Sean Combs: Die Akte Bad Boy – die Geschichte seiner Gewalttätigkeit

In einer monatelangen Recherche trug der US-amerikanische ROLLING STONE die Akte Sean Combs zusammen.

Diese Momente mögen unbedeutend erscheinen, aber sie lassen etwas aufblitzen, das sich bald entladen würde. Ein dritter ehemaliger Student erinnert sich, wie der zukünftige Rap-Mogul an ein Fenster des Seminarraums klopfte, um eine Freundin zum Schwänzen zu bewegen. Seine Besuche seien ihr merklich unwillkommen gewesen, erzählt der Mitschüler dem ROLLING STONE. „Sie verkrampfte, wenn Combs auftauchte“, erinnert sich der Student, der im Seminar neben der Frau saß. „Er hatte ein seltsames Kontrollbedürfnis. Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst hatte.“

Combs 2023 bei einem Auftritt in Newark

Die betroffene Mitstudentin, die aus Angst vor Repressalien um Anonymität bat, erzählt, dass sich ihre Befürchtungen bestätigten, als Combs vor dem Wohnheim der Hochschule auftauchte und anfing, „angriffslustig“ nach seiner Freundin zu schreien, dass sie herauskommen soll. Die Mitstudentin erzählt, dass bald darauf andere Frauen durch die Flure rannten und panisch an die Türen klopften. Sie schlugen Alarm, weil Combs, der damals schon unter seinem Spitznamen „Puff“ bekannt war, die junge Frau draußen angriff, erinnert sie sich. Die Studentinnen hätten gerufen: „Puff ist hier draußen und spielt verrückt. Er schlägt sie“, so die ehemalige Kommilitonin. „Er schrie und brüllte und benahm sich wie ein Vollidiot, bis sie die Treppe herunterkam“, erzählt eine andere Howard-Studentin, die Zeuge des angeblichen Angriffs war, dem ROLLING STONE. Sie sagt, Combs habe etwas benutzt, das wie ein Gürtel aussah, um die junge Frau „überall hin zu schlagen“. Die Zeugin, die anonym bleiben wollte, berichtete, Combs sei „super wütend“ gewesen und habe „sehr laut geschrien“. Sie sagt, er habe ihr „den Hintern versohlt – so richtig den Hintern versohlt“. Die Zeugin sagt, die Frau sei eindeutig terrorisiert worden: „Sie hat versucht, sich ein bisschen zu wehren. Sie hat geweint. Und wir haben ihm gesagt: ‚Lass sie in Ruhe!‘“ Eine dritte Quelle erinnerte sich gegenüber ROLLING STONE ebenfalls an den angeblichen Übergriff. (Die Frau, die im Mittelpunkt des angeblichen Angriffs stand, lehnte einen Kommentar ab.)

„Ich war jähzornig, deshalb nannten sie mich Puffy“ (Sean Combs)

Sean John Combs wurde schon ungeduldig geboren. Er erzählte dem „Jet Magazin“, dass er seinen Spitznamen als Kind bekam, weil er immer „huff and puff“ machte, also laut schnaufte, wenn er wütend war. „Ich war jähzornig. Deshalb fing mein Freund an, mich Puffy zu nennen“, sagte er. Seine Mutter, Janice, eine ehemalige Kindergärtnerin, beschrieb ihn als „Schinken“. Seinen Vater Melvin kannte Combs kaum; der gutaussehende Drogendealer, der für einen Gangboss in Harlem arbeitete, wurde 1972 im Alter von 33 Jahren ermordet, als Combs noch ein Kleinkind war. Im Laufe der Jahre trauerte Combs um den Verlust einer Vaterfigur, aber Melvin hatte dennoch einen großen Einfluss auf ihn: „Auch wenn wir unsere Eltern nicht kennen, haben wir ihre DNA in uns, wir haben ihre Gene“, sagte Combs. „Ich habe seine Abzocker-Mentalität, seinen Abzocker-Geist, seine Tatkraft, seine Entschlossenheit und seinen Schwung geerbt.“

Sean Combs mit seiner Mutter Janice im Jahr 2023

Als Janice mit der Familie von Harlem in den 12 Meilen nördlich gelegenen Vorort Mount Vernon zog, lebte Combs in zwei verschiedenen Welten. In der einen war er Defensive Back im Football-Team einer katholischen High School für Jungen. In der anderen Welt fuhr er mit dem Zug in die Stadt und tauchte dort in die aufkeimende HipHop-Szene ein. „Ich wusste nicht genau, was er tat, aber er hat mich mit seinem Mischpult, das ich ihm gekauft hatte als er 13 war, aus dem Haus gejagt , weil er diesen Lärm machte, diese Platten scratchte“, erzählte Janice 1993 dem Musikmagazin „Vibe“.

Combs wollte mehr. Er war wild entschlossen, in der Musikindustrie Fuß zu fassen, besuchte gleichzeitig das College und absolvierte ein Teilzeitpraktikum bei Uptown Records in New York City. Es war der damals schon bekannte Rapper Heavy D, ein Nachbar in Mount Vernon, der das Vorstellungsgespräch vermittelte. Combs habe den HipHop-Künstler wiederholt in der örtlichen Pizzeria bedrängt, erzählt der ehemalige A&R-Vizepräsident von Uptown, Kurt Woodley, dem ROLLING STONE. Nachdem Combs den Job hatte, pendelte er von der Howard Uni mit dem Zug und versteckte sich auf der Toilette vor dem Schaffner, um das Fahrgeld zu sparen. Schließlich brach er sein Studium ab, um Vollzeit bei Uptown zu arbeiten und wurde schließlich der Mentee von CEO Andre Harrell.

„Wir verhandelten nicht nur ihrem Plattenlabel. Wir verhandelten mit ihrem Missbraucher“ (Tiffany Red, Freundin von Cassie Ventura)

Combs‘ Aufstieg bei Uptown verlief rasant. Er verhalf den Newcomern Mary J. Blige und Jodeci zu Multi-Platin, verhalf ihnen zu einem neuen Image. Er erfand den Remix neu und führte den „HipHop-Soul“ in das popkulturelle Lexikon ein und veranstaltete exklusive „Daddy’s House“-Partys in dem inzwischen geschlossenen HipHop-Club „Red Zone“ in Manhattan. „Er hatte die Gabe, die Leute zu überzeugen, dass das, was er tat oder wo immer er war, der heiße Scheiß war“, sagt Dan Charnas, Autor von „The Big Payback: The History of the Business of HipHop“, dem ROLLING STONE. „Er verstand mehr als jeder andere, wie die Innovationen des HipHop – insbesondere das Sampling und die Verwendung klassischer Rap-Platten als Grundlage für R&B-Songs – eine ganze Generation prägen würden.“

Als Combs‘ Stern bei Uptown aufging, kamen auch seine dunklen Seiten wieder zum Vorschein, wie aus der Klage wegen sexueller Übergriffe hervorgeht, die Joi Dickerson-Neal im vergangenen November eingereicht hat. Dickerson-Neal spielte 1990 in einem Musikvideo an Combs Seite und wurde von der Bronx-Rapperin Sister Soulja gewarnt, sie solle „angesichts seines berüchtigten Rufs“ Abstand von ihm halten. (Sister Soulja antwortete nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.)

Dickerson-Neal sagt, sie habe „widerwillig“ einem Abendessen mit Combs im Januar 1991 zugestimmt. Damals war sie noch Studentin und finanzierte ihr Studium mit einem Restaurantjob. Weil sie nicht mit ihm alleine sein wollte, trafen sie sich dort zum Essen. Sie behauptet, Combs habe ihr etwas in ihr Getränk getan, als sie zur Toilette ging, und sie dann später dazu gedrängt, einen Zug von seiner Selbstgedrehten zu nehmen. Kurze Zeit später hätten sich ihre Beine „wie Gummi“ angefühlt. Combs habe sie in einem Nahe gelegenen Haus vergewaltigt. Sie behauptet auch, Combs habe den Angriff gefilmt und das Video anderen wie eine Trophäe gezeigt. (Über einen Anwalt stritt Combs die Anschuldigungen damals ab: „[Diese] 32 Jahre alte Geschichte ist erfunden und nicht glaubwürdig. Mr. Combs hat sie nie angegriffen.“ Combs‘ Anwälte haben beantragt, Teile der Klage abzuweisen, und bezeichneten die Behauptung als „falsch, beleidigend und anzüglich“.)

Sister Souljah (hier mit Will Smith) warnte Combs

Mike Nice Lewis, der mit Dickerson-Neal bei der kurzlebigen Plattenfirma PMD Records gearbeitet hat, erzählt dem ROLLING STONE, dass sie sich ihm über den angeblichen sexuellen Übergriff in den frühen 1990er Jahren anvertraut habe. Bei dem Gespräch in seinem Büro habe er damals Combs und das Label Bad Boy erwähnt und Dickerson-Neals Verhalten habe sich daraufhin schlagartig verändert. Lewis behauptet, sie habe ihm erzählt, dass sie eine „sehr schlechte sexuelle Erfahrung“ mit Combs gemacht habe. „Ich glaube Joi“, sagt er. „Ich wusste einfach aus dem, was sie mir erzählte, dass es sie immer noch beeinträchtigt war, sogar zwei Jahre danach“. Michelle Caiola, die Anwältin von Dickerson-Neal und einer weiteren Anklägerin, Crystal McKinney, fügt hinzu: „Das Ausmaß des nicht wiedergutzumachenden Schadens für die psychische Gesundheit und das Berufsleben [meiner Klienten] kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.“

Nur wenige Stunden, nachdem Dickerson-Neal ihre Klage eingereicht hatte, verklagte eine andere Frau Combs wegen Vergewaltigung. Liza Gardner behauptet, sie sei 1990 16 Jahre alt gewesen, als sie und eine Freundin Combs und den R’n‘B-Sänger und Songwriter Aaron Hall bei einer Veranstaltung von MCA Records in Manhattan kennenlernten. Gardner behauptet, die Männer seien „sehr kokett und handgreiflich“ gewesen, hätten die Mädchen mit Getränken versorgt und sie zu einer „Afterparty“ in Halls Haus eingeladen. Sie behauptet, Combs habe ihr in Halls Haus in New Jersey mehr Alkohol angeboten und sie trotz ihrer Proteste zum Sex gezwungen. Während sie noch „geschockt und traumatisiert“ war und versuchte, sich anzuziehen, soll Hall „in den Raum gestürmt sein, sie festgenagelt“ und sie ebenfalls vergewaltigt haben. Gardner behauptet, ein „wütender“ Combs sei später bei ihr aufgetaucht und habe begonnen, sie zu würgen, bis sie fast „ohnmächtig“ wurde. Combs habe offenbar befürchtet, die Frauen würden seiner Freundin erzählen, „was er und Hall getan hatten“, heißt es in der Klage.

„Möglicherweise habe ich Dinge getan, die ein Arschloch tun würde“ (Sean Combs)

Das Anwaltsteam von Combs wies Gardners Anschuldigungen zurück und nannte sie eine „Geldschneiderei“. Aber eine andere Frau, die sagt, dass sie in der Nacht des angeblichen Angriffs mit Gardner zusammen war, bestätigte viele Details von Gardners Klage in einer eidesstattlichen Erklärung. Die Frau, die die jüngere Schwester des in Gardners Klage erwähnten Freundes ist, sagte, sie habe ein Foto von sich mit Gardner und Hall von dem fraglichen Abend. Sie erinnerte sich, dass sie verzweifelt in Halls Wohnung nach ihrer Schwester und Gardner suchte, nachdem diese mit Combs und Hall verschwunden waren. Die damals 15-Jährige sagte, sie sei in ein Zimmer gegangen und habe einen Mann gesehen, der beobachtete, „was Puffy mit Liza machte“. Die Frau schrieb, sie sei am nächsten Morgen an einem anderen Ort aufgewacht, wo ein „aufgebrachter“ Gardner sagte, Combs sei gerade dort aufgetaucht und habe sie „gewürgt“. (Hall reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.)

Theo Wargo Getty Images for MTV
John Nacion WireImage
Gilbert Carrasquillo FilmMagic
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