Singles, Schweiss und Pirouetten
Eine kleine Geschichte des Northern Soul
Motown ist für die meisten die Einstiegsdroge, so auch für mich: Im Herbst 1990 reiste ich nach England, zum „2nd Magic of Motown and Northern Soul Weekender“ in Great Yarmouth, einer Kleinstadt im Osten Englands, ein Wuppertal am Meer. Ringsum sehe ich kahl rasierte, polternde britische Männer in Trainingsjacken, Verkaufsstände mit Platten, der Geruch von Fish & Chips hängt in der Luft. Punkt 22 Uhr geht in der Bingohalle kurz das Licht aus, dann flackert es wieder auf, die ersten Töne von Smokey Robinsons „Tears Of A Clown“ erklingen – und die Menschen strömen auf einen Schlag von allen Seiten aufs Parkett. Die grobschlächtigen Engländer tanzen, wie ich noch nie Leute tanzen sah: wiegend, gleitend, elegant, sie machen Ausfallschritte, holen Schwung mit den Armen, drehen sich wie Eiskunstläufer, die Oberkörper aufrecht – aber die Beine, was die Beine machen, das ist der helle Wahnsinn.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Northern Soul ist eine Subkultur, deren Musik zwar aus den USA kommt, die im Kern aber zutiefst britisch ist: Fred-Perry-Shirts, Sporttaschen, Schweißbänder, die erhobene linke Arbeiterfaust als Zugehörigkeits-Emblem („badge“), bequeme Schuhe, klare Benimm-Regeln auf dem Tanzboden, ein ausgefeiltes Plattensammel- und Listenwesen und nicht zuletzt die altehrwürdige Idee des „Respekts“ für einzelne DJ- oder Tänzer-Leistungen: All dies ist tief im Working-Class-Duktus verwurzelt.
Schon beim Begriff „Northern“ fängt es mit den Briten an. Der Gedanke liegt nahe, das „Northern“ diene als Abgrenzung zum „Southern Soul“ und beziehe sich auf den Produktionsstandort innerhalb der USA. Erfunden und geprägt hat den „Northern“-Begriff jedoch der britische Musikjournalist Dave Godin, und was er 1970 erstmals beschrieb, war die Kluft zwischen der überkandidelten Metropolen-Szene in London und der raueren Jugendkultur im industriell geprägten Norden Englands. Schon in den 60er Jahren hatten die Mods den Soul aus Amerika gehört. Doch mit der dekadenten Ära des Swinging London zerfaserte die Hauptstadtszene zusehends. Während die hippe Londoner Psychedelic-Fraktion ihr langes Haar nun zu Art-Rock schüttelte, entdeckten die frühen Skinheads den Reggae; derweil schüttelte man in den Vorläufern der 70s-Discos zu blutleer durchproduziertem Funk sein „Ding“.
Die Industriekinder im Norden folgten einem anderen Rhythmus. Nach dem werktäglichen Stahlbad in den Auto- und Werftfabriken wollten sie am Wochenende vor allen Dingen eins: tanzen, schwitzen, abheben. Die treibenden Beats aus der Motown-Schmiede und von zahlreichen unbekannten Labels trafen auf den jugendlichen Hunger nach Bewegung. Godin, der Journalist, sah damals im „Twisted Wheel“-Club in Manchester junge Männer in sportlicher Kleidung, die auf der Musik regelrecht zu segeln schienen. Begeistert nannte er es „Northern Soul“, gründete die „Tamla-Motown-Appreciation-Society“ und stiftete der Bewegung ihre Selbst-Definition.
George Orwell hatte in seinem dokumentarischen Roman „Road to Wigan Pier“ schon 1937 den Großraum Manchester als Höllenheimat des Proletariats beschrieben, und genau dort lag in den Siebzigern einer der wichtigsten Clubs aller Zeiten: das Wigan Casino. Szene-Anhängern ist der 1981 geschlossene Ballsaal eine Legende wie anderen das „Studio 54“ in New York. Auch im „Mekka“
in Blackpool und im „Golden Torch“ in Turnstall fanden damals erste Allnighter und Weekender statt, die partytechnischen Vorläufer der 25 Jahre später erblühenden „Rave“-Euphorie rund um den Club „Hacienda“ in Manchester: ein eigenwilliger, ekstatischer Ausgehkodex jenseits der Weltstadt London. Trendige Kleidung spielte dabei keine Rolle, es ging ums Wohlfühlen, den „Loose fit“, das uneitel lässige Dabeisein, eine robuste Euphorie. Nie war die Northern Soul-Bewegung eine Oldie-Kultur in dem Sinn, dass stets die dieselben alten Lieder aufgelegt wurden. Im Gegenteil: Nach Vinyl-Raritäten wie nach Schätzen zu graben hält die Szene bis heute lebendig. Nicht von ungefähr heißt einer der frühen bedeutenden Vertriebe für wiederveröffentlichte Soul-Raritäten „Goldmine“. Auch das 1982 gegründete „Kent“-Label wurde schnell zu einer zentralen Bezugsquelle für Wiederauflagen seltener Stücke. Das Potenzial des gesamten Genres schätzen Szene-Insider auf immerhin 35000 Songs.