Seele des Nordens: Auf der Suche nach Adeles musikalischen Wurzeln
Von der eigenwilligen britischen Soul-Tradition hat sich der Weltstar längst abgekoppelt. Auch das ist ein Grund für ihren überragenden Erfolg.
400 Millionen Video-Abrufe bei Vevo hatte die Vorab-Single „Hello“ zu Adeles Album „25“ zum Redaktionsschluss dieser Zeilen. Auch in den Streaming-Diensten überflügelte sie bis dato alle Teenie-Phänomene. Mit einem schönen Stück Pathos, das fast ohne Beat auskommt. Die immer wieder zitierte „Soulstimme“ von Adele stellt sich hier in den Dienst einer modern ausproduzierten Pop-Ballade. Mega-Schmelz für die weltweiten Charts. Adeles Wurzeln im R´n`B scheinen ziemlich weit weg.
Wenn man in diesen Tagen in den Suchmaschinen die Kombi „Adele, Northern Soul, 2015“ eingibt, stößt man recht schnell auf Lisa Stansfield. Die großgewachsene 49-jährige Sängerin aus dem graumäusigen Roachdale im Manchester County hat nach Erfolgen in den späten Achtzigern („All Around The World“) nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie sich der speziellen Musik-Tradition Mittelenglands verbunden fühlt; wo weiße Arbeiter-Kids schwarze US-Soul-Rhythmen mit einem durchgehenden, schnellen Beat hörten, beflügelt von der Sixties-Euphorie des Motown-Labels. Die schwarze Faust („Keep the Faith“), das rot-weiß-blaue „Target“-Abzeichen, die Bowling-Schuhe, der sportive Trainingsanzug-Look und die Allnighter in alten Bingo-Hallen wie dem Wigan Casino führte auf sehr spezielle Art die Mod-Bewegung durch die Jahrzehnte.
Adeles Auffassung von Soul ist eine andere. Weniger subkulturell, weniger Plattensammler-Nerd-mäßig geprägt. Sie war stets die nette Diva von nebenan. Spätestens seit „Skyfall“, ihrem Song zum letzten James-Bond-Film, ist sie der letzte echte Weltstar von nebenan. Bei der Querbeet-Web-Recherche zum Thema „Adele“ stößt man in der obersten Trefferliste auf ein Promi-Duett mit Rihanna. Beim Northrrrrn Girl Stansfield also eine tiefe Verneigung vor dem regionalen Erbe, bei Adele Laurie Blue Adkins aus dem Londoner Stadtteil Tottenham (der auf ihrem neuen Album mit süßen, kleinen Ode bedacht wird) geht es in Richtung soulful Mainstream. Das Modell Taylor Swift liegt mit „25“ näher als die stets Soul- und Ska-Roots feiernde Amy Winehouse.
Adele braucht keine Einordnung in Genres mehr
Beflügelt von der weltweiten Verehrung bewegt sich Adele in ihrem eigenen Kosmos. Und da sind die amerikanischen Megastars näher als eine beswingte Underground-Kultur aus dem Großraum Manchester. In London war Northern Soul (Nomen est Omen!) ohnehin nie die große Nummer. Adele hat ihren ersten großen Auftritt mit „25“ dann auch konsequenterweise in die Radio City Music Hall in Manhattan gelegt. Titel „Adele Live in New York City“, mit anschließender NBC-TV-Übertragung am 14. Dezember.
Großbritannien und seine tribalistischen Musik-Spleens sind für Adele endgültig zu klein geworden. Das zeigen Songs wie „Send My Love (To Your New Lover)“), den der international gefragte Produzent Max Martin aus Schweden mit ihr eingespielt hat. Sicherlich ein cooler, eigenwilliger Track, bei aber auch alle Referenzen zum Seventies Soul verschwunden sind. Im Text schließt Adele fast gelassen mit einer verflossenen Liebe ab, wo die Soul-Tradition ein ewiges Schmachten verordnet hätte. Zwar kann sie weiterhin großartig leiden, siehe „I Miss You“, doch die Musik ist wiederum ein andere Kategorie.
Adele braucht keine Einordnung in Genres mehr. Und wenn, dann ist sie mit „25“die Barbra Streisand unserer Tage. Cheers, Weltruhm und Goodbye Wigan Casino!
Kleine Videographie der Inspirationen für Adele:
Joanie Sommers – Don’t Pity Me
https://www.youtube.com/watch?v=LH5tYPaO4Go
Wigan Casino
Northern Soul Dancing
Wigan Casino – Dokumentation