Sex Pistols: Blut und Spucke
Julien Temples Dokumentation "The Filth And The Fury" erzählt in krassen Bildern die ebenso kurze wie heftige Geschichte der Sex Pistols.
Es wird viel gerotzt in „The Filth And The Fury“. Die Fans, die Band, die Kamera – alle kriegen etwas ab. Das ist nicht unbedingt schön anzusehen, wenn der Glibber in hohem Bogen durch die Luft eiert oder auf der Kameralinse Schlieren zieht. Aber der Dreck musste raus. Denn das war der Sinn dieser Notwehraktion namens Punk. Man kratzte das bisschen Selbst, dass einem geblieben war, zusammen, blies es zwischen den Backen auf und dann – ab dafür!
Rotgesichtige Fernsehmoderatoren in großkarierten Anzügen, Backsteinhäuser von erstickender Tristesse, bedeutsam wabernde Popmusik, wachsende Arbeitslosigkeit und das Gefühl, die eigene Zukunft zu versäumen: Nein, 1976 gab es keine Alternative außer einem herzhaftem „Fuck you very much!“
„Wir haben es geschafft, alle Leute zu beleidigen, die uns auf den Keks gegangen sind“, sagt dann auch John Lydon, der Sänger der Sex Pistols, nicht ohne Stolz zu Beginn von „The Filth And The Fury“, während im Hintergrund pathetische Orchestermusik dudelt. Es ist seine Geschichte und die der Sex Pistols, die wir im Folgenden sehen werden. Sie dauerte wenig mehr als zwei Jahre – und endet natürlich tragisch mit den bekannten letzten Worten im Winterland Ballroom in San Francisco: „Ah-ha-ha. Ever get the feeling you’ve been cheated? Good night.“ Was später mit der Band, ihrem Sänger und dem Manager passierte – darüber wollen wir hier nicht reden.
Man sollte aber wissen, dass der Regisseur Julien Temple bereits 1980 einen launigen Nachruf auf die Sex Pistols in die Kinos brachte: „The Great Rock ´n´ Roll Swindle“. Da grölte Sid Vicious „I did it mv way“, die Band tobte als Zeichentrick-Truppe durch die Stationen ihrer Karriere, und der alte Posträuber Ronnie Biggs durfte mit „Belsen Was A Gas“ provozieren. Nur einer fehlte – der im Januar 1978 ausgestiegene Johnny „Rotten“ Lydon. Der große Rock’n’Roll-Schwindel war also genau das: Die Geschichte der Sex Pistols als pfiffig amüsante Inszenierung ihre Managers Malcolm McLaren, der die Erfindung des Punk für sich reklamiert.
„The Filth And The Fury“ ist die schmutzig mitreißende Gegendarstellung. Der gleiche Regisseur, die gleichen Musiker, nur die Geschichte sieht auf einmal ganz anders aus. Weil jetzt die Sex Pistols das Wort haben. Das ist genauso unterhaltsam – aber deutlich informativer. Weil es nun auch einen politischen, sozialen und kulturellen Kontext gibt. Die Bilderflut beginnt deshalb mit dem Niedergang des britischen Empire in den Siebzigern: Zerfallende Häuser, streikende Arbeiter, Krawalle auf den Straßen und ein unsagbar ödes TV-Programm. „People were fed up with the old way“, sagt John Lydon, der wie Steve Jones, Glen Matlock und Paul Cook die Chronologie der Ereignisse als dunkler Schatten aus der Gegenwart kommentiert.
Auch der große böse Wolf Malcolm McLaren kommt zu Wort und präsentiert sich einmal mehr als Marionettenspieler und situationistischer Provokateur: „Ich habe manipuliert. Ich habe die Sex Pistols erschaffen“, prahlt er auch hier wieder. Doch wäre es wirklich nur seine genialische Medien- und Musiker-Manipulation gewesen – das Phänomen Punk hätte wohl nie stattgefunden. „He’s convinced people now, that he is full of shit“ erwidert Steve Jones deshalb ziemlich trocken. Und John Lydon wirft seinem eloquenten Manager das permanente Klauen von Ideen vor, vermutlich zu Recht. Die Sex Pistols trafen – ohne es zu wissen – einen Nerv, sie waren das perfekte Produkt ihrer Zeit: gelangweilte und perspektiviose Teenager mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch. Auch der Fetzen-Look, die Sicherheitsnadeln und die Krakeleien auf den Klamotten gehen laut Meinung der Band eindeutig auf Lydons Konto – deshalb nannte man ihn ja Johnny Rotten.
Da Julien Temple seit 1976 mit der Band befreundet ist, sind wir schon bei den ersten Gigs der Band hautnah dabei – rückkoppelnde Verstärker, entstellte Gesichter, Blut, Schweiß und Spucke. Und das Beste: Die Medien spielten von Anfang an mit und übernahmen bereitwillig die für sie vorgesehene Rolle des Tanzbären.
Ein legendärer Medien-Höhepunkt ist das Interview mit dem Moderator Bill Grundy vom 1. Dezember 1976. Da sitzen die vier angetrunkenen Sex Pistols im Studio der BBC, hinter sich vier ausgesucht stylische Fans. Einer
trägt eine Hakenkreuzbinde und die junge, später zu eigenem Ruhm gelangte Siouxsie Sioux sieht bezaubernd aus in ihrer bizarr gestylten Androgynität. Was offenbar auch dem Moderator auffiel, der ihr scherzhaft zuraunt, man könne sich später ja noch treffen. „Drecksau“ und „Schmutziger alter Mann“ fällt Steve Jones spontan dazu ein. Wie ein paar Betrunkene in einem spätabendlichen Pub schaukeln sich Grundy und die Band danach immer weiter hoch, bis der Moderator die Musiker auffordert, die verbleibende Zeit zu nutzen, um „etwas Außergewöhnliches“ zu sagen. Es dauert keine zwei Sekunden, bis man ihm „You dirty bastard“ entgegen schleudert.
Am nächsten Tag kommentiert der „Daily Mirror“ die Sendung mit der Titelzeile: „The Filth And The Fury“, und die Band Television Personalities fragt im gleichnamigen Song: „Where’s Bill Grundy Now?“. Der Moderator sollte nie wieder in einer Prime-Time-Show zu Wort kommen.
Julien Temple, der in den letzten Jahren unter anderem die sehr sehenswerte Joe-Strummer-Dokumentation „The Future Is Unwritten“ gedreht hat, überhäuft die Zuschauer mit solchen packenden TV-Dokumenten und Bildmaterial aus erster Hand. Wir erleben hautnah den Kampf der Autoritäten gegen die von der Reaktion überraschten Punks. Christliche Demonstranten singen sogar „Stille Nacht, heilige Nacht“, um den Unflat der Sex Pistols von ihrer Gemeinde abzuwenden. Auftrittsverbote der Lokalpolitiker sind erfolgreicher und führen dazu, dass EMI die Band fallen lässt.
Es folgen Hasslieder („EMI“) und immer neue, mediengerecht inszenierte Provokationen. Zum Beispiel die lustige Flussfahrt der Band zum 25jährigen Krönungsjubiläum der Queen im von der neuen Plattenfirma Virgin angemieteten Dampfer. „Richard Branson sah aus wie Catweazle“, freut sich Lydon noch heute über die Szenen mit dem ehemaligen Labelchef.
Der brave Glen Matlock wurde schon vorher durch John Lydons alten Freund, den ultimativen Sex-Pistols-Fan Sid Vicious ersetzt. Der angebliche Erfinder des Pogo wusste sehr genau, dass er den Job vor allem seinem guten Aussehen und seinem „great body“zu verdanken hatte.
Mit dem Drogenkopf und ausgewiesenen Nichtmusiker Vicious, der den Bass kaum beherrscht, sich auf der Bühne aber trotzdem gerne in den Vordergrund spielt, bekommt die Geschichte eine Wendung in Richtung Klatsch und Boulevard. Nancy Spungen taucht auf und sieht tatsächlich so aus wie Courtney Love in Alex Cox‘ Biopic „Sid & Nancy“.
Es ist deprimierend und faszinierend zugleich, dabei zuzusehen, wie Spungen den völlig derangierten Sid während eines Interviews immer wieder weckt und ihm schließlich irgendein Aufputsch-Mittelchen verabreicht, das freilich auch nicht so recht gegen die Unmengen von Heroin ankommt, die Sid bereits in seinem Körper hat.
Vielleicht ist es dieses schonungslos Kaputte, das Punk, die Sex Pistols und diesen Film darüber so wichtig macht: Keiner der Akteure will den Anschein erwecken, dass es hier um Kunst oder die Neuerfindung des Rock’n’Roll ging. Ach du liebe Güte, nichts lag ferner! Es ging darum, überhaupt wahrgenommen zu werden – notfalls eben als Produkt. Punk war ein verwöhntes Kind, das „Me! Me! Me!“ plärrte. Deshalb wurde der Streit zwischen McLaren und Lydon auch so erbittert geführt. Jeder wollte der Gott sein, der diese letzte Rebellion im Pop, die noch ernstgenommen wurde, herbeigeführt hat. Doch am vorläufigen Ende ihres Weges sollte beide Veteranen entweder das Dschungel-Camp oder der Big-Brother-Container erwarten. Diese letzte Konsequenz hat uns der Regisseur, der hier wie ein guter Therapeut agierte, dankenswerterweise erspart.
Und was den Geist des Punk angeht, der lebt weiter in Figuren wie Helene Hegemann: Hier sind drei geklaute Textpassagen. Nun leg los und schreib ein Buch. Die Empörung kommt dann ganz von selbst, wie wir ausgiebig beobachten durften. Nur Reue, die gab es bei den Pistols nicht.