Sean Combs: Die Akte Bad Boy – die Geschichte seiner Gewalttätigkeit

In einer monatelangen Recherche trug der US-amerikanische ROLLING STONE die Akte Sean Combs zusammen.

Sechs Monate Recherche, mehr als 50 Interviews

Während die Razzien weltweit für Schlagzeilen sorgten, war das laute Schweigen Combs‘ berühmter Freunde umso deutlicher. Es fühlte sich anders an als früher, als er ein Scheckbuch, einen hochkarätigen Anwalt und den Medienrummel nutzen konnte, um Auseinandersetzungen mit dem Gesetz zu überstehen; als sein Charisma, sein Einfluss und seine Verbindungen es ihm ermöglichten, Gewaltvorwürfe oder den Protest seiner entrechteten Künstler abzuschütteln. „Die Wiedergutmachung rückt immer näher“, sagte der ehemalige Bad-Boy-Künstler Mase einen Tag nach den Razzien, „the big payback.“

In den vergangenen sechs Monaten führte ROLLING STONE Dutzende von Interviews mit Combs‘ ehemaligen Freunden, Bekannten, Angestellten und Bad-Boy-Künstlern sowie mit Brancheninsidern. Von den über 300 Personen, die für diese Untersuchung kontaktiert wurden, waren mehr als 50 bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Einige wollten dies nur inoffiziell tun, da sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hatten. (Einige verlangten eine Entschädigung im Tausch für ihre Geschichten, aber ROLLING STONE zahlt nicht für Interviews.) Viele lehnten Gespräche ab, weil sie sich von Combs fernhalten wollen. „Ich versuche, diesen Teil meines Lebens hinter mir zu lassen“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter.

Diejenigen, die über Combs gesprochen haben, beschreiben einen komplizierten Mann mit gegensätzlichen Persönlichkeiten. Zum einen sehen sie einen Popkultur-Mogul, der unermüdlich, großzügig und jovial, manchmal sogar albern ist. Auch privat kann er so sein, aber Mitarbeiter, die ihm nahe genug kamen, entdeckten etwas Dunkleres hinter der Fassade: eine bedrohliche Figur, die verzweifelt akzeptiert und bewundert werden will, die öffentliche Ergebenheitsbekundungen, großspurige Spenden, Prahlerei und die Selbstdarstellung als „Brother Love“ benutzt, um eine Unterströmung von mutmaßlichem Missbrauch und Gewalt zu verbergen, die – in einer bisher nicht veröffentlichten Anschuldigung – bis in die Zeit vor Beginn seiner Karriere zurückreichen soll. So soll er Mitarbeiter geschickt haben, um seine frühere Freundin Jennifer Lopez zurückzugewinnen, einen Manager seines Labels blutig geschlagen haben, nachdem dieser sich mit Combs‘ Ex-Partnerin Kim Porter eingelassen hatte, und angeblich versucht haben, eine Frau auf seiner Gehaltsliste zum Sex zu bewegen.

Im Rahmen dieser Recherche schickte ROLLING STONE Combs eine detaillierte Liste mit Fragen zu den neuen und noch ausstehenden Anschuldigungen zu. Er ging auf keine von ihnen speziell ein. „Mr. Combs kann sich nicht zu beigelegten Rechtsstreitigkeiten äußern, wird sich nicht zu anhängigen Rechtsstreitigkeiten äußern und kann sich nicht zu jeder Behauptung äußern, die von der Presse aus irgendeiner Quelle aufgegriffen wird, egal wie unzuverlässig sie ist“, sagt sein Anwalt Jonathan Davis gegenüber ROLLING STONE. „Wir sind uns bewusst, dass die zuständigen Behörden eine gründliche Untersuchung durchführen und haben daher Vertrauen, dass alle wichtigen Fragen im richtigen Forum angesprochen werden, wo die Regeln Fakten von Fiktion unterscheiden.“

Joi Dickerson-Neal, die Combs wegen sexueller Nötigung verklagt, erklärt gegenüber ROLLING STONE, dass es bei ihrer Entscheidung, sich zu Wort zu melden, „nicht um Geld geht. Es geht darum, sicherzustellen, dass die Welt sieht, dass dieser Mann, der zu einer ‚Ikone‘ aufgestiegen ist, tatsächlich krank ist und viele Opfer im Kielwasser seines jahrelangen, ungestraften, widerlichen Verhaltens hinterlassen hat.“

„Es geht darum, dass dieser Mann tatsächlich krank ist“ (Joi Dickerson-Neal)

Für Ventura war Combs ihr zwar auffälliger, aber etablierter 37-jähriger Label-Chef, als er sie an ihrem 21. Geburtstag im Jahr 2007 in ein Badezimmer zerrte und sie gewaltsam küsste, so dass sie in Tränen ausbrach, wie es in ihrer Klage heißt. Sie sagt, er habe die Schlüssel zu ihrer gerade erst aufkeimenden Musikkarriere in der Hand gehabt, als er sie im selben Jahr dazu gedrängt habe, Drogen zu konsumieren und Sex mit ihm zu haben. Combs habe sich schnell in jeden Aspekt ihres Lebens eingemischt, ihre Wohnung bezahlt, sich ihre medizinischen Unterlagen direkt zuschicken lassen und habe bei vermeintlichen Kränkungen um sich geschlagen, so die Klage. Als Ventura versucht habe ihn zu verlassen und 2011 eine kurze romantische Beziehung mit dem Musiker Kid Cudi hatte, soll Combs sie geschlagen haben. Später erzählte Combs Ventura, dass er vorhabe, das Auto des Rappers in seiner Einfahrt in die Luft zu jagen, heißt es in der Klageschrift. In einer Erklärung gegenüber der „New York Times“ bestätigte Cudi, dass sein Auto explodiert sei. „Das ist alles wahr“, sagte er.

In Venturas Klageschrift heißt es, sie habe gelernt, sich Combs „blind“ zu unterwerfen, um „bösartige Schläge“ zu vermeiden. Combs befahl ihr, sich mit Öl einzureiben, sich zu betrinken und Geschlechtsverkehr mit männlichen Sexarbeitern zu haben, während Combs sich selbst befriedigte und die Interaktionen filmte, die er als „Freak-Offs“ bezeichnete. Sie habe gelernt, sich „während dieser schrecklichen Begegnungen zu distanzieren“, sagt sie.

Mit dem von CNN veröffentlichten Überwachungsvideo wurde für alle sichtbar, wie Combs Ventura behandelte. Darin ist er nur mit einem Handtuch bekleidet zu sehen, wie er die vor ihm fliehende Ventura durch den Hotelflur verfolgt und zu Boden wirft. Dann tritt er die am Boden liegende zweimal und zerrt sie an der Kapuze ihres Hoodies über den Boden, versucht Ventura zurück in das Hotelzimmer zu schleifen. Zuvor soll er ihr angeblich ins Gesicht geschlagen haben, was auf dem Video nicht zu sehen ist. Eine andere Einstellung zeigt, wie Combs etwas, das wie eine Vase aussieht, von einem Tisch nimmt und in ihre Richtung schleudert. Ventura beschreibt den Vorfall in ihrer Klage und behauptet, dass Combs dem Hotel 50.000 Dollar für die Aushändigung des Filmmaterials gezahlt zu habe.

Mary J. Blige, Modedesigner Sean Combs und Cassie Ventura bei der Gala „Heavenly Bodies: Fashion & The Catholic Imagination“ im Metropolitan Museum of Art am 7. Mai 2018 in New York City. (

„Nach Jahren des Schweigens und der Dunkelheit bin ich endlich bereit, meine Geschichte zu erzählen und mich für mich selbst und andere Frauen einzusetzen, die in ihren Beziehungen mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert sind“, sagt Ventura in einer Erklärung zu ihrer Klage. „Dies war eine Gelegenheit, über das Trauma zu sprechen, das ich erlebt habe und von dem ich mich für den Rest meines Lebens erholen werde.“

mp/atz
Taylor Jewell Getty Images for Vogue
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