. Da ist in meinem Fall was Wahres dran. Wenn man sich daran gewöhnt hat,
etwas auf eine bestimmte Weise zu tun, und diese Möglichkeit wird einem dann genommen, muss man in seinem Inneren nach einer Lösung suchen. Und die kann man finden. Irgendwas findet man immer. Das ist das Prinzip.“
Der Jazz und die abstrakte Wahrheit Dem Prinzip des inneren Auswegs scheint auch Wyatts neues Album „Comicopera.“ zu folgen. Der Titel erklärt sich von den alten Griechen her. Die ja im Theater zwischen Komödie und Tragödie unterschieden, wobei letztgenannte sich um die Macht des Schicksals und die Götter rankte – an die der alte Kommunist Wyatt aber selbstverständlich nicht glaubt. Daher wählte er die komödiantische, das heißt die die menschlichen Eigenarten betreffende Form. In drei Akten spielt er sich vom Privaten zum Weltpolitischen und von dort zum Utopischen. Und wie in seinem Leben, sind auch auf „Comicopera“ alle Ereignisse um eine Katastrophe herum ausgerichtet: den so genannten „Krieg gegen den Terror“.
In dem neuen Song „A Beautiful War“ singt Wyatt aus der Sicht eines US-Bomberpiloten von einem Luftangriff auf Beirut. Im folgenden Stück trägt er einen von insgesamt fünf Texten vor, die Alfreda Benge für das Album schrieb: „Out Of The Blue“ schildert die gleiche Situation aus der Sicht eines Opfers. Dieser dialektische Moment, der alles über den Krieg zu sagen scheint, ist typisch für die Zusammenarbeit der beiden. Ihre Gedanken scheinen geradezu komplementär. „Das Album begann als eine Sammlung unterschiedlicher Songs“, erklärt Wyatt. „Warum am Ende ein kohärentes Konzept entstand? Weil Alfie und ich jeden Tag zusammen verbringen und die Welt sehr ähnlich wahrnehmen. Es war sehr einfach, die Stücke am Ende in eine richtige Reihenfolge zu bringen. Das Vertrauen in eine solche Herangehensweise kommt natürlich aus dem Jazz. Die Idee hinter einem Jazz-Solo ist ja, dass der Solist zwar zu schnell ist, um die Bedeutung jeder Note zu erfassen, doch wenn er zentriert ist und in der richtigen Tonart spielt, hat sein Spiel eine organische Kohärenz.“
Im letzten Akt der „Comicopera“, den Wyatt selbstironisch ,Away with the fairies“ – in anderen Sphären, jenseits der Realität – genannt hat, sucht er nach Auswegen aus der kriegerischen politischen Realität. Er findet sie außerhalb der anglo-amerikanischen Kultur und der englischen Sprache. Etwa im mystischen Feminismus von „Del Mondo“ – einem Song der italienischen Band C.S.I. – und in der surrealistischen Dichtung Frederico Garcia Lorcas. „Die ältere Generation der Radikalen, aus der ichiomme, hat unterschiedlichste Fluchtwege geschaffen, die alle wundervoll und stimulierend sind“, meint
Wyatt. „Nur die Idee, dass sie einen realen Frieden und eine Alternative repräsentieren, wie man in der modernen Welt zurechtkommen kann, scheint mir bei aller Sympathie doch vermessen. Ich glaube nicht, dass die modernen Kunstbewegungen den Status Quo infrage stellten. Wer das glaubt, ist away with the fairies. Aber deshalb sind sie noch lang nicht lächerlich. Menschen können nicht allzu viel Realität vertragen.“
Ob das der Grund ist, dass er am Ende sogar noch einmal Carlos Pueblas post-revolutionären „Hasta Siempre Comandante“ singt? „Ich glaube, an dem Song lässt sich genau ablesen, wie alt ich bin“, lacht Wyatt, „vermutlich sogar mein exaktes Geburtsdatum.“ Ende der Siebziger war er in die Kommunistische Partei eingetreten und hatte sich geweigert, weitere Alben für die Majorfirma Virgin aufzunehmen. Stattdessen machte er bis zum Ende seines Vertrages lieber Singles mit Protestsongs, Arbeiter- und Befreiungslieder für das Indie-Label Rough Trade. Schon da sang er ein Lied von Carlos Puebla, „Caimanera“. „Die kubanische Revolution war die große Romanze unserer Generation, als wir jung waren“, meint er leicht belustigt und krault seinen Bart. „Aber diese Lieder haben eine neue Relevanz bekommen, jetzt wo die große Mächte ihre Gewehre wieder gen Osten gerichtet haben und die anderen Teile des sogenannten kapitalistischen Empires nach neuen Wegen der Unabhängigkeit und Autonomie suchen.“
In Lateinamerika gebe es gerade spannende politische Entwicklungen, so Wyatt. Michelle Bachelet, die einst vor Margaret Thatchers großem Freund General Pinochet floh, sei heute chilenische Staatspräsidentin. In Bolivien bekleide mit Evo Morales zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas ein Indio das höchste Amt des Staates, in Venezuela wende sich Präsident Hugo Chävez gegen die Interessen ausländischer Investoren, weil er die 01reserven seines Landes lieber einsetzen wolle, um die dortige Armut zu bekämpfen. „Es gibt Anzeichen, dass Lateinamerika nach einer eigenen Form von Fortschritt strebt, so gesehen ist,Haste Siempre Comandante‘ für mich kein anachronistisches Lied. Aber was heute fehlt – und was ich persönlich sowieso niemals hatte -, ist dieser blinde Optimismus der Linken. Der hat mich nie überzeugt. Selbst als ich in der Kommunistischen Partei war, dachte ich, dass im Kampf der Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Schwachen logischerweise (lacht) die Reichen und Mächtigen gewinnen.“
Man kann natürlich argumentieren, dass Wyatt ein Ideologe der alten Schule ist, immer US-kritisch und sozialismus-freundlich war, und daher politisch und ästhetisch mit dem neuen Album einfach dort weitermacht, wo er immer schon gestanden hat. Und er würde einem sogar zustimmen. Doch das auf „Comicopera“ ausgedrückte Verlangen, außerhalb der anglo-amerikanischen Kultur nach Bedeutungen und kulturellen Strategien zu suchen, scheint wieder Konjunktur zu haben. Ja, die Platte trifft sogar ziemlich genau den Zeitgeist. Nicht nur Oberflächenphänomene wie Balkan-Pop oder der Auftritt von Madonna mit Gogol Bordello beim „Life Earth‘-Konzert deuten daraufhin, dass auch im Pop mittlerweile nach Ausdrucksformen jenseits des westlichen Mainstreams gesucht wird. Der in Venezuela aufgewachsene Devendra Banhart singt lateinamerikanische Folksongs, viele Künstler lauschen wieder auf die Kultur und Sprache ihres Herkunftslandes. „Und eine signifikante Nummer von Argentiniern, deren Eltern mit Rockmusik aufgewachsen sind, interessieren sich wieder für ihre eigene Kultur, spielen zum Beispiel Tango“, führt Wyatt den Gedanken weiter. „Traditionen, die von der anglo-amerikanischen Popkultur überrannt wurden, kehren zurück. Es gibt wieder mehr kulturelle Autonomie auf der Welt. Stimmt, das ist ganz und gar nicht away with thefairies, das ist eine bessere Wirklichkeit.“
Auf „Comicopera‘ finden sich einige Vertreter dieser „besseren Wirklichkeit“. Musiker aus China, Brasilien, Italien und Israel sorgen für eine stilistische Vielfalt und geben dem Album eine Originalität, die charakteristisch ist für die besten Wyatt-Werke. „Hinter dieser Buntheit steckt kein ideologischer oder politischer Gedanke, eher ein ästhetischer“, meint Wyatt. „Ich mag biologische Vielfalt. Ein Garten mit Blumen und Gemüse ist mir lieber als eine Monokultur. Die ist langweilig und gefährlich. Und gerade wenn man, wie ich, auf einer Insel lebt, sind nicht die Einwanderer das Problem, sondern die Inzucht.“
In dieser multikulturellen Mischung ist sogar Platz für den Blues. Dabei hat Wyatt diese Form früher so gut es ging gemieden, weil ihm die britische Bluesbewegung in den Sechzigern nicht geheuer war. Es schien ihm unfair, dass sich die Leute plötzlich für schwarze Musik interessierten, nur weil sie von weißen langhaarigen Jungs gespielt wurde. „Bestandteile des Blues verwendet natürlich jeder, weil es einfach die wundervollste Akkordfolge des 20. Jahrhunderts ist“, meint er. „Sie ist unendlich flexibel. Man könnte eine Eddie Cochran-Aufnahme nehmen, die Geschwindigkeit verändern und sie in die Mitte eines Coltrane-Solos einsetzen – und es würde passen.“
So richtig wohl fühle er sich beim Einsatz des Blues aber erst seit dem Ende der Apartheit, grinst er halbironisch. „Als Mandela aus dem Gefängnis kam, dachte ich, okay, hier ist etwas Wichtiges passiert, der Rassismus ist nun offiziell illegal. Das heißt nicht, dass er tot ist, natürlich nicht, aber die afrikanische Kultur ist aus dem Kerker befreit worden – da fühle ich mich nicht mehr so schlecht, wenn ich sie benutze.“
Auch wenn sich die einzelnen Elemente von „Comicopera“ benennen lassen, kommt man dem Klang dieser Platte so nicht näher. Eine Multi-Kulti-Platte ist es sicher nicht, weil hier nicht mit Vielfalt geprotzt wird. Mit dem Sound verhält es sich ähnlich wie mit dem inhaltlichen Konzept – oder einem Jazzsolo. Aus der Spontaneität des Zusammenspiels entsteht eine organische Kohärenz. Trotzdem ist „Comicopera“ natürlich kein Jazzalbum. Eher ein Swing der Möglichkeiten- ein Robert-Wyatt-Album eben. Ein sehr gutes sogar. „Es gibt Musiker, die auf Sicherheit bedacht sind und in einem Idiom arbeiten, das schon existiert“, erklärt Wvatt.
„Und das ist vollkommen okay. Mingus ist tot, Ellington ist tot – da ist es schön, dass es Leute gibt, die das, was sie geschaffen haben, lernen und so konservieren. Ich arbeite auch mit Musikern, die das tun. Aber für mich liegt das Abenteuer darin, unter all den Geräuschen meine eigene Stimme zu finden, Sachen umzustellen und neu zu erfinden, dass sie sich so anfühlen wie etwas Eigenes.“
Just As You Are Jahrelang war Wyatt ganz auf seine eigenen Fähigkeiten angewiesen, weil er nicht das Geld und nicht die Möglichkeiten hatte, mit anderen Musikern Alben aufzunehmen. Es war für ihn nach seinem Unfall schwer, in der kleinen Londoner Wohnung, in der er mit seiner Frau lebte, überhaupt neue Musik zu komponieren. „Arbeiten war dort fast unmöglich „, erinnert sich Benge, die sich mittlerweile um uns nicht beim Interview zu stören – an einen anderen Tisch ein paar Meter entfernt gesetzt hat. „Alle haben immer uns besucht, weil wir mit Roberts Rollstuhl nicht in ihre Häuser reinkamen.“
So entstand in den Achtziger nur ein einziges, musikalisch großenteils eher schlichtes Album, „Old Rottenhat“. Ende der Achtziger verkaufte Benge die Wohnung, und die beiden zogen nach Norden. Ins kleine Städtchen Louth in der Grafschalt Lincolnshire. Dort haben sie seitdem ein kleines Häuschen für sich, und Wyatt hat endlich einen Raum, in dem er ungestört Musik machen und alte Jazzplatten hören kann. „Es ist sehr angenehm dort“, sagt er. „Es gibt einen kleinen Marktplatz, wo ich eine Tasse Tee und eine sausage in a bim bekomme. Lind Alfie hat es uns in den fast 20 Jahren, die wir dort jetzt leben, sehr nett gemacht. Immer, wenn ein bisschen Geld von einer Platte reinkommt, steckt sie das wieder in einen Umbau oder eine Ausbesserung.“
Sein einziges Problem sei die Langeweile, sagt Wyatt. „Ich versuche, mir mein Interesse für das, was um mich herum geschieht, zu bewahren. Auch wenn das Louth natürlich nicht besonders viel ist.“ Er erzählt, wie er manchmal den Schwalben zuschaut, wenn sie ein seltsames Spiel spielen.
„Es ist wie ein Fahrradreifen im Himmel. Eine Schwalbe fliegt hoch und wirft eine Feder hinab, die anderen tauchen hinterher, um sie zu kriegen, und kurz bevor sie auf dem Boden landet, nimmt eine von ihnen die Feder auf und steigt hoch, um sie wieder fallen zu lassen.“ Er schaut mich gespannt an und verschüttet ein bisschen von seinem Tee auf der Untertasse. „Man sagt ja immer, Tiere würden nach einfachen Instinkten funktionieren“, fährt er fort,, „aber es gibt absolut keinen biologischen Grund dafür, warum sie dieses Spiel spielen- sie haben einfach nur Spaß daran.“ Er strahlt, sieht mich an, senkt seinen Kopf. „Das klingt vielleicht, als sei es vollkommen bedeutungslos, aber diese Einsicht verändert für mich die Welt und macht sie interessanter.“
Diese kindliche Begeisterung spricht auch manchmal aus seiner Musik. Wenn er sich etwa zu Beginn des neuen Songs „Beautiful Peace“ an einen Spaziergang erinnert, den er als jugendlicher Robert Wyatt Ellidge (so sein vollständiger Name) unternahm, und erstaunt beschreibt, wie er zwei tote Hasen neben einer Styroporschachtel am Waldrand liegen sah. „Nur wenn ich mich in einem Zustand befinde, in dem ich die Dinge so betrachten kann, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen, kann ich kreativ sein“, sagt er. Das erste Album, das in Louth entstand, war Anfang der Neunziger „Dondestan“, von der Presse damals als Comeback gefeiert. Wyatt bediente sich hier erstmals an den Texten seiner Ehefrau. Alfie hatte bei
ihrem gemeinsamen Aufenthalt in Spanien im Winter zuvor einige Gedichte geschrieben, und Wyatt vertonte sie ohne ihr Wissen. „Er hat es mir erst erzählt, als fast alles fertig war“, strahlt sie. „Und ich fühlte mich sehr geschmeichelt, denn ich wusste, dass er das nicht nur tut, weil die Gedichte von mir sind.“
Doch die Arbeit allein in dem kleinen Haus in Louth stellte Wyatt auch vor Probleme: Jede Idee, die ich habe, muss ich erst selbst erlernen“, so Wyatt „Ich kann das nicht einfach so spielen, ich muss manchmal wochen- oder monatelang üben, bis ich meinen Ideen gerecht werde. Mein Komponisten-Ich ist auf mein Musiker-Ich oft nicht gut zu sprechen. Sogar in der Einsamkeit habe ich diese typischen Band-Streitereien.“
Wyatts Vertrauen in seine musikalischen Fähigkeiten war noch nie sehr groß. Daher hat er wohl auch bis heute verwunden, wie ihn seine Kollegen von Soft Machine ihn im August 1971 ausboteten. Er spricht nicht gern darüber und bezeichnet die Zeit bei seiner alten Band als den größten Fehler seines Lebens. Die Selbstsicherheit des von seinem musikalischen Instinkt geleiteten Wyatt hat sicher unter der Konfrontation mit den musiktheoretisch geschulten Ratledge und Hopper gelitten. Aus Angst zu versagen, finanziert Wyatt jedes seiner Alben zunächst selbst, bevor er das fertige Produkt einer Plattenfirma anbietet.
Mitte der Neunziger ging er in ein Studio in Lincolnshire, um mit den Arbeiten für den Nachfolger von „Dondetem“zu beginnen. Nach drei Tagen, die ihn ungefähr 2000 Pfund kosteten, hörte er sich die Aufnahmen an und hasste sie. Die Vorstellung, Geld, das er nicht hatte, für Musik auszugeben, die er nicht mochte, stürzte ihn in eine tiefe Krise. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste behandelt werden. Als er sich erholt hatte, lud Ex-Roxy Music-Gitarrist Phil Manzanera ihn in sein neues Studio in London ein und bot ihm an, für einen Pauschalpreis so lange aufzunehmen, bis er mit dem Ergebnis zufrieden wäre. Auf diese Weise entstanden „Shleep“, der Nachfolger „Cuckooland“ und auch das neue Album „Comicopera“.
Mittlerweile ist aus den Musikern, die sich seit „Shleep“ zu den Sessions für jedes neue Robert-Wyatt-Album in den Gallery Studios versammeln, sogar eine Art kleine Band geworden, zu der neben dem Toningenieur und Gitarristen Jamie Johnson und Studiobesitzer Phil Manzanera auch die Posaunistin Annie Whitehead, der israelische Saxofonist Gilad Atzmon, sein Landsmann, der Bassist Yaron Stavie und sogar Paul Weller gehören. „Ich kann kein Musikstück schreiben und sagen, hier gehört ein Saxofon hin und hier eine Flöte“, schüttelt Wyatt den Kopf. „Ich muss den Charakter der jeweiligen Musiker kennen. Das habe ich von Mingus und Ellington gelernt. Jeder im Orchester hat eine eigene Stimme. Das macht die Musik lebendig. Deswegen gebe ich jedem Musiker seinen Raum. Ich mag es, wenn Annie ihren großen Moment hat oder Gilad und ich hinten sitzen kann und nur meine kleinen Metallstückchen, meine Mülleimerdeckel aufeinanderschlage crish, crash, crish, crash. Es geht mir bei einem Album nicht um einen abstrakten Sound, ich genieße die Gesellschaft dieser Musiker.“
Die Arbeit an den letzten drei Alben habe ihm bei seinem Kampf gegen die tödliche Langeweile sehr geholfen, sagt er. Man müsse immer wach und interessiert bleiben bei diesen Musikern. In dieser Hinsicht scheint auch Brian Eno über die Jahre ein wichtiger Kollaborateur und Freund geworden zu sein. Es sei schwer zu erklären, was es neben einigen Melodien und Synthesizer-Sounds eigentlich genau sei, was er zu den Alben beisteuere, rätselt Wyatt. Benge schaut zu uns herüber – ihr fällt eine Bezeichnung dafür ein: „kreativer Enthusiasmus“.
Als Benge und Wyatt an einem Tag während der Aufnahmen zu „Covikopera“ im Studio saßen und nicht arbeiten konnten, weil der Toningenieur krank geworden war, kam Eno vorbei. „Ich hatte gedacht, wir quatschen ein bisschen, wie wir es häufig tun, doch dann sagte er: ‚Let’s do something.‘ Er ist ein Do-aholic“, lacht Wyatt. Eno schlug vor, Robert und Alfie sollten zusammen einen Song schreiben. „Wie war das noch mal genau, Alfie?“, fragt Robert, und Alfie setzt sich zu uns an den Tisch.
Robert: Also, ich spielte diese Phrase auf dem Klavier, so ein simples Country-Gospel-Ding.
AHie: Dann sagte Brian: „Okay, Alfie, wir brauchen Text. Denk dir eine Phrase aus.“ Ich wählte „You’re never going to change a thing.“ Aber wie schreibt man von dort aus einen Text zu einem Country-Song? Hm, dachte ich, er muss persönlich sein und ehrlich – und es sollte um Beziehungen gehen.
Robert: (in meine Richtung) Etwas, das jeder versteht, das ist die Regel.
Alfie: Also habe ich mich an der Realität bedient. Es geht in dem Text um ein Problem, das damals zwischen uns stand.
Robert: Also hat sie es in den Song eingebaut. Da ist es nun. Es war nur ein Spiel, aber Alfie war sehr böse auf mich damals.
Alfie: Und ich sagte, wenn der Text ehrlich sein soll, dann muss das im Text vorkommen.
Robert: Okay, hab ich gesagt, kein Versteckspiel jetzt. Aber sie schrieb auch einen Teil, in dem ich auf ihre Vorwürfe antworte, so dass ich meine Würde bewahre (lacht).
Alfie: Meine Liebe zu ihm ist an Bedingungen geknüpft, er muss sich benehmen. Er stellt dagegen nie irgendwelche Regeln auf, ich kann machen, was ich will. Das ist ziemlich unfair, und darum geht’s in dem Song.
Robert: Sie war sehr gütig zu mir, sie hat mir eine Ausstiegsklausel am Ende des Songs gegeben.
Man hört den beiden gerne zu, wenn sie erzählen. Wenn sie miteinander reden und Gesten austauschen, wie man das wohl nur kann, wenn man fast 35 Jahre zusammenlebt – und das nicht nur auf einer alltäglichen, sondern auch auf einer kreativen Ebene. Aber es liegt doch eine Melancholie, eine große Traurigkeit über dieser Harmonie, wenn man weiß, welches Problem in, Just As You Are“ zwischen ihnen stand. Alfie erzählte mir davon, als Robert ein anderes Interview führte, und ich musste an Paul Simons sentimentales „Rene And Georgette Magritte With Their Dog After The War“ denken, als ich die beiden später gemeinsam Tee trinken sah.
„Es wird immer schwieriger für ihn, die ganze Verantwortung zu tragen, die mit einem solchen Album verbunden ist“, so Benge. „Er hasst es, sich zu wiederholen, also fängt er jedes Mal wieder ganz von vorne an. Das einzige Instrument, das er virtuos beherrschte, kann er nicht mehr spielen, sein Stimmumfang nimmt ab, weil er älter wird. Und weil es ihm an Selbstsicherheit fehlte, fing er an zu trinken. Und wu rde praktisch ein Alkoholiker. Und wenn er trank, fühlte ich mehr sehr einsam. Ich wollte meinen alten Robert zurück, denn er ist ein kluger Kopf, dessen Gesellschaft ich nicht missen möchte. Ich habe ihm 30 Jahre gegeben, und ich will mindestens noch einmal 20. Deshalb habe ich die neue Platte gehasst, weil sie meinem Freund, mit dem ich mich immer so gut unterhalten habe, das antut.“
„Das kannst du ruhig schreiben“, sagt Wyatt, der seine Sucht mittlerweile im Griff hat, später. „Der Alkohol war Teil der Schlacht.“ Mit der Seele eines Kindes, dem Kopf eines Jazzers, dem Herz eines Kommunisten, der Stimme eines Dichters, den Zweifeln eines aus dem Paradies der Jugend Vertriebenen und dem Leben eines 62-jährigen Alkoholikers und Rollstuhlfahrers aus Louth, Lincolnshire hat Robert Wyatt auf bewegende Weise davon erzählt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Durch seine magische Fähigkeit, Schmerz in Schönheit zu verwandeln, hat er dabei die privaten und weltpolitischen Tragödien in einer „Comicopera“ aufgehoben.
Drei Alben lang habe er ständigen Zuspruch von seinen Musikerfreunden gebraucht, um zu erkennen, dass er alle kreativen Ideen, die er habe, nun herauslassen müsse. „Ich habe einfach keine Zeit mehr, noch länger zu warten“, sagt er und kratzt sich an der Wange, wo drei große, schwarze Altersflecken den unbarmherzigen Lauf der Zeit zu bestätigen scheinen. „Früher dachte ich immer an die Zukunft, aber die Zukunft ist jetzt, näher komme ich ihr nicht.“
Am Ende unseres Gesprächs schwebt vom Himmel eine Feder in unseren Hinterhof und lässt sich auf Robert Wyatts Kopf nieder. Er schaut nach oben und sagt mit kindlicher Stimme: „Thank you, bird.“ Ich bin mir sicher, dass er auch Charlie „Bird“ Parker dankte.