Sean Combs: Die Akte Bad Boy – die Geschichte seiner Gewalttätigkeit
In einer monatelangen Recherche trug der US-amerikanische ROLLING STONE die Akte Sean Combs zusammen.
Jahrzehntelang war Sean „Diddy“ Combs der krasse und erfolgreichste Showman des HipHop. Jetzt behaupten Dutzende ehemaliger Freunde, Angestellter und Künstler, dass sich hinter der Fassade eine missbräuchliche, bedrohliche Figur verbirgt.
Als er die Bühne betrat, um den Preis für sein Lebenswerk entgegenzunehmen, war Sean „Diddy“ Combs überglücklich. „Yeah, yeah, yeah, yeah, yeah, yeah, yeah, yeah, yeah!“, brüllte er und unterstrich seine Worte mit triumphalen Sprüngen. Das war im Juni 2022 bei den BET Awards, einem der wichtigsten Entertainment-Preise in den USA. Unter den Bewunderern, die ihn mit stehenden Ovationen bedachten, waren seine Mutter und seine Kinder, langjährige Freunde und Branchenkollegen wie Kanye West, Janelle Monáe, Babyface und Lil Wayne. Nach drei Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit, in denen er sich vom hungrigen Teenager-Praktikanten zum A&R-Manager, Produzenten, Label-Impresario, angesehenen Modedesigner und bekannten Markennamen hochgearbeitet hatte, war Diddy scheinbar am Höhepunkt seiner Karriere angelangt.
Er schloss seine Augen und dankte Gott. Er ging auf die Knie und lobte seine Mutter. Er nannte eine lange Liste von Menschen, die ihn beraten und inspiriert hätten. „Alles, was ich tue, geschieht aus Liebe“, verkündete Combs zu Beginn seiner neunminütigen Rede. „Das ist es, wozu ich mich entwickelt habe, und das ist es, was ich im Moment tue.“
Doch dann schlug Combs einen düsteren Ton an. „Ich war ein paar Jahre lang an einem dunklen Ort“, sagte er. „Ich muss mich vor allem bei den Leuten bedanken, die wirklich für mich da waren.“ Er zählte Freunde und Berater auf. Dann, direkt in die Kamera blickend, fügte er hinzu: „Cassie, dafür, dass du mir in den dunklen Zeiten Halt gegeben hast. In Liebe.“ Er hob eine Hand, um ein „L“-Zeichen zu machen, und hielt seinen Blick mehrere Sekunden lang schweigend in die Kamera.
Combs und Casandra „Cassie“ Ventura, eine ehemalige Sängerin seines Plattenlabels Bad Boy, hatten sich vier Jahre zuvor getrennt. Aber seitdem postete er Fotos von ihr im Internet oder forderte sie auf, sich Michael Jacksons „The Lady in My Life“ anzuhören. Er gratulierte ihr öffentlich zu ihrer ersten Schwangerschaft mit ihrem Mann. Seine Kommentare bei der Preisverleihung waren Teil eines Verhaltensmusters, das Ventura schon seit Jahren quälte. Als sie vom Auftritt und der Rede ihres Ex erfuhr, sein Ventura verzweifelt gewesen, so heißt es. Aber sie war auch entschlossen.
„Alles, was ich tue, geschieht aus Liebe“ (Sean Combs)
Fast 18 Monate später, im November 2023, verklagte Cassie Ventura Sean Combs und behauptete, er habe sie während ihrer Beziehung in einer gewalttätigen Form sexueller Knechtschaft gehalten und sie bei ihrer endgültigen Trennung im Jahr 2018 vergewaltigt. In ihrer Klageschrift spielte sie auf Combs‘ BET-Rede an: „Für Ms. Ventura waren die ‚dunklen Zeiten‘ diejenigen, die sie damit verbrachte, von Mr. Combs in einem Kreislauf von Missbrauch, Gewalt und Sexhandel gefangen zu sein.“ Sie sagte, Combs‘ brutale Schläge – einer in einem erschütternden Hotelüberwachungsvideo festgehalten, das CNN im Mai zugespielt wurde – hinterließen bei ihr blaue Flecken, aufgeplatzte Lippen, Veilchen und ein schweres Trauma.
Für die mit einem Grammy ausgezeichnete Songwriterin Tiffany Red, eine Freundin von Ventura, die während des Höhepunkts des angeblichen Missbrauchs eng mit dem Sänger zusammenarbeitete, waren Combs‘ Worte auf der BET-Bühne reiner Hohn. „Es ist wie Belästigung“, erklärt sie. „Ihr verarscht sie immer noch – lasst sie in Ruhe. Lass sie verdammt noch mal in Ruhe.“
In den fünf Jahren nach ihrer Trennung von Combs schwieg Ventura. Während er 2019 über ihre Schwangerschaft postete, habe sie „notgedrungen“ hinter den Kulissen verhandelt, um ihrem Bad-Boy-Vertrag zu entkommen, berichtet Red. (Obwohl Ventura 2006 einen Vertrag über 10 Alben unterzeichnete, veröffentlichte Bad Boy nur ein einziges Studioalbum von ihr.) Combs habe angeblich versucht, ihre Trennungsvereinbarung mit einer Schweigeklausel zu verknüpfen. „Es ist nicht so, dass wir nur mit ihrer Plattenfirma verhandelt haben“, sagt Red. „Wir verhandelten mit ihrem Missbraucher.“ (Ventura lehnte es über ihren Anwalt ab, für diesen Artikel zu sprechen. Combs reagierte nicht auf eine Anfrage nach einem Kommentar zu dieser Anschuldigung.)
Irgendwann begab sich Ventura in ein Rehabilitationszentrum, um mit den „physischen und psychischen Auswirkungen“ ihrer Zeit mit Combs fertig zu werden. Erst die Mutterschaft habe ihr einen neuen Lebenssinn gegeben, heißt es in der Klageschrift. Als Ventura schließlich wieder zu Kräften kam und sich an die Öffentlichkeit wandte, folgten eine Reihe weiterer Klagen. Fünf weitere Frauen haben Combs seit 1990 der Vergewaltigung oder gewalttätigen sexuellen Übergriffe beschuldigt – zwei von ihnen behaupten, Combs habe ihre sexuellen Begegnungen heimlich aufgezeichnet und die Aufnahmen ohne ihre Zustimmung anderen gezeigt. Der Musikproduzent Rodney „Lil Rod“ Jones verklagte Combs ebenfalls und behauptete, der Erfolgsproduzent habe seine Genitalien betatscht und ihn gezwungen, „Sexarbeiterinnen anzuwerben und zum Vergnügen von Mr. Combs sexuelle Handlungen durchzuführen“.
Während Combs schließlich die Verantwortung für den auf einem Überwachungsvideo festgehaltenen Übergriff übernahm, hat er alle anderen Anschuldigungen gegen ihn vehement bestritten. An dem Tag, an dem Ventura ihre Klage einreichte, bezeichnete er sie als Erpressung, die auf „unverschämten Lügen“ basiere. „In den vergangenen sechs Monaten war Mr. Combs der hartnäckigen Forderung von Frau Ventura nach 30 Millionen Dollar ausgesetzt, unter der Drohung, ein schädliches Buch über ihre Beziehung zu schreiben, was eindeutig als unverhohlene Erpressung zurückgewiesen wurde“, verlautbarte sein Anwalt Ben Brafman. Daraufhin sagte Venturas Anwalt Douglas Wigdor, dass Combs „Frau Ventura eine achtstellige Summe angeboten hat, um sie zum Schweigen zu bringen und die Einreichung dieser Klage zu verhindern.“ Die Parteien einigten sich innerhalb von 24 Stunden nach Venturas Klageerhebung auf eine ungenannte Summe.
Als ein viertes mutmaßliches Opfer im Dezember eine Vergewaltigungsklage einreichte, gab der 54-jährige Musiker ein weiteres leidenschaftliches Dementi ab: „Genug ist genug. In den letzten Wochen habe ich stillschweigend zugesehen, wie Leute versucht haben, meinen Charakter infrage zu stellen, meinen Ruf und mein Vermächtnis zu zerstören. Es wurden widerwärtige Behauptungen gegen mich aufgestellt, von Personen, die auf einen schnellen Zahltag aus waren. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Ich habe nichts von den schrecklichen Dingen getan, die mir vorgeworfen werden. Ich werde für meinen Namen, meine Familie und für die Wahrheit kämpfen.“
Viele Menschen waren durch die heftigen Anschuldigungen gegen Combs erschüttert, auch weil er als solventer Lebemann, der die besten Partys von New York City bis nach Hollywood schmiss, längst zu so einer echten Größe aufgestiegen war. Er ist eine wichtige Figur der Popkultur, der in Saint-Tropez unter einem Sonnenschirm spazieren geht, gehalten von seinem schrulligen Kammerdiener Fonzworth Bentley, und auf der Met Gala in einem mit Swarovski-Kristallen besetzten Smoking und einem bodenlangen Umhang auftaucht. Er rappte über Bentleys und Benjamins und hielt Hof auf seinen überbordenden White Partys, die von Leonardo DiCaprio, Beyoncé, Mariah Carey und Martha Stewart besucht wurden. Er nannte sich selbst den Großen Gatsby und betrachtete den republikanischen Politiker und Zirkusdirektor P.T. Barnum, eine exzentrische Figur des 19. Jahrhunderts, als seine „Muse“.
Doch nun wird das Rampenlicht, dem Combs ständig hinterherjagte, auf seine angeblichen Verbrechen gelenkt. Am 25. März stürmten schwer bewaffnete Polizisten im Rahmen einer bundesweiten Sexhandel-Razzia seine weitläufigen Anwesen in Los Angeles und Miami. Die Ermittler durchwühlten seine Büros und Schlafzimmer, ließen Kabel aus einer Kommandozentrale baumeln und mehrere Safes offenstehen. Drei glänzende Grammys und ein Oscar blieben auf einer ausgeweideten Konsole wie Relikte eines zerfallenden Fürstentums zurück. Ein sichtlich niedergeschlagener Combs wurde später am Flughafen von Miami beobachtet, wie er alleine, ein Handy nutzlos in der Hand, langsam durch die Gänge schlurfte. Seinen Urlaub auf den Bahamas musste Combs streichen, seine wehrburghaften Häuser wurden aufgebrochen, seine erwachsenen Söhne in Handschellen abgeführt. Combs Imperium stand auf der Kippe.
Sechs Monate Recherche, mehr als 50 Interviews
Während die Razzien weltweit für Schlagzeilen sorgten, war das laute Schweigen Combs‘ berühmter Freunde umso deutlicher. Es fühlte sich anders an als früher, als er ein Scheckbuch, einen hochkarätigen Anwalt und den Medienrummel nutzen konnte, um Auseinandersetzungen mit dem Gesetz zu überstehen; als sein Charisma, sein Einfluss und seine Verbindungen es ihm ermöglichten, Gewaltvorwürfe oder den Protest seiner entrechteten Künstler abzuschütteln. „Die Wiedergutmachung rückt immer näher“, sagte der ehemalige Bad-Boy-Künstler Mase einen Tag nach den Razzien, „the big payback.“
In den vergangenen sechs Monaten führte ROLLING STONE Dutzende von Interviews mit Combs‘ ehemaligen Freunden, Bekannten, Angestellten und Bad-Boy-Künstlern sowie mit Brancheninsidern. Von den über 300 Personen, die für diese Untersuchung kontaktiert wurden, waren mehr als 50 bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Einige wollten dies nur inoffiziell tun, da sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hatten. (Einige verlangten eine Entschädigung im Tausch für ihre Geschichten, aber ROLLING STONE zahlt nicht für Interviews.) Viele lehnten Gespräche ab, weil sie sich von Combs fernhalten wollen. „Ich versuche, diesen Teil meines Lebens hinter mir zu lassen“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter.
Diejenigen, die über Combs gesprochen haben, beschreiben einen komplizierten Mann mit gegensätzlichen Persönlichkeiten. Zum einen sehen sie einen Popkultur-Mogul, der unermüdlich, großzügig und jovial, manchmal sogar albern ist. Auch privat kann er so sein, aber Mitarbeiter, die ihm nahe genug kamen, entdeckten etwas Dunkleres hinter der Fassade: eine bedrohliche Figur, die verzweifelt akzeptiert und bewundert werden will, die öffentliche Ergebenheitsbekundungen, großspurige Spenden, Prahlerei und die Selbstdarstellung als „Brother Love“ benutzt, um eine Unterströmung von mutmaßlichem Missbrauch und Gewalt zu verbergen, die – in einer bisher nicht veröffentlichten Anschuldigung – bis in die Zeit vor Beginn seiner Karriere zurückreichen soll. So soll er Mitarbeiter geschickt haben, um seine frühere Freundin Jennifer Lopez zurückzugewinnen, einen Manager seines Labels blutig geschlagen haben, nachdem dieser sich mit Combs‘ Ex-Partnerin Kim Porter eingelassen hatte, und angeblich versucht haben, eine Frau auf seiner Gehaltsliste zum Sex zu bewegen.
Im Rahmen dieser Recherche schickte ROLLING STONE Combs eine detaillierte Liste mit Fragen zu den neuen und noch ausstehenden Anschuldigungen zu. Er ging auf keine von ihnen speziell ein. „Mr. Combs kann sich nicht zu beigelegten Rechtsstreitigkeiten äußern, wird sich nicht zu anhängigen Rechtsstreitigkeiten äußern und kann sich nicht zu jeder Behauptung äußern, die von der Presse aus irgendeiner Quelle aufgegriffen wird, egal wie unzuverlässig sie ist“, sagt sein Anwalt Jonathan Davis gegenüber ROLLING STONE. „Wir sind uns bewusst, dass die zuständigen Behörden eine gründliche Untersuchung durchführen und haben daher Vertrauen, dass alle wichtigen Fragen im richtigen Forum angesprochen werden, wo die Regeln Fakten von Fiktion unterscheiden.“
Joi Dickerson-Neal, die Combs wegen sexueller Nötigung verklagt, erklärt gegenüber ROLLING STONE, dass es bei ihrer Entscheidung, sich zu Wort zu melden, „nicht um Geld geht. Es geht darum, sicherzustellen, dass die Welt sieht, dass dieser Mann, der zu einer ‚Ikone‘ aufgestiegen ist, tatsächlich krank ist und viele Opfer im Kielwasser seines jahrelangen, ungestraften, widerlichen Verhaltens hinterlassen hat.“
„Es geht darum, dass dieser Mann tatsächlich krank ist“ (Joi Dickerson-Neal)
Für Ventura war Combs ihr zwar auffälliger, aber etablierter 37-jähriger Label-Chef, als er sie an ihrem 21. Geburtstag im Jahr 2007 in ein Badezimmer zerrte und sie gewaltsam küsste, so dass sie in Tränen ausbrach, wie es in ihrer Klage heißt. Sie sagt, er habe die Schlüssel zu ihrer gerade erst aufkeimenden Musikkarriere in der Hand gehabt, als er sie im selben Jahr dazu gedrängt habe, Drogen zu konsumieren und Sex mit ihm zu haben. Combs habe sich schnell in jeden Aspekt ihres Lebens eingemischt, ihre Wohnung bezahlt, sich ihre medizinischen Unterlagen direkt zuschicken lassen und habe bei vermeintlichen Kränkungen um sich geschlagen, so die Klage. Als Ventura versucht habe ihn zu verlassen und 2011 eine kurze romantische Beziehung mit dem Musiker Kid Cudi hatte, soll Combs sie geschlagen haben. Später erzählte Combs Ventura, dass er vorhabe, das Auto des Rappers in seiner Einfahrt in die Luft zu jagen, heißt es in der Klageschrift. In einer Erklärung gegenüber der „New York Times“ bestätigte Cudi, dass sein Auto explodiert sei. „Das ist alles wahr“, sagte er.
In Venturas Klageschrift heißt es, sie habe gelernt, sich Combs „blind“ zu unterwerfen, um „bösartige Schläge“ zu vermeiden. Combs befahl ihr, sich mit Öl einzureiben, sich zu betrinken und Geschlechtsverkehr mit männlichen Sexarbeitern zu haben, während Combs sich selbst befriedigte und die Interaktionen filmte, die er als „Freak-Offs“ bezeichnete. Sie habe gelernt, sich „während dieser schrecklichen Begegnungen zu distanzieren“, sagt sie.
Mit dem von CNN veröffentlichten Überwachungsvideo wurde für alle sichtbar, wie Combs Ventura behandelte. Darin ist er nur mit einem Handtuch bekleidet zu sehen, wie er die vor ihm fliehende Ventura durch den Hotelflur verfolgt und zu Boden wirft. Dann tritt er die am Boden liegende zweimal und zerrt sie an der Kapuze ihres Hoodies über den Boden, versucht Ventura zurück in das Hotelzimmer zu schleifen. Zuvor soll er ihr angeblich ins Gesicht geschlagen haben, was auf dem Video nicht zu sehen ist. Eine andere Einstellung zeigt, wie Combs etwas, das wie eine Vase aussieht, von einem Tisch nimmt und in ihre Richtung schleudert. Ventura beschreibt den Vorfall in ihrer Klage und behauptet, dass Combs dem Hotel 50.000 Dollar für die Aushändigung des Filmmaterials gezahlt zu habe.
„Nach Jahren des Schweigens und der Dunkelheit bin ich endlich bereit, meine Geschichte zu erzählen und mich für mich selbst und andere Frauen einzusetzen, die in ihren Beziehungen mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert sind“, sagt Ventura in einer Erklärung zu ihrer Klage. „Dies war eine Gelegenheit, über das Trauma zu sprechen, das ich erlebt habe und von dem ich mich für den Rest meines Lebens erholen werde.“
Als Venturas vernichtende Anschuldigungen drohten, an die Öffentlichkeit zu gelangen, verfolgte Combs laut Jones, der mehrere Songs auf Combs‘ für den Grammy nominiertem „The Love Album“ aus dem Jahr 2023 produzierte, bereits eine Gegen-Strategie. „Er legte detailliert dar, wie er seine Beziehung zu Bischof T.D. Jakes nutzen wollte, um die Auswirkungen auf sein öffentliches Image zu mildern“, schrieb Jones in einer eidesstattlichen Erklärung im April. (Jakes antwortete nicht auf eine Anfrage nach einem Kommentar.) Combs übertrieb es dann geradezu mit positiver Eigenwerbung: Er erfüllte seine 1-Million-Dollar-Zusagen an seine Alma Mater, die Howard University, und an das Football-Programm einer anderen bekannten Schwarzen Universität, der Jackson State University. Er gründete „Empower Global“, eine E-Commerce-Plattform für Schwarze Unternehmer. Und mit der Veröffentlichung seines neuen Albums kündigte er an, dass er den Bad-Boy-Künstlern und -Songschreibern ihre Veröffentlichungsrechte zurückgeben würde. (Einige Künstler bestätigen, dass ihnen die Rechte tatsächlich zurückgegeben wurden; Popsängerin Aubrey O’Day von Danity Kane sagte, sie habe abgelehnt, weil ihr Angebot mit einer obligatorischen Geheimhaltungsvereinbarung verbunden war.) Ein Jahr vor ihrer Trennung von Combs hatte Ventura einen Kurzfilm mit dem Titel „Cassie“ produziert, der im Nachhinein vielsagend erscheint. Eine Off-Stimme, die über die fiktive Romanze des Films spricht, sagt: „Wie schafft man es, einfach wegzugehen und zu entkommen? Ich will bloß frei sein.“
„Puff is out here acting crazy. He’s beating her“
Die Sicherheitsaufnahmen des Hotels lösten weltweit Entsetzen aus. Combs sah sich zu einem Schuldeingeständnis gezwungen, das aber nur auf diesen einen Vorfall zugeschnitten war: „Ich war am Arsch. Ich habe den Tiefpunkt erreicht und ich entschuldige mich nicht… ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln in diesem Video. Ich bin angewidert.“ Er behauptete, er sei in Therapie und in Reha gegangen und es tue ihm „wirklich leid“. (Venturas Anwälte kommentierten, Combs‘ Entschuldigung zeige „seine erbärmliche Verzweiflung“.)
Viele, die das Filmmaterial des Angriffs sahen, waren fassungslos – selbst diejenigen, die Combs seit Jahren kannten. LaJoyce Brookshire, die frühere Publicity-Chefin der Labels Arista und Bad Boy, sagt, sie sei bestürzt gewesen, als sie erfuhr, „dass solche Handlungen stattgefunden haben könnten … und dass Puffy mir am nächsten Tag mit ernster Miene gegenübertreten konnte. Das erschüttert mich zutiefst.“ Mehrere Frauen, die mit Combs auf der Howard University waren, wollen jedoch schon vor Jahrzehnten Anzeichen für eine kontrollierende und missbräuchliche Persönlichkeit erkannt haben.
Combs kam im Herbst 1987 an die angesehene Privat-Uni und erwarb sich schnell den Ruf, rauschende Partys zu veranstalten. Er war extravagant und ungestüm und wurde oft dabei gesehen, wie er mit seinem Cabrio über den Campus fuhr und Flyer verteilte. Obwohl er die Universität nach seinem zweiten Studienjahr verließ, war die Howard University eine Art Startrampe für seine Unternehmungen, hier tat er sich mit den zukünftigen Label-Managern und Produzenten Harve Pierre, Mark Pitts und Deric „D-Dot“ Angelettie zusammen, allesamt Schlüsselfiguren für den frühen Erfolg von Bad Boy.
Shante Paige, eine ehemalige A&R-Führungskraft bei Universal Motown, gehört zu denen, die sagen, dass sie damals positive Erfahrungen mit Combs gemacht haben. Combs sei von Anfang an ein „Draufgänger“ gewesen, sagt sie, „immer auf dem Laufenden“. Bei seinen „kultigen“ Partys habe eine „einmalige Stimmung“ geherrscht.
Andere Frauen berichteten von unerwünschten Berührungen und Wutausbrüchen. Eine Frau sagt, sie habe sich „so weit wie möglich entfernt“, nachdem Combs ohne Vorwarnung ihren Rücken gestreichelt und sie gefragt habe, ob sie sich mit einem seiner Freunde treffen wolle. Eine andere ehemalige Studentin erinnerte sich, dass Combs „aus der Haut fuhr“, nachdem sie ihm widersprochen hatte.
Diese Momente mögen unbedeutend erscheinen, aber sie lassen etwas aufblitzen, das sich bald entladen würde. Ein dritter ehemaliger Student erinnert sich, wie der zukünftige Rap-Mogul an ein Fenster des Seminarraums klopfte, um eine Freundin zum Schwänzen zu bewegen. Seine Besuche seien ihr merklich unwillkommen gewesen, erzählt der Mitschüler dem ROLLING STONE. „Sie verkrampfte, wenn Combs auftauchte“, erinnert sich der Student, der im Seminar neben der Frau saß. „Er hatte ein seltsames Kontrollbedürfnis. Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst hatte.“
Die betroffene Mitstudentin, die aus Angst vor Repressalien um Anonymität bat, erzählt, dass sich ihre Befürchtungen bestätigten, als Combs vor dem Wohnheim der Hochschule auftauchte und anfing, „angriffslustig“ nach seiner Freundin zu schreien, dass sie herauskommen soll. Die Mitstudentin erzählt, dass bald darauf andere Frauen durch die Flure rannten und panisch an die Türen klopften. Sie schlugen Alarm, weil Combs, der damals schon unter seinem Spitznamen „Puff“ bekannt war, die junge Frau draußen angriff, erinnert sie sich. Die Studentinnen hätten gerufen: „Puff ist hier draußen und spielt verrückt. Er schlägt sie“, so die ehemalige Kommilitonin. „Er schrie und brüllte und benahm sich wie ein Vollidiot, bis sie die Treppe herunterkam“, erzählt eine andere Howard-Studentin, die Zeuge des angeblichen Angriffs war, dem ROLLING STONE. Sie sagt, Combs habe etwas benutzt, das wie ein Gürtel aussah, um die junge Frau „überall hin zu schlagen“. Die Zeugin, die anonym bleiben wollte, berichtete, Combs sei „super wütend“ gewesen und habe „sehr laut geschrien“. Sie sagt, er habe ihr „den Hintern versohlt – so richtig den Hintern versohlt“. Die Zeugin sagt, die Frau sei eindeutig terrorisiert worden: „Sie hat versucht, sich ein bisschen zu wehren. Sie hat geweint. Und wir haben ihm gesagt: ‚Lass sie in Ruhe!‘“ Eine dritte Quelle erinnerte sich gegenüber ROLLING STONE ebenfalls an den angeblichen Übergriff. (Die Frau, die im Mittelpunkt des angeblichen Angriffs stand, lehnte einen Kommentar ab.)
„Ich war jähzornig, deshalb nannten sie mich Puffy“ (Sean Combs)
Sean John Combs wurde schon ungeduldig geboren. Er erzählte dem „Jet Magazin“, dass er seinen Spitznamen als Kind bekam, weil er immer „huff and puff“ machte, also laut schnaufte, wenn er wütend war. „Ich war jähzornig. Deshalb fing mein Freund an, mich Puffy zu nennen“, sagte er. Seine Mutter, Janice, eine ehemalige Kindergärtnerin, beschrieb ihn als „Schinken“. Seinen Vater Melvin kannte Combs kaum; der gutaussehende Drogendealer, der für einen Gangboss in Harlem arbeitete, wurde 1972 im Alter von 33 Jahren ermordet, als Combs noch ein Kleinkind war. Im Laufe der Jahre trauerte Combs um den Verlust einer Vaterfigur, aber Melvin hatte dennoch einen großen Einfluss auf ihn: „Auch wenn wir unsere Eltern nicht kennen, haben wir ihre DNA in uns, wir haben ihre Gene“, sagte Combs. „Ich habe seine Abzocker-Mentalität, seinen Abzocker-Geist, seine Tatkraft, seine Entschlossenheit und seinen Schwung geerbt.“
Als Janice mit der Familie von Harlem in den 12 Meilen nördlich gelegenen Vorort Mount Vernon zog, lebte Combs in zwei verschiedenen Welten. In der einen war er Defensive Back im Football-Team einer katholischen High School für Jungen. In der anderen Welt fuhr er mit dem Zug in die Stadt und tauchte dort in die aufkeimende HipHop-Szene ein. „Ich wusste nicht genau, was er tat, aber er hat mich mit seinem Mischpult, das ich ihm gekauft hatte als er 13 war, aus dem Haus gejagt , weil er diesen Lärm machte, diese Platten scratchte“, erzählte Janice 1993 dem Musikmagazin „Vibe“.
Combs wollte mehr. Er war wild entschlossen, in der Musikindustrie Fuß zu fassen, besuchte gleichzeitig das College und absolvierte ein Teilzeitpraktikum bei Uptown Records in New York City. Es war der damals schon bekannte Rapper Heavy D, ein Nachbar in Mount Vernon, der das Vorstellungsgespräch vermittelte. Combs habe den HipHop-Künstler wiederholt in der örtlichen Pizzeria bedrängt, erzählt der ehemalige A&R-Vizepräsident von Uptown, Kurt Woodley, dem ROLLING STONE. Nachdem Combs den Job hatte, pendelte er von der Howard Uni mit dem Zug und versteckte sich auf der Toilette vor dem Schaffner, um das Fahrgeld zu sparen. Schließlich brach er sein Studium ab, um Vollzeit bei Uptown zu arbeiten und wurde schließlich der Mentee von CEO Andre Harrell.
„Wir verhandelten nicht nur ihrem Plattenlabel. Wir verhandelten mit ihrem Missbraucher“ (Tiffany Red, Freundin von Cassie Ventura)
Combs‘ Aufstieg bei Uptown verlief rasant. Er verhalf den Newcomern Mary J. Blige und Jodeci zu Multi-Platin, verhalf ihnen zu einem neuen Image. Er erfand den Remix neu und führte den „HipHop-Soul“ in das popkulturelle Lexikon ein und veranstaltete exklusive „Daddy’s House“-Partys in dem inzwischen geschlossenen HipHop-Club „Red Zone“ in Manhattan. „Er hatte die Gabe, die Leute zu überzeugen, dass das, was er tat oder wo immer er war, der heiße Scheiß war“, sagt Dan Charnas, Autor von „The Big Payback: The History of the Business of HipHop“, dem ROLLING STONE. „Er verstand mehr als jeder andere, wie die Innovationen des HipHop – insbesondere das Sampling und die Verwendung klassischer Rap-Platten als Grundlage für R&B-Songs – eine ganze Generation prägen würden.“
Als Combs‘ Stern bei Uptown aufging, kamen auch seine dunklen Seiten wieder zum Vorschein, wie aus der Klage wegen sexueller Übergriffe hervorgeht, die Joi Dickerson-Neal im vergangenen November eingereicht hat. Dickerson-Neal spielte 1990 in einem Musikvideo an Combs Seite und wurde von der Bronx-Rapperin Sister Soulja gewarnt, sie solle „angesichts seines berüchtigten Rufs“ Abstand von ihm halten. (Sister Soulja antwortete nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.)
Dickerson-Neal sagt, sie habe „widerwillig“ einem Abendessen mit Combs im Januar 1991 zugestimmt. Damals war sie noch Studentin und finanzierte ihr Studium mit einem Restaurantjob. Weil sie nicht mit ihm alleine sein wollte, trafen sie sich dort zum Essen. Sie behauptet, Combs habe ihr etwas in ihr Getränk getan, als sie zur Toilette ging, und sie dann später dazu gedrängt, einen Zug von seiner Selbstgedrehten zu nehmen. Kurze Zeit später hätten sich ihre Beine „wie Gummi“ angefühlt. Combs habe sie in einem Nahe gelegenen Haus vergewaltigt. Sie behauptet auch, Combs habe den Angriff gefilmt und das Video anderen wie eine Trophäe gezeigt. (Über einen Anwalt stritt Combs die Anschuldigungen damals ab: „[Diese] 32 Jahre alte Geschichte ist erfunden und nicht glaubwürdig. Mr. Combs hat sie nie angegriffen.“ Combs‘ Anwälte haben beantragt, Teile der Klage abzuweisen, und bezeichneten die Behauptung als „falsch, beleidigend und anzüglich“.)
Mike Nice Lewis, der mit Dickerson-Neal bei der kurzlebigen Plattenfirma PMD Records gearbeitet hat, erzählt dem ROLLING STONE, dass sie sich ihm über den angeblichen sexuellen Übergriff in den frühen 1990er Jahren anvertraut habe. Bei dem Gespräch in seinem Büro habe er damals Combs und das Label Bad Boy erwähnt und Dickerson-Neals Verhalten habe sich daraufhin schlagartig verändert. Lewis behauptet, sie habe ihm erzählt, dass sie eine „sehr schlechte sexuelle Erfahrung“ mit Combs gemacht habe. „Ich glaube Joi“, sagt er. „Ich wusste einfach aus dem, was sie mir erzählte, dass es sie immer noch beeinträchtigt war, sogar zwei Jahre danach“. Michelle Caiola, die Anwältin von Dickerson-Neal und einer weiteren Anklägerin, Crystal McKinney, fügt hinzu: „Das Ausmaß des nicht wiedergutzumachenden Schadens für die psychische Gesundheit und das Berufsleben [meiner Klienten] kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.“
Nur wenige Stunden, nachdem Dickerson-Neal ihre Klage eingereicht hatte, verklagte eine andere Frau Combs wegen Vergewaltigung. Liza Gardner behauptet, sie sei 1990 16 Jahre alt gewesen, als sie und eine Freundin Combs und den R’n‘B-Sänger und Songwriter Aaron Hall bei einer Veranstaltung von MCA Records in Manhattan kennenlernten. Gardner behauptet, die Männer seien „sehr kokett und handgreiflich“ gewesen, hätten die Mädchen mit Getränken versorgt und sie zu einer „Afterparty“ in Halls Haus eingeladen. Sie behauptet, Combs habe ihr in Halls Haus in New Jersey mehr Alkohol angeboten und sie trotz ihrer Proteste zum Sex gezwungen. Während sie noch „geschockt und traumatisiert“ war und versuchte, sich anzuziehen, soll Hall „in den Raum gestürmt sein, sie festgenagelt“ und sie ebenfalls vergewaltigt haben. Gardner behauptet, ein „wütender“ Combs sei später bei ihr aufgetaucht und habe begonnen, sie zu würgen, bis sie fast „ohnmächtig“ wurde. Combs habe offenbar befürchtet, die Frauen würden seiner Freundin erzählen, „was er und Hall getan hatten“, heißt es in der Klage.
„Möglicherweise habe ich Dinge getan, die ein Arschloch tun würde“ (Sean Combs)
Das Anwaltsteam von Combs wies Gardners Anschuldigungen zurück und nannte sie eine „Geldschneiderei“. Aber eine andere Frau, die sagt, dass sie in der Nacht des angeblichen Angriffs mit Gardner zusammen war, bestätigte viele Details von Gardners Klage in einer eidesstattlichen Erklärung. Die Frau, die die jüngere Schwester des in Gardners Klage erwähnten Freundes ist, sagte, sie habe ein Foto von sich mit Gardner und Hall von dem fraglichen Abend. Sie erinnerte sich, dass sie verzweifelt in Halls Wohnung nach ihrer Schwester und Gardner suchte, nachdem diese mit Combs und Hall verschwunden waren. Die damals 15-Jährige sagte, sie sei in ein Zimmer gegangen und habe einen Mann gesehen, der beobachtete, „was Puffy mit Liza machte“. Die Frau schrieb, sie sei am nächsten Morgen an einem anderen Ort aufgewacht, wo ein „aufgebrachter“ Gardner sagte, Combs sei gerade dort aufgetaucht und habe sie „gewürgt“. (Hall reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.) Beim Uptown Label wurden Combs‘ aufgeblasenes Ego, seine überzogenen Vorstellungen und seine machiavellistischen Intrigen inzwischen zu einem Problem für seine Kollegen. Im Dezember 1991 hatten Combs und Heavy D geholfen, ein Wohltätigkeits-Basketballspiel am City College of New York zu organisieren. Als plötzlich eine Massenpanik ausbrach, kamen neun Menschen im Alter von 15 bis 28 Jahren ums Leben, Dutzende wurden, verletzt. Combs drückte sich vor der Verantwortung und behauptete, er habe versucht, die NYPD um Hilfe zu bitten, und bei mehreren Menschen persönlich Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. In einer vom damaligen Bürgermeister David Dinkins in Auftrag gegebenen Untersuchung der Tragödie wurde Combs jedoch vorgeworfen, unerfahrene Mitarbeiter mit der Planung der Veranstaltung beauftragt zu haben. Es wurde festgestellt, dass zu viele Menschen ohne Eintrittskarten zu der Veranstaltung geströmt waren.
Während die Stadt wegen möglicher strafrechtlicher Vorwürfe ermittelte, sich die Klagen häuften und Harrell gedrängt wurde, Combs zu entlassen, forderte der Uptown-Manager Combs auf, eine Weile abzutauchen. Ein verängstigter Combs verkroch sich für Monate mit seiner Mutter in einem Hotel in Manhattan, so Kirk Burrowes, Mitbegründer und Präsident von Bad Boy. (Burrowes wurde 1997 von Bad Boy gefeuert. Im Jahr 2003 verklagte er Combs, weil dieser ihn angeblich mit einem Baseballschläger bedroht und ihn gezwungen hatte, seine Anteile an der Firma zu übertragen. Seine Ansprüche wurden als verjährt abgewiesen.)
Nachdem sich die Kontroverse gelegt hatte und Combs zu Uptown zurückkehrte, sah er sich immer noch als Harrells Erbe. Aber sein Mentor war vorsichtig geworden, schränkte den Umgang mit seinem Schützling ein. Combs verbrachte einen Großteil des Jahres 1992 mit der Produktion von Mary J. Bliges bahnbrechendem Debütalbum „What’s The 411?“ und erntete dafür viel Beifall. Zu dieser Zeit gründete er sein eigenes Uptown-Sublabel, Bad Boy Entertainment, wo er eigene Künstler:innen unter Vertrag nehmen und zusätzliches Geld verdienen konnte. Burrowes erinnert sich an „eifersüchtige“ Uptown-Manager, die Combs als Satan bezeichneten und ihn demonstrativ schnitten, wenn sie an seinen kleinen Büros im Uptown-Gebäude vorbeikamen.
Auch Harrell war sauer auf Combs. Wie Woodley sich erinnert, habe Harrell gedroht, „Puff zu feuern“, er werde ein bisschen zu großspurig und nerve die Leute. Als der Druck immer größer wurde, feuerte Harrell Combs schließlich tatsächlich im Juli 1993. Uptown hatte eigentlich die erste Albumveröffentlichung von Combs‘ neuestem Signing – Christopher Wallace, auch bekannt als Notorious B.I.G. – handlen sollen, aber nun war Combs frei, ein neues Zuhause für sein junges Label Bad Boy zu finden.
Dennoch: Die Kündigung war für Combs niederschmetternd, erinnert Burrowes. Der damals 23-Jährige habe „eimerweise Tränen“ vergossen. „Er hat Andre geliebt“, sagt Burrowes. „Doch der hat nicht verstanden, was Bad Boy werden sollte.“
„Ich habe ein paar Tage lang geweint und fühlte mich, als müsse ich von einem Gebäude springen“, erzählte Combs 1995 dem ROLLING STONE. „Ich glaube, manchmal war es schwer, mit mir zu arbeiten …. Möglicherweise habe ich Dinge getan, die ein Arschloch tun würde, einfach meine Macht missbraucht. Aber das war ganz selten.“
Der Aufstieg eines Moguls
Bei Uptown gefeuert und für eine Tragödie verantwortlich gemacht, die neun Menschenleben forderte, hätte Combs in der Bedeutungslosigkeit verschwinden können. Aber er war streitbar und entschlossen und sicherte sich schnell einen 10-Millionen-Dollar-Deal bei Clive Davis von Arista Records, der Bad Boy Entertainment am Leben hielt. Jetzt leitete Combs eine Notbesetzung, die jedoch Künstler zu Superstars machen und HipHop als Mainstream-Genre etablieren würde. „Während die Welt die Kraft des HipHop nicht verstand, arbeitete ich in diesem Bereich und beobachtete, wie er sich entwickelte“, sagt Michelle Joyce, die erste Marketingdirektorin von Bad Boy. „Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es nicht darum ging, ob es populär werden würde – es ging nur darum, wann.“
Es war nicht leicht. Die Arbeitszeiten waren brutal, die Bezahlung schlecht und die Arbeitsbelastung hoch. Doch schon im nächsten Sommer, nur ein Jahr nach Combs‘ Entlassung bei Uptown, machte sich ihre Arbeit mit Craig Macks allgegenwärtigem „Flava In Ya Ear“ und Notorious B.I.G.s „One More Chance“ bezahlt. In den folgenden drei Jahren wurde Bad Boy zum führenden Label für aufstrebende HipHop- und R&B-Künstler, das Alben von Faith Evans, Total und 112 in den Charts platzierte und landesweit die Clubs und Radiosender beschallte. Und mit Wallace hatte Bad Boy einen angehenden Superstar – Biggie Smalls aka Notorious B.I.G, das Storytelling-Genie mit dem mühelosen Flow.
Doch Combs war unberechenbar. Burrowes sagt, er habe einmal gesehen, wie Combs eine Frau im Büro von Bad Boy angegriffen habe. 1994 sei das gewesen. Er und ein anderer Ex-Angestellter erzählten dem ROLLING STONE, dass sie Combs von der Frau wegreißen mussten, nachdem sie Schreie und splitterndes Glas gehört hatten. (Die Frau lehnte die Bitte um einen Kommentar ab.) Felicia Newsome, die erste Managerin von Bad Boys Aufnahmestudio Daddy’s House, berichtet, sie habe Combs einmal zurückhalten müssen, als er „diesem Mädchen den Arsch versohlen wollte“, nachdem ein Streit zwischen zwei Frauen ausgebrochen war. „Ich hielt ihn an der Taille fest und sagte: ‚Du musst dich beruhigen. Das ist nicht dein Kampf‘“, erinnert sich Newsome.
Die ehemalige Arista-Praktikantin April Lampros behauptet, Combs sei auch ihr gegenüber gewalttätig geworden. In einer im Mai eingereichten Klage behauptet Lampros, Combs habe sie Mitte der 90er-Jahre in einem Parkhaus angegriffen und sie auf die Knie gezwungen, um Oralsex zu praktizieren. Dies sei einer von vier „schrecklichen“ sexuellen Übergriffen gewesen, die sie während ihrer wechselhaften Beziehung mit Combs ertragen musste.
Bad Boy wurde immer erfolgreicher und die Mitarbeiter hielten Combs‘ Übergriffe geheim – sei es aus Loyalität, Angst oder weil sie glaubten, dass solche Vorfälle nur Einzelfälle seien. Nach außen hin war Combs der unermüdliche Zampano des Labels, der auf Tracks improvisierte und in den Videos seiner Künstler auftrat. Es war klar, dass er etwas Größeres für sich wollte. „Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Clive Davis mich anrief und mich bat, die Presseveröffentlichungen für Puffy zu sammeln, als wäre er der Künstler“, sagt Brookshire. „Hinter seinem Rücken nannte ich ihn immer mein Sorgenkind, den Notorious V.I.P.“.
Und Combs bekam all die Presse, die er wollte, als er und sein Gegenspieler in Los Angeles, der Death-Row-Records-Chef Marion „Suge“ Knight, in einen jahrelangen, schwergewichtigen HipHop-Kampf verwickelt wurden. Die beiden waren einst befreundet gewesen; Combs hatte sogar Bad Boy nach dem Vorbild von Death Row gegründet, wie er 1997 dem ROLLING STONE erzählte. Doch die anschließende Rivalität zwischen Biggie und Knights charismatischem Superstar Tupac Shakur sollte sich für beide Labels als Pyrrhussieg erweisen.
Combs mochte Shakur und bewunderte seine Fähigkeit, Street-Credibility mit dem Mainstreamszu verbinden. Burrowes merkt an, dass das Bad-Boy-Team den Sommer 1993 damit verbrachte, Tupacs swingenden Hit „I Get Around“ als Blaupause für eine kommerzielle HipHop-Platte zu studieren. In seinem verzweifelten Wunsch, ernst genommen zu werden, versuchte Combs, sich mit dem Westcoast-Rapper anzufreunden – aber Shakur war nicht interessiert. „Tupac hatte keinerlei Respekt vor Puff“, sagt die HipHop-Fotografin Monique Bunn, die mit Wallace und anderen Bad-Boy-Künstlern befreundet war. Für Shakur und sogar für Wallace, sagt Bunn, war Combs eine Art „Kitsch-Manager“.
„Tupac hatte keinerlei Respekt vor Puff“ (Monique Bunn)
Stattdessen freundete sich Shakur mit Wallace an, den er als seinesgleichen betrachtete. Burrowes erinnert sich, dass infolgedessen „jemand am Rande stand, der eifersüchtig war“.
Die Rapper-Freundschaft sollte nur von kurzer Dauer sein. Nachdem Shakur 1994 in der Lobby der Quad Studios am Times Square überfallen und fünfmal angeschossen wurde, beschuldigte er Combs und die Bad-Boy-Crew, ihm eine Falle gestellt zu haben, was Combs stets bestritten hat. Von da an „wurde alles aufgeblasen“, sagt Bunn. Bad-Boy-Manager begannen, Wallace zu ermutigen, „bestimmte Songs zu schreiben“, wie Burrowes erzählt, obwohl der Rapper sich „nicht damit wohlfühlte“, seinen ehemaligen Freund anzugehen. Als die Spannungen 1995 hochkochten, veröffentlichte Combs Biggies Single „Who Shot Ya?“. Sie wurde weithin als spöttische Provokation gegenüber Tupac Shakur angesehen, obwohl Wallace darauf bestand, dass es nicht so war. Shakur antwortete mit dem heftigen „Hit Em Up“ – und trieb damit die Feindseligkeit auf ihren Höhepunkt.
Vielleicht sah Combs darin eine gute Werbemaßnahme und schürte die Rivalität zwischen East- und Westcoast. Die beiden Labelchefs lieferten sich einen Schlagabtausch, bei dem Knight den einschüchternden, Zigarren rauchenden, einer Gang angehörenden Boss und Combs den aalglatten, sauberen Musikmanager darstellten.
Als der 25-jährige Shakur im September 1996 bei einem Drive-by-Shooting in Las Vegas ermordet wurde, zeigte Knight sofort mit dem Finger auf Combs, der eine Beteiligung bestritt. Einige Bad-Boy-Mitarbeiter erhielten kurz darauf Morddrohungen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, im Mitarbeiterhandbuch gelesen zu haben, dass das Ausweichen vor Kugeln Teil meiner Stellenbeschreibung war“, sagt Brookshire. (Letzten September wurde Duane Keith „Keffe D“ Davis, Mitglied der Compton Crips Gang, des Mordes an Shakur angeklagt. Sein Prozess soll im November beginnen. Davis hat behauptet, Combs habe 1 Million Dollar für einen Anschlag auf Shakur angeboten. Combs bestreitet diese Behauptung vehement.)
Sechs Monate nach Shakurs Tod, im März 1997, nahm der 24-jährige Wallace an einer Afterparty der Soul Train Music Awards in Los Angeles teil, als ein Bewaffneter das Feuer auf Biggies Van eröffnete und ihn tötete. Die Polizei betrachtet den Mord als einen ungeklärten Racheakt.
In mehreren Berichten wird behauptet, dass Wallace sich kurz vor seinem Tod von Bad Boy trennen wollte. Combs kämpfte damals mit Wallaces Anwälten, die versuchten, die Veröffentlichungsrechte des Rappers für ihn zurückzuverlangen. „Ich werde sie nie hergeben, bis ich tot bin und meine Knochen zu Pulver zermahlen sind“, soll Combs den Anwälten laut „The Big Payback“ erwidert haben. „[Biggie] wollte Puff unbedingt verlassen“, sagt Bunn. „Ich weiß das mit Sicherheit, weil er es mir gesagt hat“. Eine andere Quelle fügt hinzu: „Jeder wollte Puffy verlassen. Jeder verlässt ihn.“
„Sie hat geweint. Und wir haben ihm gesagt, ‚Lass sie in Ruhe.‘ Wir haben geschrien“ (Ein anonymer Zeuge)
Combs nutzte den Schock und die Trauer über den Tod von Wallace aus. Brookshire, die am Tag vor Wallaces Tod mit ihm im Geländewagen unterwegs war, sagt, Combs habe ihr eine Auszeit verweigert, um ihre Trauer zu verarbeiten. Stattdessen habe Combs ihr nur zwei Wochen nach dem Mord befohlen, sich voll und ganz auf Wallaces kommendes Album „Life After Death“ zu konzentrieren. Combs verlangte, dass es „Nummer eins, Nummer eins, Nummer eins, Nummer eins, Nummer eins wird. Top 10, Top 10, Top 10″, erinnert sie sich. (Und tatsächlich: Es verkaufte sich in der ersten Woche fast 700.000 Mal.)
Als ROLLING STONE ein paar Monate nach Biggies Ermordung ein Cover mit Combs plante und deswegen an Bad Boy herantrat, habe sich Burrowes, dafür eingesetzt, das Cover dem verstorbenen Rapper zu überlassen, wie er behauptet. „Ich habe zu Sean gesagt: ‚Lass uns Biggie machen. Du hast immer noch eine Chance [für ein Cover in der Zukunft]“, erinnert sich Burrowes. „Combs sagte: ‚Nein, er ist tot. Ich bringe [mein Debütalbum „No Way Out“] im Juli heraus. Ich muss auf das Cover des ROLLING STONE.‘“
Combs bekam sein Cover. Und zwei Jahre später räumte er ein, dass Biggies Tod ein großes Geschäft gewesen sei. „Ich denke, sein Tod hat den Ruhm noch vergrößert“, sagte Combs dem ROLLING STONE 1999. „Mindestens zwei Millionen [der fast fünf Millionen verkauften Exemplare von „No Way Out“] sind auf seinen Tod zurückzuführen, ganz klar. Und das fühlt sich nicht unbedingt gut an, aber das ist die Realität.“
Sogar der furchterregende Boss von Death Row – der derzeit eine 28-jährige Haftstrafe wegen Totschlags verbüßt und als „Boogeyman“ des HipHop bezeichnet wird – sagte, dass Combs‘ Verhalten geschmacklos war. „Als Pac wegging, habe ich kein Mikrofon in die Hand genommen“, sagt Knight in seinem Gefängnis-Podcast. „Ich habe die Scherben aufgesammelt.“
„Die Leute taten alles, was er sagte, um in seiner Gunst zu stehen“
In den späten 90er-Jahren versammelten sich regelmäßig Fans vor dem Daddy’s House Studio in Midtown Manhattan, um ein berühmtes Gesicht zu sehen oder jemandem ein Mixtape zuzustrecken. „Wir hatten das heißeste Hip-Hop-Label der Welt aufgebaut – und die Leute rissen sich darum, neben Puffy zu stehen“, erzählt Joyce.
Mit Anbruch des neuen Jahrtausends begann die Bling-Bling-Ära des HipHop: Combs und seine Künstler bedienten sich der Melodien von Popsongs aus den 80er-Jahren, um kommerzielle Hits zu generieren. Sie trugen maßgeschneiderte, glänzende An züge, rappten über Designersocken und Yachten, drapierten sich mit Diamanten und füllten ihre Big-Budget-Videos mit unterwürfigen Frauen und bombastischer Pyrotechnik.
Das Label profitierte von Biggies Erbe und wurde durch die aufstrebenden Stars Mase, Shyne und Black Rob gestärkt. Combs gewann Grammys und wurde für seine Arbeit mit Mariah Carey und R. Kelly nominiert. Er gelangte in die oberen Ränge der New Yorker Gesellschaft und feierte mit Revlon-Milliardär Ron Perelman und Donald Trump. „Es gab einen gewissen Narzissmus, eine Haltung, die nicht nur Frauen, sondern alle Menschen zu Objekten machte … Männer, die es genossen, Menschen wie Schachfiguren herumzuschieben“, sagt Charnas über Combs und fügt hinzu, dass er „der Vorreiter für den Kapitalismus feiernden HipHop und das Spiel mit den sozialen Aufstiegsträumen der Menschen war“ war.
Dass Combs zu einer dominanten Kraft in der Branche wurde, schien dessen schikanöses Verhalten nur noch zu verstärken. Im April 1999 stürmte er in das Büro des Interscope-Records-Managers Steve Stoute und wurde angeblich gewalttätig. Combs war wütend, dass Stoute ihn nicht aus einer Kreuzigungsszene in einem Video des Rappers Nas herausgeschnitten hatte, bevor er es an MTV schickte. „Er schlug mir ins Gesicht, dann nahm er das Telefon und schlug es mir auf den Kopf“, erzählte Stoute der „L.A. Times“.
Combs einigte sich privat mit Stoute, Berichten zufolge gegen eine Zahlung von 500.000 Dollar, und entging einer siebenjährigen Gefängnisstrafe, indem er sich auf eine reduzierte Anklage wegen Belästigung einließ. Im selben Sommer veröffentlichte Combs sein zweites Album „Forever“. Es verkaufte sich nicht mal halb so gut wie sein Vorgänger. Die schlechten Kritiken und der kommerzielle Misserfolg des Albums schmälerte Combs‘ Starpower aber kaum.
Nach einer Schießerei in einem Nachtclub, bei der drei Menschen verletzt wurden, wurde Combs verhaftet. Sein neuester Star Shyne, alias Jamal Michael Barrow, wurde für schuldig befunden, die Schüsse abgegeben zu haben, und zu zehn Jahren Haft verurteilt. (Barrow wurde nach seiner Entlassung 2009 nach Belize abgeschoben.) Combs wurde unterdessen wegen Waffenbesitzes und versuchter Bestechung angeklagt, nachdem er und seine damalige Freundin Jennifer Lopez vor der Schießerei in einem Lincoln Navigator geflohen waren, der elf rote Ampeln überfuhr.
Combs drohten im Falle einer Verurteilung bis zu 15 Jahre Gefängnis. Kevin Rogers Francis, ein Wirt in Combs‘ Restaurant „Justin’s“, der für Combs‘ kurzlebiges Magazin „Notorious“ Marketingarbeit leistete, erinnert sich, dass der Mogul dringend Geld brauchte, deshalb das Magazin einstellte und die Schubladen des Restaurants nach Bargeld durchwühlte, was Francis als Folge der mutmaßlich hohen Anwaltsrechnungen begriff. Der Staatsanwalt behauptete, Combs habe den Zeugen Geld angeboten, nachdem einige behauptet hatten, Combs sei der Schütze gewesen. Das Opfer Natania Reuben beharrt darauf, dass Combs die Kugel abgefeuert hat, die ihre Nase zerfetzte. Combs‘ eigener Fahrer sagte aus, Combs habe ihm 50.000 Dollar angeboten – mit einem 40.000 Dollar teuren Ring als Sicherheit –, wenn er aussagen würde, dass die im Geländewagen gefundene, nicht zugelassene Waffe ihm gehöre. Andere haben behauptet, Combs habe über einen Mittelsmann bis zu 1 Million Dollar an Barrow gezahlt, um sich sein Schweigen zu erkaufen. (Barrow bestreitet diese Behauptung gegenüber ROLLING STONE und bezeichnet sie als „lächerliche Fehlinformation“.) Nach einem sechswöchigen Prozess wurde Combs im März 2001 freigesprochen.