„Seventeen Seconds“ von The Cure: Teenage Angst für alle
Mit Grau-in-Grau-Songs definierten The Cure auf ihrem zweiten Studioalbum den Sound einer Ära.
17 Sekunden können ein kurzer Augenblick mit einem flüchtigen Eindruck sein, sich genauso gut aber auch wie eine Ewigkeit anfühlen, je nachdem.
Als die Bands der ersten Punkwelle in den späten Siebzigern wieder Rock’n’Roll im Zeitraffer spielten, mit atemlosen Songs, die oft kaum über zwei Minuten hinaus kamen, war die folgerichtige Weiterentwicklung von etwa Joy Division und The Cure die Verlangsamung – Musik in Zeitlupe, bis hin zum kompletten Stillstand. Es war die Vertonung der Desillusionierung, die sich einstellte, nachdem die revolutionären Ideen des Punkrock eine ebenso kurze Halbwertszeit offenbarten, wie die dazugehörigen Songs Intros hatten.
Die Musikindustrie hatte das Ganze schnellstmöglich marktgerecht vereinnahmt, der große Umsturz blieb aus; der Blick wurde bei Ian Curtis und Robert Smith wieder ins eigene Innere gerichtet, und dort vergeht die Zeit oft sehr langsam. „The dream had to end, the wish never came true“ singt Smith in „Seventeen Seconds“.
Ernüchternde Ansichten
1980 trugen The Cure auch keine grellfarbenen T-Shirts oder gar Sicherheitsnadeln, sondern blickten mit ernster Miene aus ihren schwarzen Trenchcoats hervor. Statt Marx wurde jetzt Sartre gelesen. Die existenzialistische Lektion, dass nichts eine Bedeutung hat, außer der, die wir ihr als Individuen zuschreiben, hatte Robert Smith zu ernüchternden Gedanken inspiriert.
Statt eines klar definierten Feindbildes, gegen das noch die Sex Pistols und The Clash anmusiziert hatten, gab es bei The Cure nur subjektive Ansichten auf eine Welt, die scheinbar absurd und bedeutungslos war. In „10:15 Saturday Night“ verbrachte das lyrische Ich den tristen Abend damit, dem Wasserhahn beim Tropfen zuzusehen. „It doesn’t matter if we all die“ sollte Robert Smith später in „One Hundred Years“ singen („Pornography“, 1982).
Die klangliche Umsetzung dieser teenage angst gelang kaum einer Band jemals so gut wie The Cure auf „Seventeen Seconds“. Innerhalb von nur einem Jahr nach Erscheinen des Debütalbums „Three Imaginary Boys“ war das Trio Robert Smith, Laurence Tolhurst und Simon Gallup um den Keyboarder Matthieu Hartley erweitert worden und hatte einen musikalischen Quantensprung gemacht.
Um eisige, von Brian Eno inspirierte Synthieflächen erweitert, klangen Songs wie „In Your House“ und „At Night“ jetzt wie spärliche Minimalkunstwerke, kaum noch wie Gitarrenpop-Songs. Smiths Stimme wurde durch allerlei Hall-Effekte gejagt, sie klang verlorener denn je innerhalb dieser bedrohlich vor sich hin mäandernden Grau-in-Grau-Songs, deren repetitive Strukturen eine unheilvolle, angespannte Atmosphäre kreieren. Den Wald, in dem der Sänger in „A Forest“, dem besten Song der Platte, verzweifelt einem imaginären Mädchen hinterher rennt, kann man sich nur als düster und voller blätterloser Bäume vorstellen.
Durch Liveauftritte hatte die Band eine beeindruckende Dynamik im Zusammenspiel entwickelt, die Songs wie „Play for Today“ oder „At Night“ zu eindringlichen Kompositionen macht. Wenn Robert Smith in letzterem intoniert „I hear the darkness breathe, I sense the quiet despair“, während sich über Simon Gallups pulsierenden Bass eine verzerrte Synthiemelodie legt, die an die Entfremdungsklänge von David Bowies „Low“ erinnert, dann ist das einerseits natürlich äußerster Manierismus. Andererseits aber sind The Cure genau in solchen Momenten auf der Höhe ihrer Kunst; aus kleinen, manchmal banalen Alltagsmomenten große Symphonien zu machen, die zugleich Eskapismus und Verzweiflung sind.
Auf „Seventeen Seconds“ wurde das zum ersten Mal konsequent durchgespielt. Auf späteren Alben wie „Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me“ (1987) oder „Disintegration“ (1989) sollten The Cure ihre Mischung aus Pathos, Kitsch und Ernst mit noch größerem Aufwand vertonen, sehr zum Missfallen vieler Fans der ersten Stunde.
„Seventeen Seconds“ als Sprungbrett
Somit ist „Seventeen Seconds“ nicht nur die Verdüsterungsplatte in der Diskografie von The Cure, sondern auch der wichtigste musikalische Entwicklungssprung, den Robert Smith und Kollegen vollzogen haben. Die (Klang-)Ästhetik, mit der die Band für den Rest ihrer Karriere assoziiert wurde – dunkle Bassläufe und hallende Gitarren, die in schier endlosen Intros zusammenlaufen, zusammen mit der wunderschönen Stimme von Robert Smith, die seltsame Anderweltlichkeit dieser männlichen Make-Up-Träger – ist auf „Seventeen Seconds“ erstmals angelegt.
Statt diesem Klang jedoch eine ganze Karriere lang verzweifelt hinterher zu rennen, war die Initialzündungsplatte bei The Cure – wie bei allen großen Bands – nur Sprungbrett für noch bessere, aufregendere Klangerkundungen, wie es sie danach auf „Pornograpy“ und den besagten „Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me“ und „Disintegration“ zu hören gab.
Dem engen Korsett der New-Wave-Szene waren Robert Smith und Kollegen da längst entwachsen. Wenn sich im Verlauf der popmusikalischen Achtziger eines gezeigt hat, dann das: Der musikalische Entwurf Smiths war zu groß, schillernd und schlicht einzigartig, um sich an den Dogmen einer bestimmten Ära zu orientieren.